Festival "Impulse" in Mülheim

Echtes Sterben als Theaterperformance

Ein jüngerer Mensch umfasst das Armgelenk einer älteren Person, die im Krankenbett liegt.
In einer der Inszenierungen geht es um Margot - eine Frau, die sich entschlossen hat, ihrem Leben in der Schweiz ein Ende zu setzen. © picture alliance / dpa / Jm Niester
Von Stefan Keim · 14.06.2015
Das Off-Theaterfestival "Impulse" im Ringlokschuppen in Mülheim an der Ruhr bietet einige der packendsten Inszenierungen des Jahres. Besonders beeindruckend: Für Ibsens "Gespenster" haben die Performer Markus & Markus eine 81-jährige Frau beim Sterben begleitet.
Das Wort "Reenactment" ist in der Theaterszene längst zum festen Begriff geworden. Milo Rau und sein International Institute of Political Murder haben ein neues Format geschaffen, in dem sie mit "Hate Radio" die Sendung eines rassistischen Radiosenders während des Völkermordes in Ruanda nachstellten. Verschiedene Formen des Dokumentarischen haben die Theaterbühne erobert, viele Kollektive und Regisseure haben den Anspruch möglichst nah an die Realität heran zu kommen. Das spiegelt sich auch im Off-Theaterfestival Impulse wieder, das bis nächsten Sonntag im Ringlokschuppen in Mülheim an der Ruhr läuft.
"Kennen Sie das auch?" fragen die Performer Markus & Markus. "Der dritte Akt steht bevor, das Stück steuert auf seinen Höhepunkt zu, während Sie gerade Ihren Tiefpunkt erreicht haben. Sie sind todmüde." Samstagabend 22.30 Uhr. Einige Besucher des Theaterfestivals Impulse schauen schon seit nachmittags eine Aufführung nach der anderen. Das Performancekollektiv Markus & Markus könnte also Recht haben.

Doch in dieser Aufführung ist niemand müde. "Ibsen: Gespenster" gehört zu den packendsten Aufführungen der Saison. Nicht wegen der selbstironischen Zwischenspiele. Die haben auch ihren Reiz, aber im Kern wagen Markus & Markus Unglaubliches. Sie haben eine alte Frau beim Sterben begleitet. Margot ist 81 Jahre alt und hat sich entschlossen, ihrem Leben in der Schweiz ein Ende zu setzen. Markus & Markus haben Margot mehrere Wochen mit der Kamera begleitet. Eine liebenswerte alte Frau, die herzhaft lachen und mit ihrem Rollator am Leben teilhaben kann.
Die großen Namen der Off-Szene sind dabei
Aber ihr Entschluss, zu sterben, ist unumstößlich. Die Bühne füllt sich immer mehr mit allen möglichen Gegenständen, die per Video in Margots Wohnung zu sehen sind. Der dritte Akt zeigt, wie sie im Film die Rolle des todkranken Oswald aus Ibsens Drama "Gespenster" übernimmt, Markus & Markus lesen die Sätze der Mutter. Bis zuletzt ist die Kamera dabei, das Publikum sieht, wie Margot nach einer Giftspritze einschläft und stirbt. Dann tanzen Markus & Markus eine Szene aus Margots Lieblingsballett "Giselle". Ein vielschichtiger, ergreifender und komödiantischer Abend, das Performancekollektiv aus Hildesheim ist bisher die Entdeckung des Festivals.
Sonst beherrschen die großen Namen der Off-Szene das Programm. Stücke von Milo Rau, Chris Kondek und Rabih Mroué kommen in der nächsten Woche. Zur Eröffnung spielte die britisch-deutsche Gruppe Gob Squad seine Performance "Western Society".
Sieben Zuschauer werden auf die Bühne gebeten, um ein Famlienvideo aus dem Internet von einer Karaokeparty nachzustellen. Manche singen, andere essen Kuchen, es passiert so gut wie nichts. Erst wirkt die Aufführung wie eine Karikatur auf die Welle der Reenactments im Off-Theater. Doch dann drängelt sich einer der Darsteller zwischen zwei Zuschauer auf die Couch und spricht sie als seine Eltern an. Die Party erinnert ihn an den letzten Moment, in dem er als Kind Mutter und Vater als Paar erlebt hat. Danach haben sie sich getrennt. Diese Geschichte projiziert der Performer nun auf die Szene, und obwohl die Situation so fern von jedem Realismus ist wie nur möglich, entstehen Gefühle. Trotz theoretischem Überbau und einer Menge ironischer Brüche durchzieht die Aufführung Menschlichkeit und Warmherzigkeit. Das verbindet sie mit "Ibsen: Gespenster" und weiteren Aufführungen des Festivals. „Gesellschaftsspiele" hat der künstlerische Leiter Florian Malzacher diese Ausgabe der Impulse genannt und politisches Theater angekündigt. Scharfkantige Provokationen gab es im ersten Teil nicht zu sehen, dafür spielerische, offene Experimente. Das Projekt "Die Aufführung" des Duos Herbordt/Mohren versank allerdings in der Beliebigkeit.
Das Publikum bewegt sich frei zwischen verschiedenen Aktionsorten in einem Raum, dessen Wände immer neu umgehängt werden. Aber inhaltlich kommt wenig rüber. Mehr Energie und Ideenreichtum versprüht die neue Performance von Monika Gintersdorfer und Knut Klaßen. Mit ihrem Ensemble aus afrikanischen und deutschen Tänzern, Musikern und Schauspielern erzählen sie von einer afrikanischen Gesprächsform, der Chefferie.
Energiegeladene Show über afrikanische Selbstbilder
Wenn sich Männer zusammen finden, um eine Entscheidung zu fällen, sind im Prinzip alle Chefs. Keiner hat mehr zu sagen als der andere. Natürlich ist dieser herrschaftsfreie Diskurs auch in Afrika nur eine Utopie, aber immerhin bemüht man sich mancherorts darum. "Das neue schwarze Denken – Chefferie" ist eine energiegeladene Show über afrikanische Selbstbilder und Klischees, voller Gedankenanstöße. Die Aufführung schlägt den Bogen zu den Eigenproduktionen der Impulse. Diesmal sind es vor allem Diskussionsrunden. In Bussen erzählt der Künstler Phil Collins zusammen mit Kölner Studierenden von einer Reise nach Ramallah, in Düsseldorf erprobt die Niederländerin Lotte van den Berg verschiedene Gesprächstechniken mit den Besuchern, zum Beispiel einen Dialog ohne Worte. Und in Mülheim an der Ruhr entsteht eine alternative Universität, die über das Festival hinaus wirken soll. In der "Silent University Ruhr" halten Menschen Vorträge, die nicht an deutschen Hochschulen lehren dürfen, weil ihre Abschlüsse nicht anerkannt werden oder sie als Flüchtlinge keine Arbeitserlaubnis haben. Ihr Wissen soll nicht verloren gehen.
Die Impulse haben ihr Gesicht verändert. Früher gab es sie alle zwei Jahre, auf mehrere Spielorte verteilt. Nun werden sie jährlich stattfinden, immer auf eine der drei Trägerstädte konzentriert. Diesmal ist Mülheim dran, 2016 Düsseldorf, dann Köln. So entsteht eine größere Dichte, das Festival hat ein klar definiertes Zentrum. Was den Diskussionen und inhaltlichen Zusammenhängen, die Florian Malzacher herstellen will, bisher sehr gut tut.
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