Festival d'Avignon

Die Revolte auf der Bühne

Ägyptischer Junge auf dem Tahrir-Platz in Kairo
Der Tahrir-Platz in Kairo findet auch beim Festival d'Avignon den Weg auf die Bühne. © dpa / picture alliance / Nguyen Hoang
Von Eberhard Spreng · 15.07.2014
Die Arabellion wurde zum Inbegriff digitalvernetzter Bewegungen. Jetzt geht Hassan El Geretly in Avignon mit "Haeeshek" den umgekehrten Weg. Zusammen mit seinem Ensemble El Warsha bringt er die Schmerzen des Volks in der Revolte auf die Bühne.
"Es kommt der Tag, wo der Protest nicht mehr ausreicht. Auf die Philosophie muss das Handeln folgen. Schwung und Kraft vollenden, was die Idee nur entwarf." Dieses Victor Hugo Zitat empfängt das Publikum in einem neuen Spielort in der Festivalstadt, in der hübsch renovierten Cour Minérale der Universität. Es könnte ein weiteres Motto sein für ein Festival, das sich als politisch versteht und den Mittelmeerraum in den Fokus nimmt und seine Revolten und Revolutionen, die man auch als Pilotprojekte sozialer Umwälzungen verstehen soll.
Was vor Jahren in Tunesien begann, schien sich auf dem Kairoer Tahrir-Platz zu vollenden in der größten Stadt der arabischen Welt. Unzählige Fernsehbilder haben uns von dort erreicht, Artikel, Blogs, zahlreiche Fotos, Dokumentarfilme, Handyvideos und ganze Informationswellen in sozialen Netzwerken. Die Arabellion wurde zum Inbegriff neuer digitalvernetzter Bewegungen. Sie wurde in der Arbeit von Performern und Videokünstlern auch zur Matrix einer neuer Ästhetik im Spannungsfeld von Kunst und Politik. Nun aber geht Hassan El Geretly in "Haeeshek" den umgekehrten Weg. Zusammen mit seinem Ensemble El Warsha bringt er mit den Mitteln der klassischen arabischen Volksmusik die Schmerzen des Volks in der Revolte auf die Bühne.
Geschichten über den Kampf mit Institutionen und ihrer Korruption
Ein Song erzählt von der frechen Behauptung der Mubarak-Regierung zu Beginn der Proteste, fremde Mächte hätten den Tahrir-Platz mit Provokateuren infiltriert. Darin eingefügt, ertönt einer der bekanntesten Sprechchöre vom Anfang 2011 in Ägypten: "Das Volk will das Regime stürzen". Neben fünf Musikern sitzen Sänger und Erzähler in einem großen Halbkreis, gelegentlich erobert einer von ihnen die Vorderbühne. Szenisch geschieht wenig in diesem politischen Kabarett, in dem Hassan el Geretly, der den Abend von einem Stuhl am Rand aus moderiert, zunächst klassische Vorbilder von populärer Erzählkunst aus dem Vielvölkerland vorstellt. Kleine Geschichten über den Kampf mit den Institutionen und ihrer Korruption, Alltag einer untergründigen Aufmüpfigkeit um dann in die Aktualität der Krisen und Kriege Ägyptens einzumünden. In Geschichten einer Aktivistin von Human Rights Watch im Leichenschauhaus von Alexandria, das Klagelied einer Mutter, die ihren Sohn verlor und viele andere berührende Episoden.
Eine Welt in Auflösung zeigt der brasilianische Regisseur Antonio Araújo (Ara'udscho) im ehemaligen Konservatorium der Rhonestadt. Auf der Straße vor dem Gebäude, im engen Innenhof, im Foyer, im letzten Obergeschoss reihen sich Szenen, in denen von der ökonomischen Krise aus der Sicht einer aus Brasilien nach Europa reisenden Wissenschaftlerin erzählt wird. Ein solches vom Realdekor zum nächsten wechselndes Theater war in den vergangenen Jahren gelegentlich zu sehen und fast immer diente es einem sozialen Hyperrealismus. Hier aber tritt der Zuschauer, aufgescheucht von Demonstranten und eingehüllt von Soundscapes in einen apokalyptischen Lunapark ein, in ein Theater der Aufregung mit greller Sinnlichkeit und starken Bildern. Das Theatro (Tscheatro) de Vertigem (Vertschischi), das Theater des Schwindels verwandelt das Stück des brasilianischen Autors Bernardo Carvalho in eine lautes, erschütterndes Krisenuniversum. Der Titel ist auf deutsch etwa: "Sagen was man nicht denkt, in Sprachen, die man nicht spricht."
Geheimbund für ein graues Theater
Ungleich bruchstückhafter ist die Allegorie "Nature Morte" des jungen griechischen Autors und Performers Manolis Tsipos. Eine von einer fremden Armee besetzte Stadt, aus Lautsprechern merkwürdige Anweisungen an die Bevölkerung. In der Regie von Michel Raskine wird dies als Agit-Prop bühnenoffen vorgeführt, mit einfachsten Mitteln: aufgereihte Notenständer, Pappkartons, leere Wasserbehälter und anderes Beiwerk. Der neue Festivaldirektor wollte einen Augenmerk auf die Länder des Mittelmeeres und darin einen kleinen Griechenlandschwerpunkt. Was dort geschieht könnte ein Vorgeschmack sein auf sozialen Verwerfungen, die auch Frankreich bedrohen könnten. Mit Marie-José Malis Realisation des hölderlinschen Hyperion hätte dies eine historische und poetische Tiefendimension bekommen können, hätte die neue Direktorin des Theaters von Aubervilliers bei Paris dem Text nicht eine sinnfeindliche, prätentiös zerdehnte Diktion aufgezwungen. Vor einem kurioserweise hyperrealistischen Dekor raunen die Akteure den Text kaum hörbar über fünf Stunden in einen sich übrigens allmählich leerenden Saal so als ginge es darum, mit dem deutschen Lyriker eine neue Kirche zu errichten, einen Geheimbund für ein graues Theater ohne Sinnlichkeit.
Das Gegenteil praktiziert Emma Dante mit ihren "Le Sorelle Malacuso", einem der wenigen großen Erfolge der erste Festivalhälfte. Hier schälen sich sieben Akteurinnen mit kleinen Freudenschreien aus der dunklen uniformen Kleidung in der sie ein choreografiertes Bild vorführten. Sie entpuppen sich in ihren diversen bunten Kleidern als sehr unterschiedliche Schwestern. Nie sah man eine vitalere, fröhlichere Figur-Werdung, eine bühnenwirksamere Entfaltung des Ich und Befreiung aus dem chorischen Über-Ich auf einem Theater.
Musikkulturen Europas und Afrikas verschmelzen in "Coup Fatal". Musiker aus Kinshasa erobern, szenisch milde animiert vom belgischen Choreografen Alain Platel, mit ihren Instrumenten, dem Rumba Kongo und dem Soukous den europäischen Barock. Neben dem künstlerisch nicht immer überzeugenden Theater der Krise hat Avignon eben auch kleine Freudenmomente in Programm.
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