Fernschach

Schachspiel über alle Grenzen hinweg

23:52 Minuten
Schachfiguren aus Holz stehen auf einem Schachbrett.
Fernschach fasziniert auch wegen seiner Langsamkeit - Partien können Jahre dauern. © picture alliance / dpa / Hauke-Christian Dittrich
Von Fritz Schütte · 03.10.2021
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Schach kann man auch aus der Ferne spielen. Früher zog sich eine Partie schon mal über mehr mehrere Jahre und hin, vernetzt geht es längst schneller. Der Einsatz von Computern macht Onlineschach weniger attraktiv – doch es gibt einen Ausweg.
"Ich habe mit 13 begonnen, Schach und Fernschach zu spielen, und habe niemals aufgehört", sagt Fernschachmeister Fritz Baumbach. "Ein Fernschachspieler sagte mal: 'Für einen Fernschachspieler ist das ganze Leben eine ununterbrochene Partie Schach.'"
"Die Niederlage im Fernschach tut richtig weh", erklärt Arno Nickel – auch er ist Fernschachspieler. "Weil man da vielleicht ein, zwei Jahre Arbeit reingesteckt hat und vielleicht sogar auf Gewinn stand, und man macht einen dummen Fehler, manchmal durch Übereilung, weil man schnell noch den Zug wegschicken will, und dann ist die Partie im Eimer."

Kontaktaufnahme von Ost nach West

In der DDR war Grenzenüberschreitendes beliebt und schon die Suche nach einem Fernschachgegner jenseits des Eisernen Vorhangs abenteuerlich. Wie viele Jugendliche seiner Generation ist Frank Voigt aus Ostberlin bedingungsloser Fan von Borussia Mönchengladbach und freut sich, als seine Borussia im UEFA-Cup erstmals auf einen DDR-Club trifft.
Der 16. September 1981 ist ein Mittwoch. Frank reist einen Tag früher an und kauft auf, was er an Karten bekommen kann und verkauft sie. Das Westfernsehen überträgt die Partie live. Die Stasi schirmt den Gästefanblock ab. Frank schmuggelt sich ein.
"Ich habe mich nach einer Viertelstunde umgeschaut: alles ruhig und dann bin ich mit meinem Nachbarn ins Gespräch gekommen, dass ich Ossi bin, Berliner sogar. Und dann haben wir uns unterhalten. Da haben wir so ein bisschen erzählt. Und da sind wir auf das Fernschach gekommen. Danach haben wir Fernschach gespielt über die Jahre."
Und dann wurde das Geschehen abgebrochen, ohne einen Brief, ohne ein Telefonat: "Ich habe dann noch zweimal geschrieben. Aber es kam keine Antwort mehr."

Bespitzeltes Fernschach

Für Frank ist die Bundesrepublik bis zur Wende unerreichbares Terrain. Dann kommt die Einladung nach Mönchengladbach. Sein Fernschachpartner ist im Bonner Außenministerium beschäftigt. Eines Tages wurde er nach Ostkontakten gefragt.
"Und da haben sie gesagt, er muss das unterbinden, weil die Briefe alle für die Staatssicherheit fotografiert werden. Und das war dann auch so, als ich meine Akten aufgemacht habe."
Nach der Wende verliert sich der Kontakt. Über Fernschach hinaus gibt es wenige Gemeinsamkeiten.

Kontaktaufnahme zum Großmeister von West nach Ost

Unzählige Briefe aus dem westlichen Ausland waren adressiert an Fritz Baumbach, den Fernschachweltmeister aus der DDR. Baumbach sagt:
"Ich habe nie das Gefühl gehabt, dass da was überwacht wurde, obwohl wir auch natürlich mit Westlern Text immer mit draufhatten. Wahrscheinlich haben sie gedacht: Leute, die Fernschach spielen, sind ohnehin verrückt, die sind ungefährlich."

Fritz Baumbach ist mittlerweile 83, wohnt in Berlin und spielt noch immer Fernschach, jetzt allerdings am Computer. Mit der Maus zeigt er auf die Icons auf dem Monitor. Houdini und Stockfish sind Schach-Engines.
"Nun mache ich den Stockfish an. Der analysiert jetzt richtig schnell. Das geht auch ruck zuck hier. Und die Partie ist in der Tat auch für mich verloren. Er hat einen Springer, ich habe keinen. Also, er hat gut gespielt – muss ich einfach mal sagen."
Fritz Baumbach spielt mehrere Partien parallel. Gegner findet er auf Fernschach-Servern, zum Beispiel dem des Deutschen Fernschachbundes.
Fritz Baumbach, der ehemalige Präsident des Deutschen Fernschachbundes
Fritz Baumbach war Fernschachweltmeister und Präsident des Deutschen Fernschachbundes.© imago images / Werner Kohlmeyer

Mehrere Tage Bedenkzeit

"Man loggt sich ein und guckt, ob der Gegner gezogen hat. Und wenn ja, hat man dann drei Tage Zeit, je nachdem, manche haben auch fünf Tage, um ihren Antwortzug abzuschicken. Es schleicht sich bei dieser Computerunterstützung ein, dass man nach der Partie, selbst wenn man sie gewonnen hat, nicht mehr so die richtige Freude empfindet, weil man nicht weiß: Was hat man eigentlich selber und was hat die Blechkiste geleistet?"
Früher wälzte Fritz Baumbach nächtelang Schachliteratur und hoffte, der Gegner würde seine Taktik nicht durchschauen.
"Und dann hat man gewartet, vierzehn Tage, bis der Zug kam. Und ich weiß noch einmal, wie ich dann am Briefkasten war und sah durch die kleinen Ritzen schon dessen Schrift. Und das ist ein spannender Moment. Dann macht man den Briefkasten auf und guckt vorsichtig drauf: Ah, er hat es nicht gesehen. Du wirst die Partie gewinnen."

Fernschachspieler sind geduldige Tüftler, können ihr Wissen, wenn sie dem Gegner gegenübersitzen, aber oft nicht aufs Brett bringen. Fritz Baumbach war eine Ausnahme.
"Ich hatte mit 35 Jahren meine beste Zeit, war DDR-Meister und habe an der Olympiade mitgespielt. Die beste Fernschachzeit kam mit 50."

Ultimative DDR-Medaille

Kurioser Höhepunkt seiner Karriere war die 10. Fernschacholympiade. Sie begann 1988 und als sie sieben Jahre später endete, existierte der Staat, für den die Mannschaft angetreten war, schon einige Jahre nicht mehr. Die letzte DDR-Medaille rückte Fernschach kurzzeitig ins Rampenlicht.
"Und da war also gewaltiger Andrang von Leuten, die das miterleben wollten. In Magdeburg hat das stattgefunden. Das haben wir extra noch organisiert. Es war ganz großer Bahnhof bei dieser Bronzemedaille. Dann drei Jahre später haben wir Gold gewonnen mit einer gemeinsamen Mannschaft, und da war nur der Reporter von der Magdeburger Volksstimme da."

Schach ohne Zukunft?

Ob per Brief oder am Bildschirm: Fernschach ist zeitaufwendig. Fritz Baumbach hat Familie und arbeitet immer noch als Patentanwalt. Heute spielt im Grunde Computer gegen Computer, und wer keinen Bedienungsfehler macht, hat gute Chancen auf ein Remis.
"Und viele prophezeien ja auch schon, dass sich das Schachspiel dem Ende nähert, den Tod letztlich erleiden wird durch den Computer. Fernschach sowieso, da bin ich auch der Meinung: langfristig hat das keine Chance. Wenn bloß noch alles Remis wird, das ist ja auch langweilig. Das spielen die Leute auch nicht mehr, haben keine Lust mehr dazu."

Option Blitzfernschach

Warum nicht einfach die Bedenkzeit verkürzen? Blitzfernschach. Das Internet macht es möglich.
Es ist Dienstagnachmittag kurz vor fünf. Die Fenster des Büros in Hamburg sind abgedunkelt. Jan Gustafsson streift ein Sakko über und nimmt hinter dem Schreibtisch Platz. Kamera und Scheinwerfer sind auf ihn gerichtet, der Kaffeebecher gefüllt.
Jan Gustafsson ist 39, mehrfacher Blitzschachmeister und Mitbegründer der Webseite Chess24. "Man kann spielen, man kann sich Lehrvideos angucken, man kann die großen Turniere verfolgen. Wir haben viele Live-Kommentare zu allen großen Turnieren, die so stattfinden in der Schachwelt. Wir hoffen, dass es für alle Schachinteressierten etwas anzubieten hat.

Auf dem Bildschirm prüft Jan die Anmeldungen. "Ihr kennt die Regeln. Fordert mich heraus zu einer Partie, fünf Minuten Schach. Und solltet ihr Chess24 Premium User sein, haben wir vielleicht gleich die große Ehre, gegeneinander zu spielen."
Die Wahl fällt auf "Topschachspieler", der jetzt irgendwo da draußen am Rechner sitzt. "Bist du da, Topschachspieler? Ist ein ambitionierter Name." Jan Gustafsson kommt bei Schachfans gut an. Schlagfertiger Humor, ohne überheblich zu sein. Er war zweimal deutscher Jugendmeister, dann in der Sportfördergruppe der Bundeswehr, spielt in mehreren europäischen Ligen und ist immer noch Nummer zwei der deutschen Rangliste.
Der Blitzschachmeister Jan Gustavsson hält Spielsteine in der Hand
Blitzschachmeister Jan Gustavsson ist auch wegen seines Humors als Schachkommentator beliebt.© imago images / Sven Simon

Schwieriges Profidasein

"Es gibt viele Leute, die vom Schach leben, aber nicht nur als Spieler, sondern die Training geben, das ist sehr populär, oder schreiben, die also im Umfeld tätig sind. So als reine Spieler würde ich sagen: So fünfzig Leute auf der Welt können gut davon leben. Die Top Ten sehr gut und darunter, da wird's schwierig."
Jan Gustafsson hat seinen Gegnern Tausende Stunden Schach voraus, erfasst Situationen mit einem Blick und muss nicht grübeln. "Nicht ständig, aber es kommt schon vor. Ich habe auch ein Handicap, weil ich nebenbei noch Blödsinn rede und mich nicht voll auf Schach konzentriere. Aber es gibt auch starke Nutzer natürlich."

Spiel mit Suchtcharakter

"Blitzschach ist heute eine sehr verbreitete Form des Internetschachs", erläutert Schachautor Arno Nickel. "Das hat sogar teilweise Suchtcharakter. Manche Leute, die kommen da nicht weg, die sind so im Spielrausch: 'Mein Gott, jetzt sitze ich hier schon drei Stunden. Ich wollte doch eigentlich nur eine Stunde spielen.'"
Blitzschach-Spieler schulen ihr Reaktionsvermögen, meint Nickel. "Es könnte auch sein, dass sie teilweise auch zu einer gewissen Oberflächlichkeit neigen durch dieses ständige Blitzschach. Und dass sie vielleicht auch zu sehr aufs Ergebnis orientiert sind und gar nicht mehr auf den kreativen Prozess."
Arno Nickel betreibt den Schachladen Lasker’s in Berlin und ist Mitglied der deutschen Fernschachnationalmannschaft. Schach erfordert Geduld, sagt er.
"Ich habe als Schüler angefangen zu spielen, weil ich auf einem Internat war, wo ich keine Gegner hatte, und wollte mich verbessern im Schach und spielte also mein erstes internationales Turnier gegen verschiedene Spieler aus Europa und einer war aus Sibirien. Da dauerte ein Zug einen Monat. Da wusste ich schon gar nicht mehr, wenn die Antwort kam, was ich überhaupt selbst gespielt hatte."

Veränderte Kreativität

Irgendwann in diesem Jahr wird Arno Nickel mit der Mannschaft Weltmeister werden, denn sie sind vom ersten Platz nicht mehr zu verdrängen. Er vermisst Kreativität und Spontaneität, die Fernschach früher auszeichneten. "Da war man auch total überrascht, wenn man die Antwort vom Gegner bekommen hat. Heute weiß man das meistens schon, aufgrund der Computervorhersagen, was überhaupt zu erwarten ist."
In einer Partie riet der Computer dazu, die Damen nicht zu tauschen, um die Stellung komplexer zu halten. "Aber ich habe dann in der Analyse festgestellt: Es geht nicht weiter, es ist ein endloses Herumgeziehe. Und ich habe dann gegen die Computerempfehlung einfach mal das Turmendspiel simuliert und zu meiner Überraschung in sehr aufwendiger Analyse einen Gewinnweg gefunden."

Gegner aus dem Jenseits

Wolfgang Eisenbeiss ist 87 Jahre alt, wohnt in St. Gallen und hat sich für das Interview Internettelefonie installieren lassen.
1985 hat er die wohl ungewöhnlichste Fernschachpartie organisiert, zwischen dem russischen Großmeister Viktor Korschnoi und dem ungarischen Großmeister Geza Maroczy, der bereits 34 Jahre tot war.
"Ich hatte schon seit längerer Zeit die Idee, einen Beweis erbringen zu wollen hinsichtlich eines Weiterlebens nach dem Tode. Ich befasse mich spirituell mit diesen Fragen, und es hat mich einfach gestört, dass selbst innerhalb der Theologie da Meinungen vertreten sind: 'Das Leben geht nicht weiter. Es gibt kein Jenseits.' Das ist ja furchtbar, nicht wahr, und ich möchte da Klarheit reinbringen."
Doch was würde Zweifler überzeugen? Wolfgang Eisenbeiss bittet ein Medium, das die Gabe hat, Botschaften aus dem Jenseits empfangen und dorthin senden zu können, Kontakt zu verstorbenen Schachgroßmeistern aufzunehmen. Die Gewünschten winken ab.
"Aber es hat sich ein Geza Maroczy gemeldet, Schachspieler, und einer der fünf besten Spieler der Welt um 1900 herum. Der hat von dem Wind bekommen drüben und gesagt: 'Ich möchte mich da gerne einschalten und diesen Beweis erbringen.'"
Der aus Russland stammende schweizerischer Schach-Großmeister Viktor Kortschnoi
Vizeschachweltmeister Viktor Kortschnoi ließ sich auf ein Schachexperiment ein, das sieben Jahre dauern sollte.© imago images / Werner Kohlmeyer
Um ganz sicher zu gehen, muss Wolfgang Eisenbeiss dem Jenseitigen auf den Zahn fühlen. Er findet eine außergewöhnliche Schachpartie. "Nämlich San Remo 1930 im Turnier dort gegen einen Romi, R-O-M-I. Und da stand er praktisch total auf Verlust. Und da hat der Maroczy aber genial noch einen Ausweg gefunden. Und so ein Ereignis vergisst ein Schachspieler nie, ob er nun hier lebt oder in einer anderen Welt jemals leben sollte. Ich weiß das aus eigener Erfahrung, von eigenen Partien: Wenn dir sowas glückt, das vergisst du nie."
Robert Rollans, das Medium, das vom Schachspiel nur so viel versteht, dass es die Figuren aufstellen und setzen kann, übermittelt die Frage ins Jenseits. "'Sagt dir der Name Romi etwas?' Da hätten ja alle Glocken läuten müssen. Und da sagt er: 'Nein, kenne ich nicht. Wer ist das? Aber falls du meinst, ob ich mit einem Romih gespielt habe, der am Schluss noch ein h hat im Namen. Ja, dann kann ich dir eine ganz hochinteressante Geschichte erzählen.'"
Massimo Romi, italienischer Schachspieler kroatischer Herkunft, wurde in der Literatur stets unter seinem italienischen Namen geführt. Sollte er 1930 tatsächlich noch unter seinem alten Namen angetreten sein? Aufschluss kann nur das Turnierbuch gegen. Wolfgang lässt in allen Bibliotheken suchen.
"Es ist mehr als ein Monat ins Land gegangen, da habe ich aus Holland von einer königlichen Bibliothek eine Zuschrift bekommen und dieses Turnierbuch. Das habe ich natürlich mit erhobenem Herzen aufgemacht, war ganz aufgeregt. Und da ist ein Foto drinnen, wo alle diese Teilnehmer abgebildet sind, und links außen steht da der Romih mit einem h schrieben. Also, der Jenseitige hat absolut recht gehabt."
Doch wer soll nun der Gegner sein? "Ich muss natürlich, um die Sache etwas griffig zu machen, einen guten Spieler nehmen und da habe ich den Viktor Kortschnoi gefragt: 'Würden Sie da mitspielen?'

Hochkarätiger Gegner mit viel Zeit

Der zweimalige Vizeweltmeister Viktor Kortschnoi, in den siebziger Jahren aus der Sowjetunion emigriert, tritt seitdem für die Schweiz an.
"Ich habe natürlich gedacht, die Partie sei etwa in einem Monat fertig. Nein, das ging sieben Jahre und acht Monate, die Partie. Die Züge sind einfach ganz langsam gekommen.
Und zeitweise, nach dem 28. Zug, hat Kortschnoi dann geschrieben: 'Ich glaube nicht, dass ich die Partie gewinnen kann.' Er hat mit einem Remis gerechnet", sagt Eisenbeiss. "Aber er hat es dann doch noch hingekriegt und hat halt die Partie eben gewinnen können."

Altmodische Taktik

"Vor allem in der Eröffnungsphase offenbare Maroczy Schwächen. Er spiele altmodisch", findet Viktor Kortschnoi. Der früher elegante Angriffszug mit der Dame wirkt heute wie ein romantischer Husarenritt. Schwarz kennt eine Antwort, die den Jenseitigen in Verlegenheit bringt. Dass der es dennoch ins Endspiel schafft, verlangt Hochachtung – das war eine gute Partie, die überall einsehbar ist."
Bemerkenswert ist ein Satz, dessen Bedeutung erst Jahre später klar wird. Eisenbeiss sagt:
"Da hat schon in der ersten Sitzung der Jenseitige durchgegeben: 'Du, lieber Roland' – das ist das Medium – 'wirst diese Partie bis zum Ende begleiten.' Und wenige Tage nach dem Ende der Partie ist das Medium gestorben. Es sieht fast so aus, als hätte man sein Leben etwas verlängert. Es heißt ja, es kann dir in deinem Leben etwas dazu gegeben werden, wenn nämlich du noch etwas leisten kannst, dass die geistige Welt dir dann anrechnen kann."
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