Femizide in Argentinien

Wenn Polizisten morden

22:37 Minuten
Auf einer Demonstration tragen zwei Frauen mit Mundschutz ein Banner mit einem brennenden Polizeiauto.
Frauen demonstrieren in Buenos Aires gegen Polizeigewalt. © Deutschlandradio / Sarah Pabst
Von Karen Naundorf · 27.10.2021
Audio herunterladen
Fast jeden Tag wird in Argentinien eine Frau ermordet, und die Täter gehören in 13 Prozent der Fälle den Sicherheitskräften an. Es muss nicht immer zum Schlimmsten kommen. Aber es ist klar, dass die argentinische Polizei ein Machismusproblem hat.
"Justicia!","Gerechtigkeit" rufen über hundert Jugendliche. Sie stehen vor der Polizeiwache in Rojas, einer Kleinstadt in der argentinischen Pampa, 200 Kilometer westlich von Buenos Aires.
Es ist kurz vor Mitternacht und sie sind wütend auf die Polizei: Matías Martínez, ein Polizist, hat die 18-Jährige Úrsula Bahillo ermordet. Ein Streifenwagen brennt, die Polizei schießt mit Gummikugeln. Ein Mädchen wird schwer am Auge verletzt.
Der Fall erschütterte Argentinien: schon wieder ein Frauenmord, schon wieder ein Polizist als Täter, schon wieder ein Mord, der hätte verhindert werden können. Fast jeden Tag wird in Argentinien eine Frau ermordet. Und nach aktuellen Zahlen gehören die Täter in 13 Prozent der Fälle den Sicherheitskräften an, so wie im Fall von Úrsula.
Das schwarz-weiß Porträt eines lächelnden jungen Mädchens ist in einer Zeitung abgedruckt neben einem Artikel.
Ein Artikel über den Mord an Úrsula in der lokalen Zeitung von Rojas. Die Redaktion unterstützt die Eltern bei ihrer Forderung nach Gerechtigkeit.© Deutschlandradio / Sarah Pabst
Úrsula sei ein fröhliches Mädchen gewesen, sagt Patricia Nasutti, die Mutter, eine schmale Frau mit silbergrauen, langen Haaren. 38 Kilo hat sie seit Úrsulas Tod abgenommen.
Zusammen mit ihrem Mann sitzt sie am Küchentisch, zeigt ein Handyvideo: Úrsula, braune Haare, Pferdeschwanz. Sie singt, sie tanzt.

Úrsula rief auf Social Media um Hilfe

Auf einem Beistelltisch brennt eine weiße Kerze. Daneben liegen Úrsulas Mitgliedsausweis im Fußballclub, einige Armreifen, ein Schlüsselbund – es sind jene Gegenstände, die die Eltern aus dem Leichenhaus zurückbekommen haben.
Sieben Monate lang war Úrsula mit dem 25-jährigen Matías Martínez zusammen, sie litt unter Gewalt, doch sie schwieg. Erst Anfang Januar trennte sie sich – und machte von da an alles richtig: mindestens dreimal erstattete sie Anzeige. Sie ging erneut zur Polizei, als Martínez das Annäherungsverbot nicht einhielt, und sie rief auf Social Media um Hilfe.
Eine ältere Frau mit langen grauen Haaren und einem mit einem Mädchenporträt bedruckten T-Shirt legt den Arm um einen kleinen weißen Pudel.
Mutter Patricia zusammen mit Úrsulas Hündin. Diese wartet noch immer auf ihr Frauchen.© Deutschlandradio / Sarah Pabst
Patricia Nasutti wirkt so wütend wie erschöpft. Sie hat sich die Worte ihrer Tochter auf den Unterarm tätowieren lassen: "Als Úrsula Angst hatte, er würde sie töten, war ihr letzter Tweet: 'Wenn ich nicht zurückkomme, schlagt alles kurz und klein'."
"An Weihnachten und an Silvester saßen wir noch hier an diesem Tisch und haben zusammen mit dem Mörder gegessen. Da war er noch der Freund von Úrsula. Da denkt niemand dran," sagt der Vater Adolfo Bahillo. "Er musste erst meine heilige, geliebte Tochter Úrsula töten, damit herauskam: Es gab seit 2017 eine Anzeige wegen Gewalt gegen ihn. Dafür hat er nun vier Jahre Gefängnis bekommen", sagt die Mutter.

Das Versagen der Justiz

Die Justiz, zu langsam. Vor vier Jahren hatte eine Exfreundin den Polizist angezeigt, wegen Gewalt und auch weil er sie mit der Dienstwaffe bedrohte. Doch als das Urteil kam, war Úrsula schon tot. Die Justiz versagte auch in einem zweiten Fall: Mitte 2020 missbrauchte Martínez ein minderjähriges, behindertes Mädchen.
Am 5. Januar, mehr als einen Monat vor dem Mord an Úrsula, sah der Staatsanwalt die Tat als erwiesen an und forderte den zuständigen Richter auf, Martínez zu verhaften. Eigentlich hätte dieser also seit Anfang Januar wegen des Missbrauchs in Untersuchungshaft sitzen müssen, erklärt der Vater. Doch Januar, das ist in Argentinien Hochsommer. "Der Staatsanwalt beantragt die Verhaftung, aber der zuständige Richter beschließt, die Justizferien dafür nicht zu unterbrechen. Das heißt: Er war im Urlaub und hat die Verhaftung am 5. Januar abgelehnt.
Der Mord passierte am 8. Februar. Erst am 11. Februar hat der Richter die Haft wegen des Missbrauchsfalls genehmigt. Die Justiz trägt deshalb Mitschuld: Wenn sie, wenn der Staat seine Pflicht getan hätte, wäre Úrsula am Leben.

Am Tatort ist nur der Wind zu hören, dazu ein paar Vögel. Ein ungeteerter Feldweg, 14 Kilometer von Rojas entfernt. So einsam, dass Úrsula nicht um Hilfe rufen konnte.
Ein älteres Paar sitzt in der Küche an einem Tisch. Im Hintergrund steht ein großer Kühlschrank.
An diesem Tisch saßen die Eltern an Weihnachten noch zusammen mit ihrer Tochter und ihrem späteren Mörder Martínez.© Deutschlandradio / Sarah Pabst

"Ein Tatort wie im Lehrbuch"

Der Staatsanwalt rekonstruierte: Martínez tötete Úrsula mit mindestens 15 Messerstichen, dann schnitt er ihr die Kehle durch. Er hatte eine Schaufel im Kofferraum. Nach der Tat rief er einen Onkel an, sagte: Er habe "Mist gebaut", der Onkel solle kommen, alleine. Doch dieser kam mit der Polizei. Martínez wurde direkt am Tatort verhaftet.
Staatsanwalt Sergio Terrón sitzt an einem breiten Schreibtisch. Das große Fenster des Altbaus ist weit geöffnet, auf einem Baum schimpfen Sittiche. Der 8. Februar 2021 war nach den Ferien der erste Arbeitstag des energisch wirkenden Mannes – und dann gleich drei Todesfälle: ein Selbstmord, ein ertrunkener Junge in einem Schwimmbad und abends Úrsula.
Der Staatsanwalt schloss die Beweisaufnahme nach nur 19 Tagen ab. Der Tatort sei wie im Lehrbuch gewesen: Opfer, Täter, Tatwaffe, alles vorhanden.

Was läuft falsch in der Justiz?

Die wichtigste Frage an den Staatsanwalt liegt auf der Hand: Was läuft falsch in der Justiz, insbesondere bei der Prävention? Es gäbe nicht nur eine Antwort, sagt der Staatsanwalt. Klar sei für ihn auf jeden Fall: Es brauche härtere Gesetze. "Wenn ein Annäherungsverbot verletzt wird, steht darauf keine Gefängnisstrafe. Wenn es bei einer verbotenen Annäherung sechs Monate Gefängnis gäbe, ich denke, das würde abschrecken."
Ein Mann sitzt in einem holzgetäfelten Büro an seinem Schreibtisch und hat einen Berg von Unterlagen vor sich liegen.
"Wir führen nicht die notwendigen Eignungsprüfungen für Polizisten durch", sagt Sergio Terrón, der Staatsanwalt im Fall Úrsula.© Deutschlandradio / Sarah Pabst
Sergio Terrón steht kurz vor dem Ruhestand. Úrsula ist der letzte große Fall, den er bis zum Gerichtsverfahren im Dezember begleiten will.

Ein Psychopath als Waffe

Was die Polizei betrifft, dazu hat der Staatsanwalt eine klare Meinung. "Wir rekrutieren nicht richtig, wir führen nicht die notwendigen Eignungsprüfungen durch", sagt er. "Wenn ich einem Psychopathen eine Waffe, eine Polizeimarke und eine Uniform gebe, dann ist dieser Psychopath eine Waffe. Er ist unkontrollierbar. Wenn er verärgert ist, sich zurückgewiesen fühlt, rastet er aus."
Und warum wurde der Mörder von Úrsula nicht schon im Januar verhaftet? Der Staatsanwalt will nicht über Kollegen urteilen. Er verweist auf die Nachforschungen innerhalb der Justiz. Diese sei bisher zu keinem Ergebnis gekommen. Die zwei Richter, die Úrsulas Tod durch eine Verhaftung von Martínez hätten verhindern können, sind beide nach wie vor im Amt.
Auf einer bunten Decke liegt das Foto eines in weiß gekleideten jungen Mädchens, mit langen braunen Haaren in denen ein Krönchen steckt.
Barbi Zabala an ihrem 15. Geburtstag, den sie groß feierte. Ihr Traum war es, mit dem Vater nach Frankreich zu reisen.© Deutschlandradio / Sarah Pabst
Ein blutverschmierter Rucksack, ein blutiges, zerfetztes, weißes Oberteil. Zum ersten Mal überhaupt packt Oscar Zabala aus, was er – in Zeitungspapier eingewickelt – von der Staatsanwaltschaft zurückbekommen hat: die Kleidung, die seine Tochter Barbi trug, als sie von ihrem Exfreund, einem Polizisten, erstochen wurde, am 6. Dezember 2019, ihrem 19. Geburtstag.

Die Sicherheitskameras zeichneten die Tat auf

Auch Barbi hatte mehrfach Anzeige erstattet. Zunächst bekam sie Polizeischutz, doch nur für wenige Tage. An ihrem Geburtstag ging sie mit drei Freundinnen zum Hauptplatz in ihrer Heimatstadt Pehuajó, 250 Kilometer südlich von Úrsulas Heimatstadt Rojas. Dort passierte es: vor Zeugen. Die Sicherheitskameras zeichneten alles auf. Ihr Exfreund erstach sie, blieb danach auf der Leiche sitzen, ließ sich verhaften.
Der Vater wirft der Polizei vor, zum Tatzeitpunkt bewusst weggeschaut und so den Mord zugelassen zu haben. "Es gibt Aufzeichnungen der Funkgespräche zwischen Polizisten in zwei Streifenwagen", erzählt er. "Einer sagt: 'Hier läuft die Tochter von Zabala.' Der andere: 'Hier läuft Dirassar. Er hatte ein Annäherungsverbot, auf 100 Meter.' Doch ein Wagen fuhr in eine Richtung weg, der andere in die andere. Als Vater denke ich: 'Das war kein Zufall.'"
Ein älterer Mann mit blau kariertem Hemd sitzt auf seinem Bett, die Hände zusammengelegt und schaut aus dem Fenster.
Oscar Zabala war bis zu Barbis Tod bei der Polizei angestellt. Der Sprengstoffexperte arbeitet seitdem nicht mehr. Seine Hände zittern zu sehr.© Deutschlandradio / Sarah Pabst
Nach Barbis Tod fand Zabala heraus: Braian Dirassar war bereits von einer anderen Exfreundin wegen Gewalt angezeigt worden, bevor er in die Polizei aufgenommen wurde. "Zwei Ex-Partnerinnen hatten schon Anzeige gegen ihn erstattet, mehrfach. Eine der Familien musste sogar Pehuajó verlassen, weil diese Person sie verfolgte, wobei er die Bezeichnung Person nicht verdient."

Richtet sich der Aufstieg bei der Polizei nach der Eignung?

Oscar Zabala hat ein Gesetzesprojekt verfasst und sammelt Unterschriften. Mehr als 40.000 hat er bereits. Sein Ziel: sofortige psychologische Gutachten bei einer Gewaltanzeige. Und, wenn der Beschuldigte psychopathische Züge aufweist und eine Gefahr für das Opfer darstellt: die sofortige Verhaftung.
Der Sprengstoffexperte hat bis zum Tod seiner Tochter selbst für die Polizei gearbeitet. "Mir kann niemand erzählen, dass ein Kommissar seine Leute nicht kennt", meint er. "Das heißt, da versagen der kommunale Chef, der regionale Chef, alle." Er glaube, die meisten Polizisten seien exzellente Leute. "Aber die, die es nicht sind, stechen heraus. Es ist eine vertikale Struktur: Wer die Pyramide erklimmen und nach oben gelangen, also etwa Polizeichef werden will – ich weiß nicht, ob sich das wirklich nach seiner Eignung richtet."
Auf einer Kommode stehen auf einem weißen Deckchen vor einer brennenden Kerze mehrere gerahmte Fotos, die u.a. den Vater mit der Tochter zeigen.
Fotos aus glücklichen Zeiten. Der Vater hat sie auf der Kommode im Schlafzimmer aufgestellt.© Deutschlandradio / Sarah Pabst
Als Polizist darf Zabala eigentlich keine Interviews geben – also drückt er vorsichtig aus, was "vox populi" ist. Die Polizei gilt als korrupte, machistische Institution, die in manchen Landesregionen Rekruten nach einer Expressausbildung von neun Monaten eine Waffe in die Hand gibt.

Die Polizei – eine korrupte, machistische Institution?

Die Menschenrechtsorganisation CELS, auf deutsch Zentrum für Rechts- und Sozialstudien, spricht gar von einem Repertoire gewaltsamer und missbräuchlicher Praktiken, die Polizisten häufig anwendeten. Darunter irreguläre Durchsuchungen, gefälschte Protokolle, Unterschlagung von Beweismitteln, rechtswidrige Gewaltanwendung.
Eine Frau, die einen Polizisten wegen Gewalt anzeige, sei besonders gefährdet, sagt die Journalistin und Mit-Begründerin der "Ni una menos"-Frauenbewegung Mariana Carbajal. "Dabei kommen zwei Aspekte ins Spiel: zum einen die Tatsache, dass der Mann eine Dienstwaffe besitzt, und zwar heißt das in Argentinien, insbesondere in der Provinz Buenos Aires, für 24 Stunden am Tag." Der andere Punkt habe mit der Komplizenschaft innerhalb der Polizei zu tun. "Oft stellen Frauen, wenn sie Hilfe suchen, fest, dass die Polizei ihre Beamten anstelle der Frauen schützt. Anzeigen werden nicht aufgenommen, kleingeredet oder Beweise vernichtet."

6000 Polizisten wegen Gewalt gegen Frauen angezeigt

Dass die Polizei in Argentinien ein Machismus-Problem hat, zeigen auch interne Zahlen. Allein in der Polizei der Provinz Buenos Aires, einer Region in etwa so groß wie Polen, wurden zwischen 2013 und 2020 rund 6000 Polizisten wegen Gewalt gegen Frauen angezeigt.
Eine schmale dunkelhaarige Frau im Jacket sitzt an einem riesigen dunklen Schreibtisch am PC zwischen zwei Fahnen.
Die Feministin und Direktorin Agustina Baudino glaubt fest daran, dass die Polizei sich durch Fortbildungen ändern kann. © Deutschlandradio / Sarah Pabst
80 Prozent dieser Beamten sind nach wie vor im Einsatz. "Ist es überhaupt möglich, die Polizei zu verändern?", ist deshalb die erste Frage an Agustina Baudino, Direktorin für Gender- und Menschenrechtspolitik im Sicherheitsministerium der Provinz Buenos Aires.
"Viele Polizeibeamte mit jungen Töchtern sagen mir, dass sie bereits mit dem Thema zu tun haben: 'Meine Tochter macht mich damit verrückt'. Es ist sehr interessant mit diesen Polizeibeamten zu arbeiten", antwortet sie. Die Polizisten würden es begrüßen, wenn man ihnen Hilfsmittel an die Hand gibt. "Denn es gibt auch viele Fälle, in denen die Polizeiarbeit im Umgang mit den Opfern kritisiert wird, etwa bei der Entgegennahme von Anzeigen. Vieles, was schlecht läuft, hat mit mangelnder Ausbildung zu tun."

"Es geht um einen Kulturwandel"

Agustina Baudino ist es wichtig, die Arbeit von Ministerium und Polizei zu zeigen – bei einem Workshop in Quilmes, einer Stadt im Großraum von Buenos Aires. Rund 30 Polizisten und Polizistinnen sitzen im Raum.
In Videos und Rollenspielen geht es um die Basics: Anzeige aufnehmen, Risiko analysieren, Justiz informieren – und, wenn der Gewalttäter ein Polizist ist, auch die Dienstaufsichtsbehörde.
"Dann wird ein Verfahren eröffnet: Das kann straf- oder verwaltungsrechtlich sein", erklärt Polizeihauptkommissarin Sonia Zampelunghe, dunkelblaue Uniform, lange blonde Haare. "Wir wissen aber, dass wir mit einer simplen Strafe keine Veränderung erreichen. Es geht um einen Kulturwandel."
Eine blonde Frau mit Abzeichen am dunklen kurzärmligen Hemd steht in der Sonne vor einem Haus.
Polizeihauptkommissarin Sonia Zampelunghe setzt sich innerhalb der Provinzpolizei gegen Gewalt gegen Frauen ein.© Deutschlandradio / Sarah Pabst
Die Polizisten im Raum nicken. Doch es bleiben Fragen offen. Etwa: Wer trägt die Verantwortung, wenn ein Polizist einen Frauenmord begeht? Wenn schon vorher Anzeigen wegen Gewalt vorlagen? "Der direkte Vorgesetzte hat die Verantwortung, angezeigtes Personal im Auge zu behalten. Er muss beurteilen, wie sie sich auf der Arbeit verhalten."
Doch die Realität zeigt, dass genau dies nicht passiert: Matías Martínez, der Mörder von Úrsula, war auch vier Jahre nach der ersten Gewaltanzeige einer Exfreundin im Dienst. Sein Vorgesetzter in Rojas, der keine Maßnahmen ergriff, wurde an einen anderen Ort versetzt und ist immer noch im Einsatz.

Angehörige ermordeter Frauen treffen sich

Ein Freitag Anfang Oktober in Buenos Aires: Die Eltern von Úrsula sind in die Hauptstadt gefahren, dort findet an diesem Tag ein Treffen einer Gruppe von Angehörigen ermordeter Frauen statt. Úrsulas Eltern sind zum ersten Mal dabei. Dennoch umarmen sie die anderen, als würden sie sich schon lange kennen.
Wenig später sitzen mehr als 30 Angehörige in einem Stuhlkreis. Die meisten haben ein Foto des Opfers aus ihrer Familie dabei oder tragen es auf die Kleidung gedruckt. Jeder stellt seinen Fall vor. Auch Patricia Nasutti spricht, über Úrsula und dass sie noch leben könnte. Aus ihren Worten klingen Wut und Trauer zugleich. "Der Richter, der im Dienst war, wollte seine Ferien nicht unterbrechen. Der Herr Richter saß am Schwimmbecken, es war heiß. Wenn er den Mörder am 5. Januar verhaftet hätte, wäre Úrsula heute am Leben."
Eine Erzählung ist bitterer als die nächste. Einen ganzen Tag lang dauert das Treffen. Úrsulas Fall ist nicht der einzige Frauenmord durch einen Polizisten.

"Sie verwischen alle Spuren"

Die Mutter von Karen López kämpft um Aufklärung: Angeblich soll ihre Tochter Selbstmord begangen haben, mit einem Schuss in die Brust. Das behauptet zumindest ihr Ex-Freund, wie Karen ebenfalls ein Polizist.
Die Mutter vermutet, dass Karen ihre Polizeikollegen bei illegalen Aktivitäten entdeckt hatte und anzeigen wollte. Bis heute erhält sie anonyme Drohanrufe. "Als es passiert, ruft er am 16. Februar seinen besten Freund Rodríguez an, einen Polizeikommissar, und sie räumen den ganzen Tatort auf. Sie verwischen alle Spuren, und ich tappe immer noch im Dunkeln. Es ist schrecklich, in Angst zu leben, wenn ein Frauenmörder in Freiheit ist."
Schwere Vorwürfe gegen die Polizei erhebt auch Fernanda Albornoz. Ihre Schwester Florencia wurde von ihrem Exmann, einem Polizist, mit der Dienstwaffe erschossen. 17 Mal war Florencia vorher auf der Wache, um ihn anzuzeigen – keine dieser Anzeigen war nach dem Mord im System zu finden. "Seine Freunde bei der Polizei sorgten dafür, dass alle Anzeigen in Schubladen verschwanden und das war jeweils ein Spanferkel wert", erzählt Albornoz. "Am Ende des Monats kaufte er ein Ferkel für jede zu den Akten gelegte Anzeige. Das war später von Vorteil für ihn. Er bekam deshalb ein geringeres Urteil."
Eine Demonstrantin hält in einer Menge stehend ein pink Schild in den Händen, auf dem steht " Gerechtigkeit für Úrsula".
"Gerechtigkeit für Úrsula": Überall in Argentinien fanden nach dem Mord an Úrsula Proteste statt. Der Fall erschütterte das Land.© Deutschlandradio / Sarah Pabst
"Nachbarn, seid nicht gleichgültig, die Mädchen werden vor Euren Augen ermordet", rufen mehrere Dutzend Jugendliche an diesem Abend in Rojas. Sie halten Transparente in der Hand: "Gerechtigkeit für Úrsula", steht darauf.
Die Heimatstadt von Úrsula ist auch Monate nach dem Mord nicht zur Ruhe gekommen. Die Eltern haben zu einer Versammlung auf dem Hauptplatz aufgerufen. An allen Ecken des Platzes steht je ein großes Porträt von Úrsula, auf Holz aufgezogen, sodass die Bilder auch bei Regen stehen bleiben können.

"Ich will, dass alle dafür bezahlen"

Mutter Patricia Nasutti hält ihren rechten Arm in die Höhe und zeigt auf einen goldenen Ring mit den Initialen UB, Úrsula Bahillo. Sie und ihr Mann Adolfo äußern einen schwerwiegenden Verdacht gegen die Polizei: "Ich möchte, dass ihr es wisst: Für diesen Ring haben sie meiner Tochter am Tatort den Finger abgeschnitten. Erst nachdem wir Anzeige erstattet haben, ist dieser Ring wieder aufgetaucht."
Die Eltern wollen alle verklagen, die den Mord hätten verhindern können: "Ich will, dass alle, die für den Femizid, für den Tod von Úrsula Verantwortung tragen, dafür bezahlen. Richter, Staatsanwälte, Politiker, alle."
Sie werden den grausamen Tod ihrer Tochter Úrsula damit nicht ungeschehen machen. Aber sie kämpfen dafür, dass es anderen jungen Frauen nicht auch so ergeht, in Argentinien, dem Land, in dem die Justiz gern schläft, wenn Frauen bedroht und trotz ihrer Hilferufe ermordet werden – und das allzu oft von Polizisten.

Karen Naundorf ist Südamerikakorrespondentin des Weltreporter-Netzwerks mit Sitz in Buenos Aires. Ihre aktuelle Recherche in Zusammenarbeit mit der Fotografin Sarah Pabst wird unterstützt vom Pulitzer Center on Crisis Reporting.

Mehr zum Thema