Festival "Die Ästhetik des Widerstands"

Widerstand ist nicht unmöglich, aber verdammt kompliziert

Eine Szene aus dem Stück "Life" von Nicoleta Esinencu beim Festival "Ästhetik des Widerstands" in Berlin.
Eine Szene aus dem Stück "Life" von Nicoleta Esinencu beim Festival "Ästhetik des Widerstands" in Berlin. © Nata Moraru/HAU
Von Eberhard Spreng · 03.10.2016
Im Herbst 2016 wäre Peter Weiss 100 Jahre alt geworden. Im Berliner Theater Hebbel am Ufer wird deshalb sein Hauptwerk "Die Ästhetik des Widerstands" von internationalen Theatermachern und Künstlern neu interpretiert.
"Während das Volk unter der Freiheitsgöttin verblutete, blickte er, der Mitläufer, düster melancholisch seinem Aufwachen entgegen und dieses Aufwachen war voller Verrat."
Alles beginnt mit der ungeheuer genauen Beobachtung, akkuraten Beschreibung und genauen Analyse, die Peter Weiss’ Hauptwerk "Die Ästhetik des Widerstandes" kennzeichnet. In 17 Lesungen ist es, quasi als Rückkehr zu den Wurzeln, der Kernpunkt des Festivals und beständiges Maß für die Frage, ob und wie heute im Bereich der Bilder und Zeichen an die Weisssche Reflexion über Kunst und Widerstand angeknüpft werden kann.
Der in Bosnien Herzegowina geborene Oliver Frljić tut dies mit einer Revue wüster Bilder. Seine Akteure entkleiden sich und zeigen ihre mit arabischen Schriftzeichen überzogene nackte Haut, dann zieht eine junge Frau mit Hidschab ein handtuchgroßes Deutschlandfähnchen aus ihrer Vagina, dann wiederum streifen sie sich die orangefarbenen Overalls und schwarzen Kapuzen über, die man aus Bildern und Filmen vom Gefangenlager Guantanamo kennt, bevor ein als Europäer kenntlich gemachter Henker einen nach dem anderen mit einem großen Messer die Kehle durchschneidet.
Der Okzident ist Täter, der Orient Opfer. Oliver Frljić reiht in "Unsere Gewalt und eure Gewalt" ein Skandalbild ans andere. Genauigkeit ist in seinem provozierenden Bildergewitter nicht gefragt.

Ist Provokation eine geeignete Strategie?

Aber, ist Provokation überhaupt eine geeignete Strategie bei der Pflege des künstlerischen und politischen Erbes eines Peter Weiss? Frljićs Furor richtet sich auf die Symbol- und Bilderwelt, beim chilenischen Regisseur Marco Layera hingegen zielt er auf die Lebenspraxis einer Generation, die mit linken Visionen startete und im Establishment des kapitalistischen Kulturbetriebs endet.
1. Mai, Santiago de Chile. Eine Horde von Schönen und Reichen hat sich beim neu ernannten Kulturminister versammelt und feiert, vor allem sich selbst; es wird gekokst, der Swimming Pool mit Champagner gefüllt. Layera zeichnet in "La Dictatura de lo Cool - Die Diktatur der Coolness", das grelle Porträt einer Klasse, deren Leben gleichermaßen von Reichtum und Rebellion geprägt ist.
"Diese soziale Gruppe - und wir Theaterleute sind ein Teil von ihr - ist intellektuell und beruflich ziemlich avanciert und hat gleichzeitig ein ausgeprägtes soziales Bewusstsein. Sie ist der prägende Teil eines Kapitalismus, der sich humanisiert hat."
Man profitiert also von einem System, dessen schädliche Auswirkungen man gleichzeitig klar erkennt. Marco Layera und sein Kollektiv La Re-Sentida präsentiert dem westlichen Bobo eine gesalzene Rechnung für seinen grünen, informierten, sozial bewussten Kompromiss im Wohlfühlkapitalismus: Es ist, und hier sind die Theatermacher Vorreiter, das ständig verdrängte Gefühl des Selbstekels und die manchmal daraus erwachsende Wut.
Wo Weiss die Bilder dereinst sorgfältig als mögliche Zeichen vergangener Revolten völlig neu erschloss, bleiben Oliver Frljić und Marco Layera der Macht der Bilder kritiklos verhaftet und verfangen sich im Netz der Bedeutungen, über die andere in der Welt der Massenmedien entschieden haben.
Bini Adamczak, Kuratorin einer Vortragsreihe im Festival, vermutet allerdings für Künstler heute erschwerte historische Bedingungen.

Welche Ästhetik kann heute politisch fruchtbar gemacht werden?

"Welche Ästhetik kann heute eigentlich politisch fruchtbar gemacht werden? Und inwiefern ist die Ästhetik heute - und das ist z.B. ein gravierender Unterschied zu der Zeit, in der Peter Weiss geschrieben hat - viel stärker in diese kulturindustriellen Mechanismen eingebunden und hat es viel schwerer, einen authentischen, widerständigen Standpunkt zu finden."
Der libanesische Künstler Rabih Mroué wird dies in seiner Arbeit über Abbild und Mythos von Märtyrern und Nicoleta Esinencu in ihrer Recherche über Grenzen des individuellen Widerstandes in Zeiten von Kriegspropaganda im weiteren Verlauf des Festivals versuchen.
Ganz schlank, bilderlos und mit den etwas unsinnlichen Mitteln einer dokumentarischen Rekonstruktion präsentiert Guillermo Calderón die Auseinandersetzung einer Theatergruppe mit dem chilenischen Widerstandskämpfer "Mateluna". Sie macht vor allem einen historischen Bruch deutlich: Rituale des bewaffneten Widerstandes, wie z.B. das Bombenbasteln, erscheinen ihnen heute als fremd und wie naive Relikte aus einer untergegangenen Zeit.

Wiederkehr des europäischen Faschismus

Die Renaissance einer widerständigen Ästhetik im Weissschen Sinne bereitet bislang Schwierigkeiten. Hingegen kann unvermittelt an den anderen Aspekt des Opus Magnum angeknüpft werden: Die Auseinandersetzung mit der faschistischen Gewaltherrschaft. Die "Wiederkehr des europäischen Faschismus" heißt die Vortragsreihe im Peter-Weiss-Festival, die der israelische Politologe und Faschismus-Experte Zeev Sternhell im Hau eins eröffnete.
"Der Faschismus war kein Unfall der europäischen Geschichte und er ist kein Produkt des I. Weltkrieges. Er ist in erster Linie ein kulturelles Phänomen. Er ist kein Regime, keine Partei, keine Bewegung. Und er ist immer noch Teil unserer Wirklichkeit. Nachdem er kein Produkt des I. Weltkrieges ist, gibt es auch keinen methodologischen Grund für die Annahme, dass er 1945 starb."
Das Weiss-Festival im Hau ist erhellend für alle, die den intellektuellen Komfort postmoderner Denkmuster hinter sich lassen und sich einer ernüchternden Erkenntnis stellen wollen: Widerstand ist heute nicht unmöglich, aber eine verdammt komplizierte Angelegenheit.

Die Ästhetik des Widerstands
Peter Weiss 100
Festival im Theater Hebbel am Ufer (HAU)
28.9.–8.10.2016

Mehr zum Thema