Ferdinand von Schirach: "Strafe"

Das Böse von nebenan

Im Vordergrund das Cover zu Ferdinand von Schirachs "Strafe", im Hintergrund ein dunkelgrauer Gewitterhimmel.
Ferdinand von Schirachs Bösewichter sind auch in seinem neuen Werk "Strafe" die Menschen von nebenan. © Buchcover: Luchterhand Verlag; Hintergrund: imago/ Rech
Von Irene Binal · 03.03.2018
Eine Frau wird zu Unrecht verurteilt und nimmt Rache, ein Mann dreht durch, als seine Sexpuppe von seinem Nachbarn geschändet wird. "Strafe" ist ein echter Schirach: ein Erzählband, in dem der Autor auf lakonische Art rechtliche und menschliche Untiefen auslotet.
In seinen neuen Erzählungen spürt Ferdinand von Schirach einmal mehr dem alltäglichen Bösen nach, das manchmal gar nicht so böse ist, wie es scheint. Und einmal mehr geht es Schirach vor allem um die Frage, warum Menschen Verbrechen begehen, was sie zum Äußersten treibt - und auch um die Grenzen des Strafrechts, um den Rechtsstaat und seine oft bizarren Ausformungen.

Über das Absurde unserer Rechtsordnung

Denn bizarr wirkt es, wenn ein Mann, der mit 1,6 Promille im Blut und fünf Kilogramm Kokain im Kofferraum gegen einen Brückenpfeiler prallt, nicht wegen Drogenbesitzes verurteilt werden kann, weil er bereits für Trunkenheit am Steuer belangt wurde.
Bizarr wirkt es auch, wenn ein Mörder in abgehörten Selbstgesprächen die Tat gesteht, das Band aber als Beweismittel nicht zugelassen wird. Und ebenso bizarr wie beängstigend erscheint es, wenn ein brutaler Menschenhändler wegen eines ziemlich belanglosen Verfahrensfehlers auf freien Fuß kommt. In Schirachs Geschichten wird deutlich, wie absurd unsere Rechtsordnung mitunter ist, wie eine minutiös ausgefeilte Gesetzeslage sich gegen sich selbst kehren kann und damit gerade jene begünstigt, die zu verurteilen sie angetreten ist.

Schirachs Täter sind meist recht alltäglich

Ferdinand von Schirach ist freilich weit davon entfernt, dies zu bewerten oder gar zu kritisieren. Er bleibt Chronist, er psychologisiert nicht und erklärt nicht, sondern beschreibt in einer minimalistischen, kargen und trockenen Prosa, die gerade aus der Schlichtheit ihre Kraft bezieht. In wenigen Worten lässt Schirach Welten entstehen, skizziert Beziehungen ("Wenn sie miteinander schliefen, verlor er die Kontrolle über seinen Körper. Es rührte sie.") oder erzählt von einem Mord ("Brinkmann stellt den Fuß auf die Stoßstange. Das Chrom blendet ihn in der Sonne. Mit seinem ganzen Gewicht drückt er dagegen. Die beiden Wagenheber knicken um, das Auto rutscht auf den Mann.").
Schirachs Täter sind meist unauffällig und recht alltäglich, ihre Taten passieren oft fast nebenbei und werden mitunter gar nicht als Tat wahrgenommen. Und stets schwingt die Frage nach dem Warum mit, nach Gefühlen wie Eifersucht, Verzweiflung oder Einsamkeit, die ganz normale Menschen dazu bringen können, ein Verbrechen zu begehen.

Wenn aus Opfern Täter werden

Wie immer sind Schirachs Erzählungen von tatsächlichen Begebenheiten aus seiner Anwaltspraxis beeinflusst, die er verdichtet und verfremdet hat. Das Böse hat bei ihm nichts Dämonisches, es wohnt gleich nebenan und lässt sich nicht immer klar vom Guten abgrenzen. Und so gewähren seine zwölf Geschichten nicht nur Einblicke in unser Rechtssystem, sondern sind vor allem ein Aufruf, genauer hinzuschauen und sich einzugestehen, dass der Täter manchmal vor allem Opfer ist und das Opfer der eigentliche Täter - und dass wohl jeder unter bestimmten Umständen selbst zum Verbrecher werden kann.

Ferdinand von Schirach: Strafe
Luchterhand München, 2018
192 Seiten, 18,00 Euro

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