Endlichkeit

Kommentar: Feigheit vor dem Nichts

04:39 Minuten
Ein gelber Totenkopf grinst als Wandbild zwischen zwei Fenstern.
Menschen stellen alle möglichen Dinge an, um eine Bedeutung zu erlangen, die das bloße Da- oder Dagewesensein transzendiert, sagt Florian Goldberg. © picture alliance / Wolfram Steinberg / Wolfram Steinberg
Ein Einwurf von Florian Goldberg · 01.02.2024
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Dass unser Leben endlich ist, verdrängen wir gern. Bis uns ein Todesfall darauf stößt. Plötzlich erscheinen auch die großen Akteure der Weltgeschichte gezeichnet von einer Art Feigheit vor dem Nichts.
Vor ein paar Tagen ist Felix gestorben. Ein stiller, freundlicher Mann aus dem Seitenflügel unseres Kreuzberger Mietshauses. Mit langen, etwas dünn und vor allem schneeweiß gewordenen Locken, die an seine Jugend im alternativen Berlin der 70er-Jahre gemahnten.
Wir hatten nicht viel miteinander zu tun. Außer dass ich vor gut zehn Jahren einen fast neuen, feuerroten Daunenanorak zu vergeben hatte, den Felix gern übernahm. Fortan war der Anorak das auffälligste, was es für mich an ihm zu bemerken gab. Zumindest im Winter. Wenn wir uns sahen, grüßten wir uns. Sehr selten wechselten wir weitere Worte. Nun ist er tot. Prostatakrebs.

Was bleibt, wenn wir sterben

Bald werden neue Leute in seine 60 Quadratmeter eingezogen sein. Wahrscheinlich eine vierköpfige Familie, froh, im überfüllten Berlin einen Platz gefunden zu haben, und dann auch noch so zentral.
In ein paar weiteren Wochen wird man Felix ganz vergessen haben. Wie jeden anderen von uns auch. Es bleibt ein wenig Nachleben in der Erinnerung von Familie, Freunden, Bekannten, das spätestens mit deren Tod ebenfalls erlischt.
Zugleich erscheinen Neuankömmlinge auf der Bildfläche, die sich verwundert die Augen reiben und sich fragen, was sie mit der verstörenden Tatsache ihres Daseins denn nun anfangen sollen. Dann treffen sie ein paar wilde, bescheuerte Entscheidungen, die sie im Laufe ihres Lebens langsam und schmerzhaft wieder korrigieren müssen. Oder sie studieren Betriebswirtschaft. So ist das.
Was man davon hält, ist eine andere Sache. Meistens eher nichts. Daher stellen Menschen alle möglichen Dinge an, um eine Bedeutung zu erlangen, die das bloße Da- oder Dagewesensein transzendiert. Einige schreiben Gedichte, andere gründen Unternehmen, wieder andere überfallen ganze Länder oder erschießen John Lennon. Je nachdem. Hauptsache, jemand erinnert sich.

Alles für die Aufnahme ins Mordbrenner-Pantheon

Da es sich mit dem so genannten wahren Leben nicht viel anders verhält als mit Facebook oder Youtube, sprich der dümmste Content die meisten Klickzahlen generiert, standen Mord und Totschlag in der Menschheitsgeschichte immer recht hoch im Kurs. Vor allem bei Leuten, die keine Zeit oder kein Talent für anstrengendere Beschäftigungen wie Kopf- oder Herzensbildung hatten.
Hier führt eine direkte Linie von den diversen Caligulas, Hitlers und Stalins bis hin zu deren jüngeren Geschwistern im Ungeist, die sich zurzeit daran abarbeiten, ins erinnerungsträchtige Mordbrenner-Pantheon aufgenommen zu werden.
Man könnte es als eine Art „Feigheit vor dem Nichts“ bezeichnen, die bei dieser Personengruppe besonders ausgeprägt scheint. Aber wie gesagt, jede und jeder kämpft mit den eigenen Windmühlen. Und sich gegen die Option entschieden zu haben, gelegentlich Blutbäder anzurichten, löst noch lange nicht das Problem.
Als weitere Schwierigkeit kommt hinzu, dass es für um Redlichkeit bemühte Geister so gut wie unmöglich geworden ist, bei den Religionen wenigstens eine Art Trost zu suchen. Wie sollte das auch gehen, wenn in deren Namen fortwährend gelogen, gehetzt, missbraucht und ebenfalls gemordet wird - egal, welche man nun genauer unter die Lupe nimmt.

Verantwortung für uns selbst und füreinander

Aber vielleicht ist das Ganze ja gar kein Problem, das gelöst, sondern schlicht eine Tatsache, die konstatiert werden muss: Das Leben an sich ist bedeutungslos. Wir sind einen Moment lang da, dann wieder fort. Im Grunde kein Drama. Sofern wir uns entscheiden wollten, die gegebene Zeit sinnvoller zu nutzen, als einer Bedeutung nachzujagen, die sich am Ende doch als Schimäre erweist.
Dieser Sinn wäre freilich von nirgendwo gegeben. Wir wären frei, ihn zu setzen, anstatt ihm ausgesetzt zu sein. In dieser Freiheit läge die Verantwortung, die wir für uns selbst und füreinander hätten. Vielleicht führte diese Einsicht zu einem behutsameren Zugang zu unserer Mitwelt als der Not, sie unserem Willen zu unterwerfen. Stille und Freundlichkeit? Vielleicht kein schlechter Anfang.

Florian Goldberg lebt als freier Autor, Executive Coach und philosophischer Berater für Menschen aus Wirtschaft, Politik und Medien in Berlin. Er hat Essays und Hörspiele und mehrere Bücher veröffentlicht. Im Künstlerduo „tauchgold“ entstehen zusammen mit Heike Tauch interdisziplinäre Hör- und Bühnenstücke.

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