Felltopf, Laubhütte, Kochgrube
Ameisen braten, Frösche essen, in Spinnen baden - in den Neunzigern gehörte das zum Pflichtprogramm jedes Survivaltrainings. Soweit das Klischee. Mit einem Zurück zur Natur hatten diese Mutproben auf jeden Fall wenig am Hut. Heute sieht das anders aus: Naturführer boomen, Wandern ist wieder in.
Acht Stunden Fahrt, viermal Umsteigen: Vom ICE in den IC, in den Regionalexpress – in einen Bus, der mich hoch bringt auf die Schwäbische Alb. An der verabredeten Stelle bitte ich den Fahrer zu halten: Ein einsamer Parkplatz. Links und rechts der Straßenschlucht steigen dunkle Fichten den Hang hinauf.
Zehn Minuten Fußweg, dann weitet sich der Wald zu einer Lichtung: Zwei Tipis, eine kalte Feuerstelle und ein knappes Dutzend Zelte – quer über die Wiese verteilt. Ein Handtuch flattert im Wind. Hier muss es sein. Nur die Bewohner fehlen.
Ich blicke mich suchend um, plötzlich höre ich ein Knacken am Waldrand. Ein Junge, er muss so zehn Jahre alt sein, kriecht aus dem Unterholz. Beide Hände voll mit Gräsern, Baumrinde und Tannenzapfen. Für den Zunder, sagt er knapp, lädt alles an der Feuerstelle ab und verschwindet wieder im Wald. Ich folge ihm, treffe auf die anderen. Sie sammeln Reisig vom Boden, brechen dünne Äste ab, klemmen sie sich unter den Arm. Rund 20 Erwachsene, zwischen 30 und 60, auch ein paar Kinder.
Eine Frau Anfang 30, in Jeans und Fleecepulli, schabt entschlossen Rinde von einem Baumstamm in ihre hohle Hand. Sie weiß, was sie tut. So sieht es zumindest aus.
"Ich reibe so ein bisschen an der Rinde und warte, was da so runter fällt.
Was ist das für ein Baum?
Was glaubst Du denn?
Ich würde sagen, Kiefer.
Könnte sein. Aber da habe ich eben auch so dagesessen, als wir die Besprechung hatten und habe mich gefragt: Welche Bäume haben wir denn jetzt so drumherum? Das Einzige, was ich wirklich kenne, ist Eiche. Und Birke erkennt man ja, weil das aussieht wie ein Dalmatiner. Aber sonst – keine Ahnung."
Claudia lacht unbefangen und erklärt mir, dass wir Zunder sammeln sollen – also alles, was leicht brennt: Gräser, Distelsamen, Birkenrinde, Kiefernschuppen. Schützend legt sie ihre rechte Hand über die linke. So kann nichts wegwehen.
"Es sind auf jeden Fall Gräser und Grassamen. Und die obersten Spitzen von den Samen, die haben halt so – das ist dieses Prinzip, wenn man als Kind seiner Schwester so einen Blumenstrauß machen will, das ist das. Das ist das Erste, was brennt – und das muss halt dementsprechend gut sein, aber da wir das zum ersten Mal machen: Mal gucken, was raus wird."
Claudia, im echten Leben Werbegrafikerin mit 60-Stunden-Woche, gräbt eine kleine Mulde im Boden und lehnt ein paar Stöckchen so gegeneinander, dass sie ein kleines Tipi bilden. Als Stöckchen und Reisig von alleine stehen, bettet sie behutsam ihr Knäuel aus Gräsern und Rinde ins Innere der Äste. Wildnisseminar, erste Lektion.
Zwei große, kräftige Männer, Ende 30, kommen vom Waldweg her auf die Lichtung. Gemeinsam tragen sie einen Bierkasten, der eine von beiden außerdem noch eine riesige Kühlbox. Heiko und Marc aus Hamburg. Marc packt gleich Würstchen, Senf, Grillanzünder und Sturmfeuerzeug aus der Kühlbox. Claudia lacht, schüttelt den Kopf. Nein, nein, sagt sie, das Feuer müssen wir schon selber machen. Marc schaut entgeistert, packt das Feuerzeug brav wieder ein. Ich muss an Klassenfahrten denken, an halbherzige Versuche, mit Lupe und Sonne ein Blatt zu entzünden. Dass das auch nur einmal funktioniert hat – ich kann mich nicht erinnern. Marc und Heiko haben da schon mehr Erfahrung. Behauptet zumindest Marc.
"Wir haben Erfahrung, ja. – Also für mich ist es das erste Mal, Feuer ohne Feuerzeug und Streichhölzer zu machen. – Nö, Heiko, das haben wir schon mal gemacht früher. – Ich hab’s mal mit Steinen probiert, zwei Steine zusammenzuschlagen, das hat aber nicht geklappt. Und jetzt bin ich gespannt: Das ist eine ganz neue Technik, die habe ich noch nie ausprobiert. Ja."
Nach und nach kriechen auch die anderen Seminarteilnehmer aus dem Unterholz, laden Äste, Reisig und Zunder an der Feuerstelle ab. Ein Mann mit blonden, kinnlangen Haaren, klobigen Wanderschuhen und einer Messertasche am Gürtel bittet um Ruhe: Matthias Blaß, der Wildnisführer und Seminarleiter.
Matthias kniet nieder, stellt seinen rechten Schuh auf ein Holzbrett, in das eine kleine Mulde gekerbt ist. Seit acht Jahren organisiert der 34-Jährige Wanderungen durch die Wildnis. Und seit kurzem bietet er auch Seminare an: Wie man Feuer macht ohne Streichhölzer, Essen kocht ohne Geschirr, draußen schläft ohne Zelt, sich in der Wildnis orientiert ohne Kompass. In diese Mulde im Holzbrett stellt er eine Spindel, die angespitzt ist wie ein Bleistift. Dann nimmt er die Spindel zwischen seine beiden Handflächen und reibt sie hin und her, um zu demonstrieren, wie durch die Reibung in der Mulde Glut entfacht werden soll. Ich frage mich insgeheim, was wohl schneller brennen wird: Die Blasen an seiner Hand oder die Glut? Matthias greift zu einem Bogen, an dem eine Schnur befestigt ist. Schneller geht es, sagt er, grinsend, wenn ihr die Spindel damit antreibt. Aber den müsst Ihr natürlich auch erst herstellen – so wie das gesamte Feuerbohrset. Heiko neben mir verdreht die Augen und deutet auf seinen Bauch. Er hat Hunger.
Wir beschließen, uns zu einer Gruppe zusammenzutun: Marc spaltet Holz für das Fußstück, Heiko schnitzt die Spindel, Claudia und ich basteln den Bogen. Nehmt weiches Holz dafür, sagt Matthias, das lässt sich leichter schnitzen. Also Weide, Pappel oder Fichte. Woran man jetzt noch mal die Erlen erkennt? Claudia sieht mich an, ich ziehe die Schultern hoch. Typisch Stadtkinder! Wir müssen lachen.
Seit der Schulzeit, erzählt Heiko beim Schnitzen, machen wir einmal im Jahr was zusammen. Auch weil er jetzt in München arbeitet, im Vertrieb eines großen Mobilfunkunternehmens. Survival für Manager – also doch!
"Nein, das ist auch so ein Klischee, wenn man auf so Survival, so Managerkurse geht, dass da dann Würmer gegessen werden. Das höre ich oft. Das ist wirklich ein fettes Thema: Gerade auch so unterschwellige Ängste vor Kälte und vor Ungeziefer. Aber es hat keinen Sinn an einem Wochenende, die völlig überwinden zu wollen. Weil man damit die Menschen in einen Stress bringt, der eben gerade verhindert, dass sie Kontakt zur Natur knüpfen können."
Auch Heiko und Marc sitzen nicht nur im Büro, gehen auch schon mal raus in die Natur, machen Fahrrad- oder Kanutouren.
"Also wir bewegen uns schon in der Natur. Aber das ist ja alles immer so, dass man: Raus aus der Arbeitswelt, rein ins Wochenende, rein in die Freizeit. Das geht immer so recht fix. Und jetzt hat man mal die Gelegenheit, das mal ein bisschen ruhiger anzugehen das Ganze. Diesen Stab hier zum Beispiel, den bearbeite ich jetzt seit einer halben Stunde, um daraus diesen Stab zu machen, um die Hitze zu entfachen für das Feuer. – Vor allem machst Du das in aller Ruhe. Bist überhaupt nicht hibbelig geworden, das stresst Dich auch nicht, diesen Stab zu schnitzen. – Überhaupt nicht. Das entspannt mich eher."
So sehr, dass er selbst seinen Hunger vergisst. Heiko kniet nieder, stellt seinen Fuß auf das Holzbrett, spannt die Spindel ein. Claudia und Mark fassen jeweils ein Ende des Bogens und bewegen ihn hin und her. Erst vorsichtig, dann immer schneller.
In der Mulde bildet sich schwarzer Abrieb, beginnt zu qualmen und quillt aus der Mulde hervor.
Jetzt ist Präzision gefragt: Claudia schabt das schwarze, qualmende Häufchen vorsichtig mit einer Messerspitze vom Holz, legt es aufs Zundernest und pustet. Heiko und Marc stellen sich hinter sie, pusten immer dann, wenn Claudia gerade Luft holt.
Tatsächlich: Es brennt. Stolz wie Kinder schieben wir das Zundernest in unser Minitipi, Gräser und Rinde fangen sofort Feuer, dann die Stöckchen, die Äste – das Lagerfeuer ist eröffnet.
Zwei Stunden später sitzen noch immer alle ums Feuer. Mittlerweile dämmert es, sämtliche Würstchen sind aufgegessen. Die einen unterhalten sich, andere sitzen einfach nur da und starren in die Glut. Ihre Glut. Matthias, der Leiter, verrät, warum er immer mit dem Feuermachen anfängt.
"Einmal gibt es Wärme, dann kann man es verwenden, um Essen zuzubereiten. Um Gebrauchsgegenstände herzustellen – und dann ist es noch so, dass es auch einen psychologischen Aspekt hat: Ich habe das schon öfters erlebt auf Touren, wenn es kalt geworden ist, dass die Stimmung runtergegangen ist. Wir sind das nicht mehr gewohnt, die Kälte. Und wenn man dann ein Feuer anmacht, dann geht die Stimmung sofort hoch. Eben waren noch alle pessimistisch, dass das Wetter noch lange so schlecht bleiben wird wie es ist. Und sobald das Feuer brennt, sind alle wieder zuversichtlich."
Auch die vier Kinder sind noch dabei, der kleinste Junge liegt mit dem Kopf bei seiner Mutter im Schoß. Marc macht sich das dritte Bier auf.
"Also was auch gut ist, dass hier so völlig gemischte Leute sind. Auch vom Alter her: Hier sind vielleicht so ein zwei Leute, die sind über 50. Ganz Kleine sind auch da, erste Klasse. Dass es hier so ein bunter Haufen ist irgendwo. Und die Leute auch offensichtlich aneinander Interesse haben, sich miteinander zu unterhalten. Das merkt man daran, dass sich dann alle so am Lagerfeuer zusammenfinden."
Heiko schnitzt noch immer. Nicht mehr an der Spindel, jetzt an einem Löffel. Noch ist es nur ein Holzstück. Auf dem einen Ende liegt ein rundes Stück Kohle, das die Mulde für den Löffel ausbrennen soll.
"Ja, der hat noch nicht die richtige Form! Ich teste das mal: Ist eher noch zu grob. Also ist noch nicht so richtig, wie ich ihn haben möchte. Passt in den Mund, muss ich ihn nur richtig weit aufmachen. Geht schon."
Er wird noch ein paar Stunden schnitzen müssen, um ihn ganz in den Mund zu bekommen. Macht nichts. Suppe aus dem Felltopf gibt es erst am letzten Tag.
"Ich arbeite im Vertriebsbereich, bin sehr viel bei meinen Kunden, sitze viel in Autos und halte mich eher in Büroräumen auf – und das erwarte ich mir auch von diesem Wochenende, dass wir den Tag einfach mal dazu nutzen, das Wetter zu beobachten, die ganzen Empfindungen aufzunehmen: den Wald, diese Geräusche – und da einfach mal auch ein bisschen abzuschalten."
Wetter und Wald spüren? Könnt Ihr haben, sagt Matthias und schlägt vor, heute Nacht auf die Ausrüstung zu verzichten: Kein Zelt, keine Isomatte, kein Schlafsack.
"Hier geht es ja darum, all das, was noch zwischen uns und der Natur steht, also diese Ausrüstung, hinter uns zu lassen. Und so entsteht noch mal ein viel unmittelbarer Kontakt mit den Dingen in der Natur."
Regen zum Beispiel. Damit der uns nicht überrascht, brauchen wir eine Laubhütte, die uns wie ein Zelt schützt und wärmt. Dafür ist wiederum der richtige Lagerplatz entscheidend. Ihr solltet die Hütte nicht gerade auf einem Wildwechsel bauen, erklärt Anna. Sie ist Wildnispädagogin und dieses Wochenende die rechte Hand von Matthias. Sonst trampeln euch die Rehe auf ihrem Weg zur Wasserstelle direkt übers Laubkopfkissen.
"Weil die dort wirklich wie autobahnmäßig morgens und abends, zweimal am Tag oder in der Nacht dann vorbeikommen und das ist für die wie eine Routine: Die würden dann auch direkt an dem Platz, wo man schläft, vorbeilaufen."
Schlafen direkt an der Autobahn? Nein, dafür sind wir nicht in die Wildnis gekommen. Aber woran erkenne ich bitte eine solche Rehrennstrecke? Anna schmunzelt, nickt stumm, ihr Pferdeschwanz schaukelt. Sie schaut sich kurz um und zeigt uns dann einen Pfad. Die Spuren sind klar zu erkennen: Das Laub ist platt getreten, an einigen Stellen kommt der nackte Erdboden zum Vorschein.
Auf dem Hügel angekommen suchen wir nach der Wetterseite. Das ist die Himmelsrichtung, aus der das Wetter, und vor allem der Regen kommt – hierzulande Westen. Den Eingang der Laubhütte bauen wir also auf der anderen Seite. Damit es nicht zieht. Oder reinregnet. Und stellt sie nicht gerade da auf, sagt Anna noch, wo der Boden abschüssig ist. Marc winkt ab. Das wissen wir doch längst vom Zelten, sagt er. Anna richtet eine Astgabel auf und legt einen armdicken Ast quer über die Gabel. Der Stamm reicht bis zu einem Baumstumpf. Jetzt geht’s ans Sammeln für die Seitenwände. Die Äste, die oben überstehen, sägt Heiko ab, damit der Regen nicht in die Hütte läuft.
"Wo finden wir denn die Sägen eigentlich in der Natur? – Am Sägenbaum. – Also wir sollen kein Essen mitnehmen, wir sollen kein Werkzeug mitnehmen, kein Feuer. – Sägefisch. Wir fangen einen Sägefisch und fragen ob wir seine Säge haben dürfen. – Die Säge lag hier einfach, die habe ich hier gefunden."
Das Gerüst der Hütte steht, jetzt kommt das Laub. Wie Schaufelbagger robben wir über den Waldboden, sammeln Arme voll Laub, laufen zur Hütte und schütten es über die Äste. Eine halbe Stunde lang, eine Stunde. Immer wieder. Es darf kein Lichtstrahl mehr durchkommen, befiehlt Anna. Sie breitet ein Betttuch auf der Lichtung aus, bückt sich und schaufelt in Turbogeschwindigkeit das Laub rückwärts durch ihre Beine auf das Laken. Hundetechnik, sagt sie todernst, schüttelt das Laken mit den Blättern über der Hütte aus. Damit dauert es nur vier Stunden statt sechs – wenn man alleine baut. Anna muss es wissen: Sie schläft regelmäßig im Wald.
"Ich hätte mir vor drei Jahren nicht vorstellen können, in so einer Hütte zu schlafen, und mittlerweile ist es so: Bei fünfzehn Grad habe ich angefangen, trockenes Wetter, fünfzehn Grad und mittlerweile, das letzte Mal war am 21.12., da hat es dann nachts minus sechs Grad gehabt. Allerdings mit Decke. Ich habe dann noch wegen den Insekten und wegen dem Jucken habe ich dann noch eine Decke mit rein genommen und dann war’s aber gut. Dann war’s okay, wenn ich ehrlich bin."
Draußen ist es fast dunkel, endlich ist das Dach dicht. Das Laken füllen wir mit Laub, das wird die Bettdecke. Eigentlich, sagt Anna, kriecht man in das Laub wie in einen Schlafsack – ohne Decke. Aber sie will es uns leicht machen und zieht tatsächlich noch einen Blümchenkopfkissenbezug aus der Tasche, stopft Laub rein und gibt mir das Kissen. Es fühlt sich weich an und raschelt.
Trotzdem, ich zögere. Die Laubhütte reicht mir nicht mal bis zur Hüfte, der Eingang ist gerade schulterbreit. Rückwärts, mit den Füßen voran, krieche ich hinein. Drinnen riecht es muffig. Ich lege den Kopf auf das Laubkissen, schaue aus der Öffnung, die anderen beobachten mich skeptisch. Gemütlich ist es schon, auch warm. Nur dass Ameisen meinen Nacken hochkrabbeln. Ich gebe auf, kneife. Heiko und Mark diskutieren noch.
"Heiko, wollen wir uns da reinlegen heute nacht? – Ja, wir würden da auf jeden Fall mal versuchen. Zumindest mal das Einschlafen. – Auch ohne Schlafsack. – Ob wir dann die ganze Nacht hier drin verbringen, wissen wir noch nicht. – Aber ohne Schlafsack ideal. – Wir machen da heute Nacht noch eine schöne Saunaparty hier drin."
Ich schlafe im Freien, aber mit Isomatte und Schlafsack. Am nächsten Morgen wache ich von einem Geräusch auf, das ich zunächst nicht zuordnen kann. Dann rieche ich das Lagerfeuer und weiß wieder, wo ich bin. Ich schaue auf meine Armbanduhr: Es ist gerade mal sieben.
Ich krieche aus dem Schlafsack und gehe zur Feuerstelle. Die meisten sind schon da. Ich betrachte die Gesichter rund ums Feuer: Keiner schaut verschlafen – und alle wirken ziemlich, ja: zufrieden. Auch Heiko und Mark. Obwohl sie am Abend vorher doch kneifen, doch im Zelt schlafen. Über dem Feuer steht ein Topf mit heißem Wasser. Mit einer Kelle schöpfe ich Wasser in meine Tasse und setze mich neben Matthias.
"Meine Vermutung ist, dass durch die städtische Lebensweise einfach die Sehnsucht nach Natur, nach einem einfachen Leben, dass die immer mehr anwächst, weil eben die Lebenswelt immer künstlicher wird. Die Leute immer mehr in Autos, in klimatisierten Räumen leben. Wenn sie aus einem Laden kommen, dann ist schon wieder ein Dach da von einer Einkaufspassage. Und dadurch aber auch, wie bei jedem knappen Gut, das Bedürfnis steigt, das wieder zu bekommen."
Auch wenn die Wildnis hierzulande schon recht eingezäunt ist. Um Natur zu erleben, findet er, muss man nicht unbedingt nach Kanada fahren. Die Schwäbische Alb tut es auch.
"Und ich bin auch der Meinung, dass es viel wichtiger ist, die Natur hier kennenzulernen - auch wenn sie in den Forstwäldern beeinflusst ist vom Menschen als irgendwo in Kanada. Denn die Natur hier ist die, die uns angeht."
Heiko und Marc verdrücken jeder noch schnell ein Würstchen und witzeln über Insektengerichte, weil heute ohne Töpfe und Geschirr gekocht wird. Jetzt müssen wir uns entscheiden: Entweder Kochgrube bauen oder im Felltopf kochen. Heiko und Marc entscheiden sich ohne Zögern für die Kochgrube. Das Reh für den Felltopf wollen sie dann doch nicht ausnehmen. Heiko nimmt die Schaufel, geht zum Waldrand und beginnt, eine handtuchbreite Grube auszuheben.
"Also normalerweise sieht so ein Sonntag ja anders aus, aber um 7.30 am Lagerfeuer sitzen – das ist einfach herrlich in der Gruppe. Macht auch Spaß."
Heiko gräbt, während Marc Anweisungen erteilt. Der Schweiß steht ihm auf der Stirn. Wir anderen suchen nach großen, flachen Steinen, mit denen wir die Seiten der Kochgrube auskleiden. Matthias bringt eine große Schaufel Glut vom Lagerfeuer, schüttet die Kohlen in die Grube und bettet nasses Gras in großen Büscheln darüber. Es zischt.
"Man muss rechtzeitig anfangen. Nach dem Frühstück fängt man schon, die Kochstelle fürs Mittagessen vorzubereiten."
Dann kommen, kleingeschnitten, Kartoffeln, Möhren und Hühnerfilets auf die Grasbüschel – noch mal Gras und Steine übers Essen – und zwei Stunden warten. Mindestens.
"Und dann fängst Du mindestens um zehn an, Dir Deine Laubhütte zu bauen. – Dann ist es ja schon zu spät, das haben wir doch gestern gesehen. Du brauchst ja acht Stunden alleine, zu zweit vielleicht in fünf Stunden. - Da bist Du nur beschäftigt, den ganzen Tag. Es geht um die Nahrung, um den Schutz. Das ist echt mühsam hier."
Während die Kochgrube vor sich hindampft, treibt mich die Neugier zur anderen Gruppe, die ihre Suppe in einem Felltopf kochen will. Anna säubert gerade das ausgenommene Rehfell auf einem Baumstumpf: Mit einem Messer schabt sie die letzten, weißen Sehnen von der Haut, stülpt das Fell um und näht die Enden um einen Ring, den die Gruppe aus Ästen geflochten hat. Es riecht streng. Mir wird flau.
Die Fliegen schwirren um das Fell, Anna verscheucht sie mit der linken Hand, streicht sich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht. Mehrmals rutscht ihr die Nadel an der glitschigen Haut ab. Ich muss schlucken. Als das Fell einmal um den Ring herum genäht ist, stülpt sie es zu einem Topf um und füllt Wasser hinein. Tatsächlich: Das Fell hält dicht. Anna befestigt drei Seile an dem Ring aus Ästen und hängt den Felltopf an ein selbstgebautes Dreibein. Jetzt noch die heißen Steine aus dem Feuer in den Felltopf, dazu Fleisch, Möhren, Kartoffeln. Unser Mittagessen ist schneller fertig als eures aus der Kochgrube, sagt Anna und grinst.
20 Minuten später schöpft Anna mit einer Kelle die fertige Suppe aus dem Felltopf. Ich habe noch den nassen Fellgeruch in der Nase, kneife wieder. Niemand muss, sagt Matthias gelassen, setzt sich mit seiner Schüssel in den Schatten – und isst.
"War ja jetzt eine Bonusaktion, weil wir so viele Leute waren. Normalerweise machen wir das nicht. Weil uns bewusst ist, dass es da eine Schwelle zu überschreiten gibt: Die Haut an dem Fell, das abzukratzen, das sind viele nicht gewohnt. Aber andererseits finde ich es auch gut, das mal zu machen, weil die meisten, die sich davor geekelt haben, essen ja durchaus Fleisch und waren schon am ersten Abend am Würstchen grillen."
Auch Heiko und Marc mustern den Felltopf skeptisch und setzen sich dann zu Matthias in den Schatten. Ohne Suppe. Sie wollen doch lieber auf das Essen aus der Kochgrube warten.
"Wäre nicht so mein Geschmack. – Nö, meiner auch nicht. – Sah nicht so gut aus. – Na ja, auch die ganze Zubereitung im Felltopf. Nö, das ist mir zu naturnah. – Das ist zu viel Natur. Da kriegen wir dann den Naturschock. – Das sind wir auch nicht gewöhnt. Nach einem Wochenende. – Du, wir sind noch nicht soweit. – Das hier ist ja auch ein Anfängerseminar."
Zehn Minuten Fußweg, dann weitet sich der Wald zu einer Lichtung: Zwei Tipis, eine kalte Feuerstelle und ein knappes Dutzend Zelte – quer über die Wiese verteilt. Ein Handtuch flattert im Wind. Hier muss es sein. Nur die Bewohner fehlen.
Ich blicke mich suchend um, plötzlich höre ich ein Knacken am Waldrand. Ein Junge, er muss so zehn Jahre alt sein, kriecht aus dem Unterholz. Beide Hände voll mit Gräsern, Baumrinde und Tannenzapfen. Für den Zunder, sagt er knapp, lädt alles an der Feuerstelle ab und verschwindet wieder im Wald. Ich folge ihm, treffe auf die anderen. Sie sammeln Reisig vom Boden, brechen dünne Äste ab, klemmen sie sich unter den Arm. Rund 20 Erwachsene, zwischen 30 und 60, auch ein paar Kinder.
Eine Frau Anfang 30, in Jeans und Fleecepulli, schabt entschlossen Rinde von einem Baumstamm in ihre hohle Hand. Sie weiß, was sie tut. So sieht es zumindest aus.
"Ich reibe so ein bisschen an der Rinde und warte, was da so runter fällt.
Was ist das für ein Baum?
Was glaubst Du denn?
Ich würde sagen, Kiefer.
Könnte sein. Aber da habe ich eben auch so dagesessen, als wir die Besprechung hatten und habe mich gefragt: Welche Bäume haben wir denn jetzt so drumherum? Das Einzige, was ich wirklich kenne, ist Eiche. Und Birke erkennt man ja, weil das aussieht wie ein Dalmatiner. Aber sonst – keine Ahnung."
Claudia lacht unbefangen und erklärt mir, dass wir Zunder sammeln sollen – also alles, was leicht brennt: Gräser, Distelsamen, Birkenrinde, Kiefernschuppen. Schützend legt sie ihre rechte Hand über die linke. So kann nichts wegwehen.
"Es sind auf jeden Fall Gräser und Grassamen. Und die obersten Spitzen von den Samen, die haben halt so – das ist dieses Prinzip, wenn man als Kind seiner Schwester so einen Blumenstrauß machen will, das ist das. Das ist das Erste, was brennt – und das muss halt dementsprechend gut sein, aber da wir das zum ersten Mal machen: Mal gucken, was raus wird."
Claudia, im echten Leben Werbegrafikerin mit 60-Stunden-Woche, gräbt eine kleine Mulde im Boden und lehnt ein paar Stöckchen so gegeneinander, dass sie ein kleines Tipi bilden. Als Stöckchen und Reisig von alleine stehen, bettet sie behutsam ihr Knäuel aus Gräsern und Rinde ins Innere der Äste. Wildnisseminar, erste Lektion.
Zwei große, kräftige Männer, Ende 30, kommen vom Waldweg her auf die Lichtung. Gemeinsam tragen sie einen Bierkasten, der eine von beiden außerdem noch eine riesige Kühlbox. Heiko und Marc aus Hamburg. Marc packt gleich Würstchen, Senf, Grillanzünder und Sturmfeuerzeug aus der Kühlbox. Claudia lacht, schüttelt den Kopf. Nein, nein, sagt sie, das Feuer müssen wir schon selber machen. Marc schaut entgeistert, packt das Feuerzeug brav wieder ein. Ich muss an Klassenfahrten denken, an halbherzige Versuche, mit Lupe und Sonne ein Blatt zu entzünden. Dass das auch nur einmal funktioniert hat – ich kann mich nicht erinnern. Marc und Heiko haben da schon mehr Erfahrung. Behauptet zumindest Marc.
"Wir haben Erfahrung, ja. – Also für mich ist es das erste Mal, Feuer ohne Feuerzeug und Streichhölzer zu machen. – Nö, Heiko, das haben wir schon mal gemacht früher. – Ich hab’s mal mit Steinen probiert, zwei Steine zusammenzuschlagen, das hat aber nicht geklappt. Und jetzt bin ich gespannt: Das ist eine ganz neue Technik, die habe ich noch nie ausprobiert. Ja."
Nach und nach kriechen auch die anderen Seminarteilnehmer aus dem Unterholz, laden Äste, Reisig und Zunder an der Feuerstelle ab. Ein Mann mit blonden, kinnlangen Haaren, klobigen Wanderschuhen und einer Messertasche am Gürtel bittet um Ruhe: Matthias Blaß, der Wildnisführer und Seminarleiter.
Matthias kniet nieder, stellt seinen rechten Schuh auf ein Holzbrett, in das eine kleine Mulde gekerbt ist. Seit acht Jahren organisiert der 34-Jährige Wanderungen durch die Wildnis. Und seit kurzem bietet er auch Seminare an: Wie man Feuer macht ohne Streichhölzer, Essen kocht ohne Geschirr, draußen schläft ohne Zelt, sich in der Wildnis orientiert ohne Kompass. In diese Mulde im Holzbrett stellt er eine Spindel, die angespitzt ist wie ein Bleistift. Dann nimmt er die Spindel zwischen seine beiden Handflächen und reibt sie hin und her, um zu demonstrieren, wie durch die Reibung in der Mulde Glut entfacht werden soll. Ich frage mich insgeheim, was wohl schneller brennen wird: Die Blasen an seiner Hand oder die Glut? Matthias greift zu einem Bogen, an dem eine Schnur befestigt ist. Schneller geht es, sagt er, grinsend, wenn ihr die Spindel damit antreibt. Aber den müsst Ihr natürlich auch erst herstellen – so wie das gesamte Feuerbohrset. Heiko neben mir verdreht die Augen und deutet auf seinen Bauch. Er hat Hunger.
Wir beschließen, uns zu einer Gruppe zusammenzutun: Marc spaltet Holz für das Fußstück, Heiko schnitzt die Spindel, Claudia und ich basteln den Bogen. Nehmt weiches Holz dafür, sagt Matthias, das lässt sich leichter schnitzen. Also Weide, Pappel oder Fichte. Woran man jetzt noch mal die Erlen erkennt? Claudia sieht mich an, ich ziehe die Schultern hoch. Typisch Stadtkinder! Wir müssen lachen.
Seit der Schulzeit, erzählt Heiko beim Schnitzen, machen wir einmal im Jahr was zusammen. Auch weil er jetzt in München arbeitet, im Vertrieb eines großen Mobilfunkunternehmens. Survival für Manager – also doch!
"Nein, das ist auch so ein Klischee, wenn man auf so Survival, so Managerkurse geht, dass da dann Würmer gegessen werden. Das höre ich oft. Das ist wirklich ein fettes Thema: Gerade auch so unterschwellige Ängste vor Kälte und vor Ungeziefer. Aber es hat keinen Sinn an einem Wochenende, die völlig überwinden zu wollen. Weil man damit die Menschen in einen Stress bringt, der eben gerade verhindert, dass sie Kontakt zur Natur knüpfen können."
Auch Heiko und Marc sitzen nicht nur im Büro, gehen auch schon mal raus in die Natur, machen Fahrrad- oder Kanutouren.
"Also wir bewegen uns schon in der Natur. Aber das ist ja alles immer so, dass man: Raus aus der Arbeitswelt, rein ins Wochenende, rein in die Freizeit. Das geht immer so recht fix. Und jetzt hat man mal die Gelegenheit, das mal ein bisschen ruhiger anzugehen das Ganze. Diesen Stab hier zum Beispiel, den bearbeite ich jetzt seit einer halben Stunde, um daraus diesen Stab zu machen, um die Hitze zu entfachen für das Feuer. – Vor allem machst Du das in aller Ruhe. Bist überhaupt nicht hibbelig geworden, das stresst Dich auch nicht, diesen Stab zu schnitzen. – Überhaupt nicht. Das entspannt mich eher."
So sehr, dass er selbst seinen Hunger vergisst. Heiko kniet nieder, stellt seinen Fuß auf das Holzbrett, spannt die Spindel ein. Claudia und Mark fassen jeweils ein Ende des Bogens und bewegen ihn hin und her. Erst vorsichtig, dann immer schneller.
In der Mulde bildet sich schwarzer Abrieb, beginnt zu qualmen und quillt aus der Mulde hervor.
Jetzt ist Präzision gefragt: Claudia schabt das schwarze, qualmende Häufchen vorsichtig mit einer Messerspitze vom Holz, legt es aufs Zundernest und pustet. Heiko und Marc stellen sich hinter sie, pusten immer dann, wenn Claudia gerade Luft holt.
Tatsächlich: Es brennt. Stolz wie Kinder schieben wir das Zundernest in unser Minitipi, Gräser und Rinde fangen sofort Feuer, dann die Stöckchen, die Äste – das Lagerfeuer ist eröffnet.
Zwei Stunden später sitzen noch immer alle ums Feuer. Mittlerweile dämmert es, sämtliche Würstchen sind aufgegessen. Die einen unterhalten sich, andere sitzen einfach nur da und starren in die Glut. Ihre Glut. Matthias, der Leiter, verrät, warum er immer mit dem Feuermachen anfängt.
"Einmal gibt es Wärme, dann kann man es verwenden, um Essen zuzubereiten. Um Gebrauchsgegenstände herzustellen – und dann ist es noch so, dass es auch einen psychologischen Aspekt hat: Ich habe das schon öfters erlebt auf Touren, wenn es kalt geworden ist, dass die Stimmung runtergegangen ist. Wir sind das nicht mehr gewohnt, die Kälte. Und wenn man dann ein Feuer anmacht, dann geht die Stimmung sofort hoch. Eben waren noch alle pessimistisch, dass das Wetter noch lange so schlecht bleiben wird wie es ist. Und sobald das Feuer brennt, sind alle wieder zuversichtlich."
Auch die vier Kinder sind noch dabei, der kleinste Junge liegt mit dem Kopf bei seiner Mutter im Schoß. Marc macht sich das dritte Bier auf.
"Also was auch gut ist, dass hier so völlig gemischte Leute sind. Auch vom Alter her: Hier sind vielleicht so ein zwei Leute, die sind über 50. Ganz Kleine sind auch da, erste Klasse. Dass es hier so ein bunter Haufen ist irgendwo. Und die Leute auch offensichtlich aneinander Interesse haben, sich miteinander zu unterhalten. Das merkt man daran, dass sich dann alle so am Lagerfeuer zusammenfinden."
Heiko schnitzt noch immer. Nicht mehr an der Spindel, jetzt an einem Löffel. Noch ist es nur ein Holzstück. Auf dem einen Ende liegt ein rundes Stück Kohle, das die Mulde für den Löffel ausbrennen soll.
"Ja, der hat noch nicht die richtige Form! Ich teste das mal: Ist eher noch zu grob. Also ist noch nicht so richtig, wie ich ihn haben möchte. Passt in den Mund, muss ich ihn nur richtig weit aufmachen. Geht schon."
Er wird noch ein paar Stunden schnitzen müssen, um ihn ganz in den Mund zu bekommen. Macht nichts. Suppe aus dem Felltopf gibt es erst am letzten Tag.
"Ich arbeite im Vertriebsbereich, bin sehr viel bei meinen Kunden, sitze viel in Autos und halte mich eher in Büroräumen auf – und das erwarte ich mir auch von diesem Wochenende, dass wir den Tag einfach mal dazu nutzen, das Wetter zu beobachten, die ganzen Empfindungen aufzunehmen: den Wald, diese Geräusche – und da einfach mal auch ein bisschen abzuschalten."
Wetter und Wald spüren? Könnt Ihr haben, sagt Matthias und schlägt vor, heute Nacht auf die Ausrüstung zu verzichten: Kein Zelt, keine Isomatte, kein Schlafsack.
"Hier geht es ja darum, all das, was noch zwischen uns und der Natur steht, also diese Ausrüstung, hinter uns zu lassen. Und so entsteht noch mal ein viel unmittelbarer Kontakt mit den Dingen in der Natur."
Regen zum Beispiel. Damit der uns nicht überrascht, brauchen wir eine Laubhütte, die uns wie ein Zelt schützt und wärmt. Dafür ist wiederum der richtige Lagerplatz entscheidend. Ihr solltet die Hütte nicht gerade auf einem Wildwechsel bauen, erklärt Anna. Sie ist Wildnispädagogin und dieses Wochenende die rechte Hand von Matthias. Sonst trampeln euch die Rehe auf ihrem Weg zur Wasserstelle direkt übers Laubkopfkissen.
"Weil die dort wirklich wie autobahnmäßig morgens und abends, zweimal am Tag oder in der Nacht dann vorbeikommen und das ist für die wie eine Routine: Die würden dann auch direkt an dem Platz, wo man schläft, vorbeilaufen."
Schlafen direkt an der Autobahn? Nein, dafür sind wir nicht in die Wildnis gekommen. Aber woran erkenne ich bitte eine solche Rehrennstrecke? Anna schmunzelt, nickt stumm, ihr Pferdeschwanz schaukelt. Sie schaut sich kurz um und zeigt uns dann einen Pfad. Die Spuren sind klar zu erkennen: Das Laub ist platt getreten, an einigen Stellen kommt der nackte Erdboden zum Vorschein.
Auf dem Hügel angekommen suchen wir nach der Wetterseite. Das ist die Himmelsrichtung, aus der das Wetter, und vor allem der Regen kommt – hierzulande Westen. Den Eingang der Laubhütte bauen wir also auf der anderen Seite. Damit es nicht zieht. Oder reinregnet. Und stellt sie nicht gerade da auf, sagt Anna noch, wo der Boden abschüssig ist. Marc winkt ab. Das wissen wir doch längst vom Zelten, sagt er. Anna richtet eine Astgabel auf und legt einen armdicken Ast quer über die Gabel. Der Stamm reicht bis zu einem Baumstumpf. Jetzt geht’s ans Sammeln für die Seitenwände. Die Äste, die oben überstehen, sägt Heiko ab, damit der Regen nicht in die Hütte läuft.
"Wo finden wir denn die Sägen eigentlich in der Natur? – Am Sägenbaum. – Also wir sollen kein Essen mitnehmen, wir sollen kein Werkzeug mitnehmen, kein Feuer. – Sägefisch. Wir fangen einen Sägefisch und fragen ob wir seine Säge haben dürfen. – Die Säge lag hier einfach, die habe ich hier gefunden."
Das Gerüst der Hütte steht, jetzt kommt das Laub. Wie Schaufelbagger robben wir über den Waldboden, sammeln Arme voll Laub, laufen zur Hütte und schütten es über die Äste. Eine halbe Stunde lang, eine Stunde. Immer wieder. Es darf kein Lichtstrahl mehr durchkommen, befiehlt Anna. Sie breitet ein Betttuch auf der Lichtung aus, bückt sich und schaufelt in Turbogeschwindigkeit das Laub rückwärts durch ihre Beine auf das Laken. Hundetechnik, sagt sie todernst, schüttelt das Laken mit den Blättern über der Hütte aus. Damit dauert es nur vier Stunden statt sechs – wenn man alleine baut. Anna muss es wissen: Sie schläft regelmäßig im Wald.
"Ich hätte mir vor drei Jahren nicht vorstellen können, in so einer Hütte zu schlafen, und mittlerweile ist es so: Bei fünfzehn Grad habe ich angefangen, trockenes Wetter, fünfzehn Grad und mittlerweile, das letzte Mal war am 21.12., da hat es dann nachts minus sechs Grad gehabt. Allerdings mit Decke. Ich habe dann noch wegen den Insekten und wegen dem Jucken habe ich dann noch eine Decke mit rein genommen und dann war’s aber gut. Dann war’s okay, wenn ich ehrlich bin."
Draußen ist es fast dunkel, endlich ist das Dach dicht. Das Laken füllen wir mit Laub, das wird die Bettdecke. Eigentlich, sagt Anna, kriecht man in das Laub wie in einen Schlafsack – ohne Decke. Aber sie will es uns leicht machen und zieht tatsächlich noch einen Blümchenkopfkissenbezug aus der Tasche, stopft Laub rein und gibt mir das Kissen. Es fühlt sich weich an und raschelt.
Trotzdem, ich zögere. Die Laubhütte reicht mir nicht mal bis zur Hüfte, der Eingang ist gerade schulterbreit. Rückwärts, mit den Füßen voran, krieche ich hinein. Drinnen riecht es muffig. Ich lege den Kopf auf das Laubkissen, schaue aus der Öffnung, die anderen beobachten mich skeptisch. Gemütlich ist es schon, auch warm. Nur dass Ameisen meinen Nacken hochkrabbeln. Ich gebe auf, kneife. Heiko und Mark diskutieren noch.
"Heiko, wollen wir uns da reinlegen heute nacht? – Ja, wir würden da auf jeden Fall mal versuchen. Zumindest mal das Einschlafen. – Auch ohne Schlafsack. – Ob wir dann die ganze Nacht hier drin verbringen, wissen wir noch nicht. – Aber ohne Schlafsack ideal. – Wir machen da heute Nacht noch eine schöne Saunaparty hier drin."
Ich schlafe im Freien, aber mit Isomatte und Schlafsack. Am nächsten Morgen wache ich von einem Geräusch auf, das ich zunächst nicht zuordnen kann. Dann rieche ich das Lagerfeuer und weiß wieder, wo ich bin. Ich schaue auf meine Armbanduhr: Es ist gerade mal sieben.
Ich krieche aus dem Schlafsack und gehe zur Feuerstelle. Die meisten sind schon da. Ich betrachte die Gesichter rund ums Feuer: Keiner schaut verschlafen – und alle wirken ziemlich, ja: zufrieden. Auch Heiko und Mark. Obwohl sie am Abend vorher doch kneifen, doch im Zelt schlafen. Über dem Feuer steht ein Topf mit heißem Wasser. Mit einer Kelle schöpfe ich Wasser in meine Tasse und setze mich neben Matthias.
"Meine Vermutung ist, dass durch die städtische Lebensweise einfach die Sehnsucht nach Natur, nach einem einfachen Leben, dass die immer mehr anwächst, weil eben die Lebenswelt immer künstlicher wird. Die Leute immer mehr in Autos, in klimatisierten Räumen leben. Wenn sie aus einem Laden kommen, dann ist schon wieder ein Dach da von einer Einkaufspassage. Und dadurch aber auch, wie bei jedem knappen Gut, das Bedürfnis steigt, das wieder zu bekommen."
Auch wenn die Wildnis hierzulande schon recht eingezäunt ist. Um Natur zu erleben, findet er, muss man nicht unbedingt nach Kanada fahren. Die Schwäbische Alb tut es auch.
"Und ich bin auch der Meinung, dass es viel wichtiger ist, die Natur hier kennenzulernen - auch wenn sie in den Forstwäldern beeinflusst ist vom Menschen als irgendwo in Kanada. Denn die Natur hier ist die, die uns angeht."
Heiko und Marc verdrücken jeder noch schnell ein Würstchen und witzeln über Insektengerichte, weil heute ohne Töpfe und Geschirr gekocht wird. Jetzt müssen wir uns entscheiden: Entweder Kochgrube bauen oder im Felltopf kochen. Heiko und Marc entscheiden sich ohne Zögern für die Kochgrube. Das Reh für den Felltopf wollen sie dann doch nicht ausnehmen. Heiko nimmt die Schaufel, geht zum Waldrand und beginnt, eine handtuchbreite Grube auszuheben.
"Also normalerweise sieht so ein Sonntag ja anders aus, aber um 7.30 am Lagerfeuer sitzen – das ist einfach herrlich in der Gruppe. Macht auch Spaß."
Heiko gräbt, während Marc Anweisungen erteilt. Der Schweiß steht ihm auf der Stirn. Wir anderen suchen nach großen, flachen Steinen, mit denen wir die Seiten der Kochgrube auskleiden. Matthias bringt eine große Schaufel Glut vom Lagerfeuer, schüttet die Kohlen in die Grube und bettet nasses Gras in großen Büscheln darüber. Es zischt.
"Man muss rechtzeitig anfangen. Nach dem Frühstück fängt man schon, die Kochstelle fürs Mittagessen vorzubereiten."
Dann kommen, kleingeschnitten, Kartoffeln, Möhren und Hühnerfilets auf die Grasbüschel – noch mal Gras und Steine übers Essen – und zwei Stunden warten. Mindestens.
"Und dann fängst Du mindestens um zehn an, Dir Deine Laubhütte zu bauen. – Dann ist es ja schon zu spät, das haben wir doch gestern gesehen. Du brauchst ja acht Stunden alleine, zu zweit vielleicht in fünf Stunden. - Da bist Du nur beschäftigt, den ganzen Tag. Es geht um die Nahrung, um den Schutz. Das ist echt mühsam hier."
Während die Kochgrube vor sich hindampft, treibt mich die Neugier zur anderen Gruppe, die ihre Suppe in einem Felltopf kochen will. Anna säubert gerade das ausgenommene Rehfell auf einem Baumstumpf: Mit einem Messer schabt sie die letzten, weißen Sehnen von der Haut, stülpt das Fell um und näht die Enden um einen Ring, den die Gruppe aus Ästen geflochten hat. Es riecht streng. Mir wird flau.
Die Fliegen schwirren um das Fell, Anna verscheucht sie mit der linken Hand, streicht sich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht. Mehrmals rutscht ihr die Nadel an der glitschigen Haut ab. Ich muss schlucken. Als das Fell einmal um den Ring herum genäht ist, stülpt sie es zu einem Topf um und füllt Wasser hinein. Tatsächlich: Das Fell hält dicht. Anna befestigt drei Seile an dem Ring aus Ästen und hängt den Felltopf an ein selbstgebautes Dreibein. Jetzt noch die heißen Steine aus dem Feuer in den Felltopf, dazu Fleisch, Möhren, Kartoffeln. Unser Mittagessen ist schneller fertig als eures aus der Kochgrube, sagt Anna und grinst.
20 Minuten später schöpft Anna mit einer Kelle die fertige Suppe aus dem Felltopf. Ich habe noch den nassen Fellgeruch in der Nase, kneife wieder. Niemand muss, sagt Matthias gelassen, setzt sich mit seiner Schüssel in den Schatten – und isst.
"War ja jetzt eine Bonusaktion, weil wir so viele Leute waren. Normalerweise machen wir das nicht. Weil uns bewusst ist, dass es da eine Schwelle zu überschreiten gibt: Die Haut an dem Fell, das abzukratzen, das sind viele nicht gewohnt. Aber andererseits finde ich es auch gut, das mal zu machen, weil die meisten, die sich davor geekelt haben, essen ja durchaus Fleisch und waren schon am ersten Abend am Würstchen grillen."
Auch Heiko und Marc mustern den Felltopf skeptisch und setzen sich dann zu Matthias in den Schatten. Ohne Suppe. Sie wollen doch lieber auf das Essen aus der Kochgrube warten.
"Wäre nicht so mein Geschmack. – Nö, meiner auch nicht. – Sah nicht so gut aus. – Na ja, auch die ganze Zubereitung im Felltopf. Nö, das ist mir zu naturnah. – Das ist zu viel Natur. Da kriegen wir dann den Naturschock. – Das sind wir auch nicht gewöhnt. Nach einem Wochenende. – Du, wir sind noch nicht soweit. – Das hier ist ja auch ein Anfängerseminar."