Fest der Liebe und der Trennung

08.10.2009
Der Roman "Einsamkeit und Sex und Mitleid" beginnt mit sechs Menschen in der Großstadt zum prekärsten Zeitpunkt des Jahres, an Heiligabend. Raffiniert erzählt Helmut Krausser, wie Paare sich finden, trennen und neu arrangieren.
Helmut Krausser ist ein Vielschreiber. Seit 1989 hat der 45-jährige Autor mehr als 20 Bücher veröffentlicht, darunter neun Romane. Zugegeben, der Titel seines neuen Romans klingt hochtrabend und wenig einladend. Doch hat man diese Hürde genommen, findet man sich inmitten des blanken, bunten, ungeputzten Lebens wieder, in zunächst drei Geschichten, die paradigmatischer nicht sein können: Sechs Menschen in der großen Stadt, und zwar zum prekärsten Zeitpunkt des Jahres, an Heiligabend. Ein zwangspensionierter Lateinlehrer und eine schwarze Kellnerin, ein Mann für gewisse Stunden und eine Einbrecherin, schließlich ein Ehepaar, das sich beim Vorbereiten der festtäglichen Sushi-Rollen trennt.

Von dieser novellenhaft angelegten Ouvertüre, in der die Einsamkeit den thematischen Grundton bildet, entwickelt sich der Roman wie in der frühklassischen Sonatenform in drei Sätzen. Um das Personal des Anfangs herum wird in vielen Episoden während eines halben Jahres ein schrilles Großstadtrondo entfaltet. Weitere Paare tauchen auf, da ist ein Besserverdienender, der ständig Angst hat, die Bedürfnisse seiner jüngeren Geliebten zu verpassen, eine unausgelastete Ehefrau, die keine Lust hat, sich dem Diktat einer Schicht zu unterwerfen, in der die Zahl der erlebten Orgasmen zur Trophäe wird, oder die Tanzlehrerin, für die Parship der einzige Ausweg ist, um jemanden kennenzulernen. Erzählt wird, wie Paare sich finden, trennen und neu arrangieren. Der Zusammenhang ergibt sich daraus, dass die Figuren, die aus allen sozialen Milieus und verschiedenen Generationen stammen, scheinbar zufällig aufeinandertreffen. Damit schafft sich Krausser eine erzählerische Rundum- Perspektive, die ihm Einblicke in die verschiedensten Winkel zeitgenössischer Seelenlandschaften erlaubt.

Das Ganze ist ziemlich raffiniert gemacht, der verwickelte Gang der Geschehnisse gut kalkuliert, viele Episoden sind ausgesprochen witzig wie die Begegnung der Erfolgsmanagerin mit dem Callboy, der sentimental an die unmögliche Liebe glaubt, oder die Bemühungen der 15-jährigen Swentja um ihr erstes erotisches Erlebnis. Gekonnt redet Krausser im Slang seiner Figuren, im Neu-Sprech von Punks und Migrantenkindern, von karrieristischen Managerinnen und Kreuzberger Service-Personal. Er beherrscht das Spiel mit verschiedenen Erzählperspektiven routiniert, und auch der Wechsel zwischen den verschiedenen Tonlagen funktioniert bestens, sodass immer wieder hinreißend komische Dialoge entstehen.

Es geht, wie meistens bei Krausser, um die Liebe, um die Sehnsucht nach dem ganz großen Gefühl, und darum, wie wenig Gewicht die Liebe hat, weil sie nie von Dauer ist. Offenbar weit besser als die große Form, wie er sie vor allem in seiner Roman-Tetralogie etwas glücklos vorgeführt hat, beherrscht er die kleinen Geschichten. So kunstvoll verwoben, so lässig und boshaft im Ton, geben sie glänzende Einblicke in ein bizarres Gesellschaftspanaroma. Denn nach und nach enthüllt der Titel seinen maliziösen tieferen Kern. Ist er doch nichts anderes als die in Rhythmus und Metrum nachgebildete erste Zeile (Einigkeit und Recht und Freiheit) des deutschen Selbstbewusstseins, eine sprachliche Parodie auf unser aller Nationalhymne.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Helmut Krausser: Einsamkeit und Sex und Mitleid
DuMont Verlag, Köln 2009
223 Seiten, 19,95 Euro