Feldarbeit, Feiern und Flirten

Von Christine Frick-Gerke · 05.04.2005
Ludwig Schirmer, damals junger Müllermeister im thüringischen Berka, fotografierte in den fünfziger Jahren Menschen, die er kannte. Die Bilder zeigen sie bei der Feldarbeit, beim Feiern und Flirten. Die Fotos, die in der Ausstellung "zu hause" in der Berliner Akademie der Künste zu sehen sind, wurden in Schirmers Nachlass entdeckt.
Ein junger Mann und eine junge Frau, beide die Arme in die Hüften gestemmt, stehen da und betrachten ein Ereignis außerhalb des Bilds. Zwei Gesichter blicken in die gleiche Richtung – seins neugierig, ihrs Stirn runzelnd, fragend. Gern wüsste man, was die beiden sehen und was sie miteinander zu reden haben.

Mit dieser Schwarz-Weiß-Fotografie wirbt die Akademie für die Schau der frühen Arbeiten Ludwig Schirmers; Bilder, die eine Welt wieder erwecken – auch für seine Tochter, die Fotografin und Kuratorin der Ausstellung, Ute Mahler, die auf manchen dieser Fotos zu sehen ist.

" Es fing ja so an, als ich da in dem sehr umfangreichen fotografischen Nachlass meines Vaters 2001 angefangen habe zu ordnen, zu sortieren, überhaupt erstmal zur Kenntnis zu nehmen, habe ich ein Foto entdeckt, und dieses eine Foto war das Bild von einem kleinen Mädchen, was einen Baum hochklettert (und an dem Baum sind keine Blätter, der Baum steht auch nicht im Garten). Und dann war so plötzlich, ganz plötzlich war wieder alles da: Dieses Gefühl von Frühling, von Ostern, von Kindheit einfach. Ich habe dann noch mehr Fotos gefunden, auf denen ich drauf bin, und habe dann irgendwann gesagt, wunderschöne Familienfotos, und irgendwann habe ich dann ein Foto entdeckt, was weit, weit, weit darüber hinausging."

Magische Momente: Das kletternde Mädchen bezwingt den Baum mit einer großen Umarmung. Es trägt noch Winterwollstrümpfe. Am Himmel schon Gut-Wetter-Wolken und am Boden das erste Grün.

Oder: Vier junge Männer stehen dem Fotografen zugewandt in Reih und Glied auf einem schmalen Steg am Fluss. Wie Scherenschnitte im Märchen spiegeln sich ihre Silhouetten im Wasser. Zigarettenpause beim Dorffest?

Oder: Eine Reihe Jugendlicher auf Campingstühlen; junge Männer nebeneinander - einer schaut ganz träumerisch, und im Vordergrund, hingegossen, sitzt eine junge Frau mit einem Tuch um den Kopf wie eine Madonna. Vielleicht findet hier nur ländliches Open-Air-Kino statt.

Die Bilder dieser Ausstellung tragen keine Titel – umso mehr regen sie die Erinnerung und auch die Fantasie der Betrachter an. Schirmer verleiht seinen Sujets etwas Schwebendes,
hebt sie vom Boden des Alltäglichen ab. Dabei hat er mit einfachsten Mitteln fotografiert.

" Ich glaube, er hatte eine Contax als Kleinbildkamera und eine Primaflex als Sechs-ma-sechs-Kamera. Er hat mit beiden Systemen gearbeitet. (…) Er hatte überhaupt keine Vorbildung. Er kannte keine großen Fotografen, keine großen Namen, er kannte auch keine Ausstellungen. Irgendwie muss das so in ihm gewesen sein. Die einzige Hilfe, die er hatte, war der Fotograf, der Passbildfotograf in der Kreisstadt, der ihm technische Tipps gegeben hat. Also, er muss diese große Leidenschaft gehabt haben und hat sich dann bei Fotowettbewerben beteiligt, hat dann immer mal einen Preis gewonnen. "

Poesie des Alltäglichen: Ein Brautpaar steigt aus einem Kleinbus, auf der unbefestigten Straße sind Blumen gestreut. Der Bräutigam trägt weiße Handschuhe. Die Braut in Weiß könnte schöner nicht sein.

Oder: Ein zärtliches Paar an einem Hauseingang. Er legt seine Hand behutsam an ihre Wange, sie blickt versunken ins Objektiv. Beide tragen Karnevalshüte.

Oder: Ein Mann mit offizieller Kopfbedeckung – vielleicht der Briefträger –, versucht einer Frau mit Schürze einen Kuss auf den Mund zu drücken. Im Fenster lacht eine Zuschauerin.
Ludwig Schirmers Aufnahmen haben einen eigenen Klang: Kirmesmusik, Zurufe, Gelächter; die Fotografierten sprechen dem Fotografen ins Bild. Der war damals, wie es die Familientradition erwartete, noch junger Müllermeister im thüringischen Berka, wohnte mit seiner Familie in der Dorfmühle. Seine Tochter Ute Mahler hat das alles miterlebt. Erstaunlich für sie ist der Gegensatz zu seinen späteren, immer inszenierten Objektfotos und Künstlerporträts.

" Die Bilder sind leicht, sie sind warm. Sie sind nicht so deutsch durchdacht, kompliziert. Es sind natürlich auch ein paar problematische dabei, das ist keine Frage, sonst wäre es ja auch vielleicht zu langweilig, wenn es jetzt nur diese heile, scheinbar heile Welt wäre. Es sind schon problematische Dinge auch dort festgehalten. Aber ich glaube, er hatte nicht diese Berührungsängste, weil er dazugehörte. (…) Es gibt so einige wenige, wo er politische Ereignisse festgehalten hat. Da gibt es nicht soviel Material, aber die (…) haben schon zwei Ebenen."

Frühe DDR: Die Volkspolizei salutiert stramm vor neugierig-skeptischem Publikum.

Oder: Junge Pioniere: Kinder schwenken gebastelte Friedenstauben. Ein männlicher Zuschauer müht sich, den gutgelaunten Aufmarsch in die passende Richtung zu dirigieren.

Oder: Junge Frauen, in Sommerkleidern und Söckchen, leisten den Fahneneid vor einer deutschen Fahne ohne DDR-Emblem.

Bemerkenswert ist, wie dicht und dabei unaufdringlich der Fotograf seine Motive vor die Kamera bekommen hat. Dabei wird sein großes, fast übermütiges Talent überdeutlich. Ludwig Schirmer zeigt keine Idylle. Auch nicht Heimat in ihrer selbstquälerischen Dimension. Er zeigt ein Zuhause.

" Ich glaube, es sind Leute in einem Dorf in Deutschland. Dass es Nachkriegszeit ist, sieht man wenig. Also vielleicht hat es auch damit zu tun, dass auf dem Land die Kriegsspuren nicht so erkennbar waren wie in den Städten. Und ich behaupte einfach, dass in dieser Zeit, Anfang der fünfziger Jahre, ein Dorf in Franken und ein Dorf in Thüringen sich unwesentlich von einander unterschieden. "

Service:

Die Ausstellung "zu hause. Fotografien Ludwig Schirmer. Berka 1950-1960" ist vom 7. April bis 26. Juni 2005 in den alten Räumen der Berliner Akademie der Künste im Hanseatenweg zu sehen. Zur Schau ist unter dem gleichen Titel ein Buch erschienen - herausgegeben von Schirmers Tochter, der Fotografin und Kuratorin der Ausstellung, Ute Mahler, und ihrem Mann Werner Mahler.