Festivals als Reiseziel

Mit Esprit einer Hippiekommune

Melt! Festival
Melt! Festival im Juli 2016 in Gräfenhainichen (Sachsen-Anhalt) © picture alliance/dpa/Foto: Sophia Kembowski
Von Martin Böttcher · 19.08.2017
Wer reist, taucht in eine andere Welt – und die liegt manchmal gleich um die Ecke, wie etwa ein Festival. Zumindest für kurze Zeit ist es ein Ausstieg aus dem Alltag und mit Biertheke, Strand und Liegestühlen wie ein Kurzurlaub.
Birigt Voigt: "Es ist 'ne totale Reise. Wenn wir hier vor dem Festival reinkommen, dann ist das immer auch erschlagen sein von allem, was hier rumsteht. Bierschirme, Kühlschränke. Und wenn wir das alles weghaben und unser Zeug integriert haben, dann ist es so: jetzt fühlen wir uns heimisch – und jeder, der das Strandbad sonst so kennt, sagt: Wow, so habe ich das noch nie gesehen ...."
Zum dritten Mal hat Birgit Voigt jetzt mit ihren Mitstreitern das "By The Lake" auf die Beine gestellt Ein kleines Festival in Berlin-Weißensee. Das Strandbad wird in eine Parallelwelt verwandelt - monatelange Vorbereitung, um einen Augustsonntag lang zum Aussteigen einzuladen.
Voigt: "Also wir wollen eine sehr relaxte Stimmung kreieren, indem wir die Menschen nicht provozieren mit viel Branding oder besonderen Marken auf dem Gelände, sondern Einfaches natürlich belassen."
Das Strandbad Weißensee ist überschaubar – das "By The Lake" auch: eine Bühne, ein Barzelt, ein halbes Dutzend Stände, Liegestühle, Schirme, jede Menge Rasen und Sand – direkt am Seeufer.
Besucher des Melt!-Festivals schauen auf die Bühne.
Besucher des Melt!-Festivals schauen auf die Bühne.© Melt! / Stephan Flad
Festival heißt ja immer auch: schnell mal raus aus dem Alltag. Es darf nicht so aussehen wie zu Hause oder im Job. Bei Festivals wie der Traumzeit, dem Melt und dem Splash sorgen riesige ausrangierte Bagger und Industrieanlagen für dieses unwirkliche Gefühl. Beim Summerjam erzeugt ein Bazar die exotische Stimmung, beim Sonne-Mond-Sterne-Festival übernimmt das eine riesige Buddha-Statue.
Besucher des HipHop- und Reggae-Festivals "Splash!" stehen am Samstag (11.07.2009) im Regen in der Baggersstadt Ferropolis.
Regen und Bagger: Ein Auftritt in Ferropolis beim Splash ist für viele junge Rapper wie ein Ritterschlag.© picture-alliance / dpa / Jan Woitas
Beim kleinen By-The-Lake-Fest sind es die Details: ein handgemaltes Bühnenbild in blau-lila, das die Musiker wie auf einer Welle stehen lässt. Aus Papier gefertigte Quallen, die überall mit ihren Tentakeln herumhängen und nachts auch noch leuchten. Die Bars und Stände in strahlendem Weiß – gezimmert aus Paletten. Der Norweger Anders Grivi Norman hat die Bühne gestaltet.
Anders Grivi Norman:"Manche Festivals legen einfach nicht genug Wert auf Design. Klar, du brauchst die Basics: Musik, Essen, Getränke. Aber wenn man dann noch Arbeit in die Gestaltung reinsteckt, wird ein gutes Festivals zum wirklich wirklich großartigen Festivals."
Bühne beim Fusion-Festival in Lärz 2011
Bühne beim Fusion-Festival in Lärz 2011© dpa / picture alliance / Alexander Müller
Norman ist 30 Jahre alt und als so genannter "Scenograph" unterwegs – als Designer hilft er Festivals, Visionen in Realität umzusetzen. Und er hat auch schon für das beste – oder zumindest eigenwilligste - Festival Deutschlands gearbeitet, für die Fusion.
Anders Grivi Norman: "Die Fusion ist sehr ungewöhnlich, weil da so viele unabhängige Gruppen zu Gange sind, es gibt kein alles überspannendes Konzept – jeder ist in seinem Bereich frei. Das By-The-Lake hat dagegen ziemlich wenig Geld, es darf also alles nicht viel kosten. Die Doit-yourself-Bühne hier wird nur für eine kurze Zeit gebraucht, so was zu bauen macht echt Spaß."

Der Style heißt "Shabby Chic"

Strand und Meer, der Innbegriff des Urlaubs – darum dreht sich an diesem Sonntag am Weißensee alles – in der Luft hängt, wie so oft bei kleinen Festivals, eine Art Hippiestimmung. Wenn es nicht viel kosten darf, dann kommt am Ende meist diese verspielte Ästhetik heraus. Amelie Lill hat monatelang an der Dekoration geklebt und geschraubt – um den Besucher diese kurze Reise an einen besonderen Ort zu ermöglichen:
Amelie Lill: "Ja, auf jeden Fall, das ist ja auch das Ziel, dass man irgendwohin kommt und abschalten kann und sich vorkommt, als ob man an einem anderen Platz ist, obwohl man relativ nah, also in Berlin noch ist."
Shabby Chic heißt der Stil, der sich dem Fertigen widersetzt – ein Berliner Exportschlager, der Freiheit suggeriert. Es war die legendäre, längst geschlossene "Bar 25" die den Esprit von Westernstadt und Hippiekommune am konsequentesten in eine Form gegossen hatte.
In der Bar wurde aus zusammengesammeltem Holz ein Paralleluniversum gezimmert, ein Abenteuerspielplatz für Erwachsene, die dem Alltag entkommen wollten, eine Welt, die nicht trotz, sondern wegen ihres provisorischen Charakters so anziehend wirkte. In der Bar war an jedem Wochenende Festival, inmitten einer Architektur, die Großstadtmensch und wilde Natur einander wieder näher brachte. 2010 war Schluss für sie, aber sie lebt weiter – unter anderem in Festivals wie dem By The Lake.
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Die Echtzeit begibt sich heute - passend zur Saison - auf Reisen.

Wir begleiten Künstler auf eine Expedition an die Antarktis und stellen fest, dass auch Eiswürfelmaschinen hier leider kaum etwas ausrichten können gegen das große Schmelzen. Kunst und Politik haben die meisten Reiseblogs wenig im Fokus. Da geht es dafür um das Ich vor schöner Kulisse, gerne auch auf einer empfehlenswerten Yogamatte. Dass digitale Nomaden mitunter auch gute Geschichten erzählen können, beweisen die Reisedepeschen, die Johannes Klaus herausgibt. Weil man hier aus gutem Grund keine Packlisten findet, begibt sich die Echtzeit mal auf die Suche nach geeignetem Reisegepäck. Nur, um dann ohne Rollkoffer und Co in die schöne Welt der Festivals abzudriften.
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