Felix Mendelssohn Bartholdy und seine geistliche Musik

Von Arne Reul · 07.11.2009
Seine musikalische Ausbildung erhielt Felix Mendelssohn Bartholdy vor allem bei Carl Friedrich Zelter, dem Direktor der Berliner Singakademie. Hier wurde Mendelssohn mit Kirchenmusik konfrontiert, die einen wesentlichen Teil seines kompositorischen Repertoires ausmacht. Die Auseinandersetzung mit Mendelssohns geistlicher Musik gehört zu unserer Kirchen- und Kulturgeschichte.
Kai Uwe Jirka: "1791 gründet sich in Berlin eine Singakademie mit eben gerade der Aufgabe die Kirchenmusik oder die heilige Musik wieder ernst zu nehmen und ihr einen Raum zu geben und das reagiert natürlich, dieses Unternehmen, auf die desaströse Lage der Kirchenmusik in Berlin zu der Zeit: Schlechte Chöre, schlechte Kantoren, Repertoireschwierigkeiten. Und da überblendet sich jetzt diese Italiensehnsucht der Frühromantiker.

Und das bedeutendste Werk kirchenmusikalisch in dieser Zeit ist sicherlich sein sechzehnstimmiges ‚Hora est’, was in der Sechzehnstimmigkeit Bezug auf Italien nimmt und in seiner ganzen Anlage her, vier Chöre singen im Wechselspiel - genau dieses Italienmoment aufnimmt. Dieses Werk ist in der Singakademie uraufgeführt worden in seinen jungen Jahren und begeistert besprochen worden von seinem Freund Adolph Bernhard Marx – ein ganz wichtiger Beitrag zu einer, sagen wir mal im weitesten Sinne, kirchlichen Musik, um jetzt den Begriff Kirchenmusik nicht zu benutzen."

Professor Kai Uwe Jirka, Direktor der Singakademie zu Berlin. Man braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, wie in diesem "Hora est" die Menschen zur frühen Stunde von einem Männerchor geweckt werden, bei dem es sich um Mönche handeln könnte.

Das Aufstehen lohnt sich, denn nun - so der lateinische Text - erheben die Gläubigen ihre Augen zu Christus, um in ihm das wahre Licht zu erkennen.

Mendelssohn komponiert das "Hora est" 1828 im Alter von 19 Jahren. Er erreicht hier eine satztechnische Komplexität, die er auch später nie mehr übertroffen hat; 16 Stimmen kreieren eine glanzvolle Kontrapunktspirale.

Der junge Mendelssohn hat Glück, denn als Mitglied der von Karl Friedrich Zelter geleiteten Singakademie zu Berlin steht ihm ein vorzüglicher Chor zur Verfügung. Und der ist aufgeschlossen dafür, seine experimentierfreudigen Werke wie das "Hora est" aufzuführen.

Kai Uwe Jirka: "Dann kommen die Frauenstimmen dazu – das war ja das besondere der Singakademie, zum ersten mal durften da Frauen und Männer gemeinsam singen. Das war ja vorher streng getrennt und diese Klanglichkeit der Frauenstimmen, die nun auch die Weite des Alls und einen großen Himmel klanglich eröffnen, die nutzt der junge Mendelssohn gleichauf.

In der Abfolge der vier Chöre nacheinander erkennen wir wieder das Palestrina-Modell: alle vier Himmelsrichtungen, Welt und Erde umspannend, die Idee einer Musik die eigentlich auch im All, auf der ganzen Welt klingt. Und das hat Mendelssohn ganz intuitiv vielleicht auch, aber auch natürlich in Zelters Archiv studiert."


Kai Uwe Jirka leitet seit drei Jahren die Singakademie zu Berlin. Dem Erbe Mendelssohns fühlt man sich hier sehr verpflichtet. Der junge Mendelssohn erlebt hier eine reges Geistesleben, das weit über das reine Musikmachen hinausgeht.

Kai Uwe Jirka: "Und natürlich ist die Singakademie damals als Idealgemeinschaft so konzipiert gewesen, wie Zelter selber sagte, es ist die ideale Gemeinde eigentlich. Es sind hier Juden, es sind Christen, es sind Atheisten – natürlich alles Bürger, das ist vielleicht ein Ausschlusskriterium für soziale Randgruppen – aber jetzt einfach mal von der Ideenwelt her. Was wurden dort für Vorträge gehalten, Humboldt! Alle haben dort gesprochen, ein riesengroßer geistiger Kosmos, Schleiermacher, Theologen waren dort, also dort fanden am Rande der Proben - wahrscheinlich auch in den Proben – Gespräche über Kunst, Wissenschaft, eigentlich im idealen Sinne einer Akademie statt und der junge Felix war dort zu Hause."
Bereits im Alter von zehn Jahren bekommt Mendelssohn, zusammen mit seiner Schwester Fanny, Kompositionsunterricht bei Carl Friedrich Zelter, dem Leiter der Singakademie. Nach dem Muster der Werke von Haydn und Mozart, lernen die Kinder, eigene Musik zu komponieren. Gleichzeitig legt man besonderen Wert darauf, ihnen den mehrstimmigen Satz anhand der Fugen von Bach zu vermitteln. Mendelssohn verdankt seine handwerkliche und künstlerische Meisterschaft auch dieser soliden Ausbildung. Das Komponieren von geistlicher Musik nimmt dabei einen besonderen Stellenwert ein. Mendelssohn geniest das Privileg, seine noch tintenfeuchten Chorwerke sogleich von der Singakademie aufführen zu lassen. Und der junge Schüler macht rasante Fortschritte. Im Alter von 13 Jahren vertont er zum Beispiel das Abendgebet "Jube Domne", Lobsinget dem Herrn, für zwei vierstimmige Chöre.

Das "Jube Domne" ist Bestandteil der katholischen Liturgie, es zeigt, wie unkonventionell man in der Berliner Singakademie mit der konfessionellen Zugehörigkeit umgeht. Mendelssohn komponiert Musik für verschiedene Glaubensrichtungen unter anderem für Lutheraner, Hugenotten, Anglikaner und Katholiken. Doch lässt sich Mendelssohns Musik nicht ohne weiteres in den Rahmen eines Gottesdienstes stellen. Der Komponist selbst hat bei dieser Vorstellung Bedenken. In einem Brief an einen befreundeten Prediger schreibt Mendelssohn 1835:

"Eine wirkliche Kirchenmusik, das heißt für den evangelischen Gottesdienst, die während der kirchlichen Feier ihren Platz fände, scheint mir unmöglich, und zwar nicht bloß, weil ich durchaus nicht sehe, an welcher Stelle des Gottesdienstes die Musik eingreifen sollte, sondern weil ich mir überhaupt diese Stelle gar nicht vorstellen kann. Bis jetzt weiß ich nicht, wie es zu machen sein sollte, dass bei uns die Musik ein integrierender Teil des Gottesdienstes, und nicht bloß ein Konzert werde, das mehr oder weniger zur Andacht anrege. So ist auch die Bach’sche Passion gewesen; sie ist als selbstständiges Musikstück zur Erbauung in der Kirche gesungen worden."

Mendelssohn erwähnt hier die Passionswerke von Bach, die damals nur wenige Menschen kannten. Nur einige Jahre zuvor vollzieht sich ein epochemachendes Ereignis. Am 11. März 1829 führt die Berliner Singakademie, nach Jahrzehnte langem Vergessen, Bachs Matthäuspassion erstmalig wieder auf - unter der Leitung von Felix Mendelssohn Bartholdy!

Durch diese Pioniertat erwachen Bachs große kirchenmusikalischen Werke aus ihrem Dornrösschenschlaf – erst jetzt wird Bach einem breiten Publikum zum Begriff. Die Bach-Pflege und die Identifizierung der Deutschen mit Bach, nimmt hier ihren Ausgang. Schon bald wird die Matthäuspassion zum Symbol des protestantischen Idealkunstwerkes.


Schaut man in die Familiengeschichte der Mendelssohns, ist man zunächst erstaunt darüber, dass sich gerade der junge Felix so nachhaltig für die protestantischen Werke von Bach einsetzt. Mendelssohn ist Spross einer jüdischen Familie. Sein Großvater war der mit Lessing befreundete Philosoph Moses Mendelssohn, der wesentlichen dazu beitrug, das Verständnis zwischen Juden und Christen zu fördern. Mit der Figur "Nathan der Weise" hat Lessing ihm ein bleibendes Denkmal gesetzt. Doch das einvernehmliche Nebeneinander von Juden und Christen ist für die nachfolgende Generation gefährdet. 1816 heißt es in einer Verlautbarung des preußischen Finanzministeriums:

"Es wäre zu wünschen, wir hätten gar keine Juden im Lande. Die wir einmal haben, müssen wir dulden, aber unablässig bemüht sein, sie möglichst unschädlich zu machen. Der Übertritt der Juden zur christlichen Religion muss erleichtert werden, und mit dem sind alle staatsbürgerlichen Rechte verknüpft. Solange der Jude aber Jude bleibt, kann er keine Stellung im Staate einnehmen."

Noch im selben Jahr wird Felix im Alter von sieben Jahren getauft. Damit ist er Mitglied der neuen christlich-protestantischen Kirche, der sogenannten "Union". Ihr gehört auch die Familie des preußischen Hofes an. Für Dorothea Wendebourg, Professorin für Kirchengeschichte an der theologischen Fakultät in Berlin, ist die religiöse Zuordnung von Felix Mendelssohn, der nach der Taufe den Zusatznahmen Bartholdy erhält, daher eindeutig.

Dorothea Wendebourg: "”Man kann bei ihn meines Erachtens nicht von einer Konversion sprechen, wie im Falle seiner Eltern, sondern er wird einfach damit hineingenommen. Er wächst als Christ dann auf und bekennt sich vollständig.
Die Eltern Mendelssohns haben wirklich einen Schritt getan und er ist in diesen Schritt mit hinein genommen worden. Er ist eigentlich nicht Jude gewesen der konvertiert wäre. Dass er andererseits ein Interesse hat an der Herkunftsreligion seiner Familie, das ist auch klar, auch an alttestamentlichen Stoffen. Andererseits ist das auch wiederum nichts Neues, das machen auch Christen - also ich wäre ganz vorsichtig mit dem Versuch zu bemessen, was ist da jüdisch, was ist da christlich. Mendelssohn war ein Christ und zwar bewusst ein protestantischer Christ – er steht meines Erachtens voll in dieser Tradition.""

Es fällt relativ leicht, Mendelssohns Bekenntnis zum Protestantismus in seinen geistlichen Werken bestätigt zu finden. Insbesondere seine Liebe zum Choral, die er durch die intensive Beschäftigung mit Bach gewann, wäre hier zu nennen. Zwischen 1828-1832 vertont Mendelssohn Bartholdy, ohne jeglichen Auftrag, eine ganze Serie von Choralkantaten. Auf seinen vielen Reisen, die er in dieser Zeit unternimmt, ist das Lutherische Liederbuch sein ständiger Begleiter. Von Luthers Dichtung fühlt er sich magisch angezogen, aus Italien schreibt er:

"Wie da jedes Wort nach Musik ruft, wie jede Strophe ein anderes Stück ist, wie überall ein Fortschritt, eine Bewegung, ein Wachsen sich findet, das ist gar zu herrlich und ich komponierte hier mitten in Rom sehr fleißig daran."

Dorothea Wendebourgh: "”Das hatte natürlich zu tun erstens mit der Bachrenaissance, die er ja nun wieder der Öffentlichkeit präsentiert. Da haben wir Choräle dabei. Das gilt als alter Stil, aber als einen alten Stil, den man bewusst will. Und das passt dann natürlich in diese liturgischen Reformen um 1830 wunderbar hinein. Da greift man ja auch zurück auf das ältere Gut, was man in der Reformationszeit hat. Und in diesem Zusammenhang nimmt man eben auch die Blüte des Chorals im 16. Jahrhundert zur Kenntnis und macht sie fruchtbar.""

Mendelssohn bearbeitet zum Beispiel auch den aus dem 17. Jahrhundert stammenden Choral "O Haupt voll Blut und Wunden", den Bach in seiner Matthäuspassion an prominenter Stelle immer wieder erklingen lässt. So wird, dank Mendelssohn Bartholdy, eine zunächst eher unzeitgemäße Gattung neu belebt.

Kai Uwe Jirka: "Diese großartigen Choralkantaten; wer hat in dieser Zeit Choralkantaten geschrieben? Bestes Beispiel ‚O Haupt voll Blut und Wunden’, dieser ganz alte Gerhardt-Text, die alte Melodie, was macht Mendelssohn? Er lässt den Cantus Firmus, die Melodie liegen, verdoppelt sie mit Flöten, Oboen, Klarinetten: eine echte romantische Farbmischung - und den Cantus Firmus. Und jetzt im Unterbau des Orchesterapparates: geteilte Bratschen, geteilte Celli, drunter die Kontrabässe. Was für ein Spektrum eines 8stimmigen, streng geführten Satzes entsteht da! Und gleichzeitig ist die Harmonik extrem frühromantisch und dieses Überblenden von alter kontrapunktischer Kunst mit frühromantischer Klanglichkeit, ist für mein Empfinden absolut singulär. Und das macht was ganz Besonderes aus, des jungen Mendelssohns."

Wie ein roter Faden durchzieht die Beschäftigung mit dem Choral Mendelssohns weiteres Leben und Schaffen. 1833 tritt er mit 24 Jahren die Stellung des Musikdirektors in Düsseldorf an. In dieser Funktion ist er auch für die Kirchenmusik zuständig, und die ist im Rheinland vor allem katholisch. Da sich Mendelssohn für die altitalienische Kirchenmusik fasziniert, kommt ihm dies durchaus gelegen. Er beschäftigt sich wieder mit Palestrina und entdeckt Orlando di Lasso und Pergolesi. Gleichzeitig führt er sakrale Werke von Mozart, Haydn und Beethoven auf. Und er arbeitet an einem Oratorium, das der evangelischen Kirchenmusik neue Maßstäbe geben soll: Paulus.

"Außer dem innern Kern die tiefreligiöse Gesinnung, die sich überall ausspricht, betrachte man all das Musikalisch-Meisterlich-Getroffene, diesen edlen Gesang, diese Vermählung des Wortes mit dem Ton, die Anmut, die über das ganze wie hingehaucht ist, diese Frische, dieses unauslöschliche Kolorit in der Instrumentation, des vollkommen ausgebildeten Stiles, des meisterlichen Spielens mit allen Formen der Setzkunst nicht zu gedenken."

So schwärmt Robert Schumann über den Paulus, der 1836 beim Niederrheinischen Musikfest in Düsseldorf uraufgeführt wird.
Mendelssohn erzielt mit seinem Paulus einen sensationellen Erfolg. Bei Musikfesten in ganz Deutschland wird das Oratorium aufgeführt. Mehr noch: in Dänemark, Holland, Polen Russland und sogar in den USA gewinnt der Paulus ein begeistertes Publikum. Schon bald ist Mendelssohn der berühmteste Musiker Europas.
Ähnlich wie in Bachs Matthäuspassion verwendet Mendelssohn den Choral an prominenter Stelle. Höhepunkt ist hierbei neben dem "Wachet auf Choral", der immer wieder erklingt, sicherlich der Luther-Choral "Wir glauben all an einen Gott". Das Luthersche Credo verwandelt Mendelssohn in eine komplexe Chorfuge.

Das zentrale Thema des Oratoriums ist die Bekehrung des Paulus zum Christentum und seine nachfolgende missionarische Arbeit. Paulus, der als strenggläubiger Jude noch den Namen Saulus trägt, verfolgt die Christen. Aber auf dem Weg nach Damaskus, so die Legende, hört er die Stimme von Jesus mit den Worten "Saul, warum verfolgst du mich?" Daraufhin bekennt er sich zum Christentum und wird als Paulus zum wichtigsten Missionar des neuen Glaubens. Mendelssohns Vertonung dieser Stelle ist ein musikalischer Geniestreich und auch theologisch sehr aufschlussreich. Wie soll man die Stimme von Jesus darstellen? Bach verwendet in seiner Matthäuspassion einen sonoren Bass.

Doch bei ihm ist Jesus noch handelnde Figur innerhalb des dramatischen Geschehens und nicht die Stimme einer inneren Anrufung. Mendelssohn mag sich des jüdischen Darstellungsverbotes von Gott erinnert haben. Er verwendet einen ätherisch anmutenden Frauenchor, der in seiner Klanglichkeit etwas Überirdisches hat.

"Mit dem Paulus war Mendelssohn nicht nur voll ins internationale Rampenlicht getreten, das Oratorium war auch die Erfüllung eines tiefen Pflichtgefühls gegenüber dem Vater. Abraham Mendelssohns Ziel der Assimilation war nun – so schein es jedenfalls – in einem bedeutenden Oratorium triumphal umgesetzt worden, dessen Thematik auch den spirituellen Weg seiner Familie beschrieb. Die Stimme des Apostels fand auf diese Weise auf verschiedenen Ebenen Gehör: Sie sprach die deutsche Öffentlichkeit während des Epoche der Restauration an, in der man auf der Suche nach nationalen Kultursymbolen war, und sie sprach die deutschen Protestanten an, die sich ihrer religiösen Wurzeln versicherten. Und nicht zuletzt sprach sie zu einem 28-jährigen Komponisten, der sich an der Quelle protestantischer Musik bediente und daran spirituell wachsen wollte."


So beschreibt der Mendelssohn-Biograph Larry Todd die Bedeutung des "Paulus". Zehn Jahre später sollte Mendelssohn mit seinem zweiten Oratorium, Elias, den Erfolg des Paulus sogar noch steigern.

Man darf bei Mendelssohns geistlicher Musik, die zahlreichen Psalmvertonungen nicht vergessen, deren Texte aus dem Alten Testament stammen. Der Komponist selber hielt unter diesen Werken seine Vertonung des 42. Psalms "Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, so schreit meine Seele Gott zu dir" für die Gelungenste.

Robert Schumann sah in diesem Werk die "höchste Stufe, die die neuere Kirchenmusik überhaupt erreicht hat" und lobt die geniale Mischung aus musikalischer Kraft und Innerlichkeit. Für den Musikwissenschaftler Martin Geck schließlich ist dieses Werk dem "Deutschen Requiem" von Johannes Brahms ebenbürtig.

Obwohl der Psalm dramatisch Gott anruft und sogar seine Existenz hinterfragt, verströmt Mendelssohns Musik eine Art unerschütterliches Gottvertrauen – bei ihm ist die inneren Zerrissenheit künstlerisch bereits beantwort.

1847 stirb Mendelssohn im Alter von nur 38 Jahren. Viele seiner Werke geraten relativ schnell in Vergessenheit, denn mit der Revolution von 1848 beginnt ein neuer Zeitgeist in Deutschland.

Das Nationale und Heroische wird zum Ideal erhoben, schon bald setzten sich die Opern von Richard Wagner durch, dessen Heldengestalten den deutschen Sagen entnommen sind. Wagners Aufsatz "Das Judentum in der Musik" von 1850 trägt wesentlich zur Ächtung und Diffamierung Mendelssohns bei. Sein antisemitisches Vokabular wurde dann von den Nationalsozialisten aufgegriffen. In der Zeit von 1933 bis 1945 wurde Mendelssohns Musik als "entartet" eingestuft, öffentliche Aufführungen waren verboten. So hat es auch lange gedauert, Mendelssohn nach dem Zweiten Weltkrieg zu rehabilitieren.

Kai-Uwe Jirka: "Und ein Vergessen von Mendelssohn bedingt durch die Nazizeit natürlich, wo das Werk verband wird, mit einem nicht absehbaren Flurschaden. Wie natürlich andere Komponisten auch, aber bei Mendelssohn ist es jetzt besonders signifikant und es hat lange gedauert bis nach dem Zweiten Weltkrieg. Also die Mendelssohnwerke waren wirklich aus dem Bewusstsein verschwunden der Chöre, der Kirchenmusiker, die ja manchmal etwas langsamer reagieren, aber wenn es dann vergessen ist, ist es vergessen. Und da brauchte es sensible Chorerzieher, wie Uwe Gronostay, wie viele andere, die nach dem Zweiten Weltkrieg mit Klangkörpern, die in der Lage waren dieses Erbe wieder zu heben. Und plötzlich begann eine große Mendelssohnrenaissance und fand Eingang in die Chöre."

Die Wiederentdeckung des Repertoires von Mendelssohn, insbesondere seiner geistlichen Musik, ist noch lange nicht abgeschlossen. Die erwähnten Psalmvertonungen und Choralkantaten etwa, warten immer noch darauf, von einem breiteren Publikum gehört zu werden. Die Aufführung seiner Musik ist dabei nicht einfach. Die Herausforderung liegt darin die Reinheit und Schönheit seiner Musik zur Wirkung zu bringen und gleichzeitig die gehaltvollen Texte verständlich zu machen. Für Kai-Uwe Jirka aber gibt es kaum eine Musik, die - wie er sagt – so dem Menschen zugewandt ist. Es bleibt also noch viel zu tun.

Kai Uwe Jirka: "Aber wenn man jetzt gerade den besonderen Schwerpunkt auf Kirchenmusik Mendelssohns legt, dann muss man sich diese Aufgabe auch stellen heute. Das muss sich der Chorleiter auch bewusst sein, ich mein er hat ja an so vielen Fronten zu kämpfen. Er muss ja nicht nur überhaupt für Mendelssohn argumentieren in einem Kirchenvorstand, der dann vielleicht sagt: ‚Ist doch völlig antiquiert, will heute keine mehr hören.’ Der Rechtfertigungsdruck für den Kirchenmusiker heute ist da ja immens und er muss gute Argumente haben, um das überhaupt darzustellen und dann auch noch gut zu machen. Also keine beneidenswerte Aufgabe. Aber wenn die Musik so gut ist, dann lohnt sich das Kämpfen auch dafür und zu sagen ‚Nein das ist wichtig!’"