Feier des weiblichen Genitals

09.06.2009
Die Untersuchung von Mithu M. Sanyal, Journalistin und Autorin indisch-polnischer Abstammung, unternimmt den Versuch, eine Kulturgeschichte des weiblichen Geschlechts zu erzählen. In "Vulva. Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts" spannt sie einen historischen Bogen von den alten Göttinnen bis in unsere Zeit.
Eine "kleine Kulturgeschichte des Abendlandes anhand der Darstellung des weiblichen Genitales in Alltag, Folklore, Medizin, Mythologie, Literatur und Kunst" will die Publikumsfassung von Mithu M. Sanyals kulturwissenschaftlichen Dissertation über die Vulva sein. Und in der Tat spannt sie einen kühnen Bogen von prähistorischen Göttinnen (Baubo) über Adams Verführerin Eva, die christliche Muttergottes, die biblische Maria Magdalena, die indische Göttin Kali und die irische Fee Morgan bis hin zu Salome und von dieser geradewegs zu Striptease-Tänzerinnen der 1920er und 1930er Jahre, zu den Riot Girls, Annie Sprinkle, feministischen Künstlerinnen der 1970er und 1980er Jahre und schließlich zu Vulva-Kissen in Überlebensgröße, die man an die Wand hängen und streicheln kann, wie die Autorin begeistert konstatiert.

Die Vulva ist der äußerlich sichtbare Teil des weiblichen Geschlechtsorganes, der sich in Vagina, Eierstöcken und Gebärmutter fortsetzt und immer wieder ignoriert oder fälschlicherweise als Vagina bezeichnet wurde. Was verschwiegen wird, existiert nicht: Mit dem Stigma der vorgeblichen Unsichtbarkeit und Unaussprechlichkeit behaftet, haben Frauen Jahrhunderte lang angeblich kein Geschlecht gehabt – nur ein Loch, ein Nichts.

Erstaunlich, dass in einer Zeit, in der Genitalverschönerungen via OP kein Tabu mehr sind, ein Buch über die Vulva den Anspruch erhebt, Neuland zu betreten. Offensichtlich ist es nach Jahren feministischer Aufklärungsarbeit immer noch nicht (oder nicht mehr) selbstverständlich, über die weiblichen Geschlechtsorgane zu sprechen oder sie gar positiv ins weibliche Selbstbild zu integrieren.

Am Ende ihrer Ausführungen stellt Sanyal überrascht fest, dass vor fast 40 Jahren bei Germaine Greer "schon alles da war". In der Tat. Wichtige ihrer Vorläuferinnen hat Sanyal schlicht nicht zur Kenntnis genommen. Dazu zählen auch jene Feministinnen, die in den 1970er und 1980er Jahren Selbstuntersuchungen durchführten, d.h. ihre Geschlechtsorgane entdeckten und erforschten und darüber schrieben. Es fehlt erstaunlicherweise jede Erwähnung des US-amerikanischen Kulturhistorikers Thomas Laqueur, der in "Making Sex" (1990; dt.: Auf den Leib geschrieben, 1996) die Geschichte der Geschlechtsorgane und der Sexualität von der Antike bis Freud aufgearbeitet hat. Immerhin zitiert Sanyal ausgiebig Heide Göttner-Abendroth, deren Thesen vom Matriarchat freilich nicht unumstritten sind.

Phantasievoll verbindet die Autorin vieles mit vielem, und sie breitet eine beeindruckende Fülle von Material aus. Jedoch: Bezeugt das oft belegte Lachen oder Erschrecken derjenigen, die die Vulva erblicken, tatsächlich eine positive Auffassung des weiblichen Geschlechts? Oder: Ist es tatsächlich revolutionär oder subversiv, wenn eine Frau, die in einer patriarchalen Kultur per definitionem als Objekt angeblickt wird, sich und ihre Geschlechtsorgane freiwillig den Blicken von Männern darbietet? Solche Urteile spiegeln die naive postfeministische Überzeugung wider, Frauen bestimmten längst völlig autonom über sich selbst und implizit über die Sexualität der Männer. Daran mag man zweifeln. Und ganz sicher ist die Feier der Vulva kein Mittel gegen den nach wie vor grassierenden Sexismus unserer Kultur.

Lesenwert ist dieses Buch trotzdem, weil es in scheinbar aufgeklärten Zeiten unverkrampft eine mittlerweile wieder vergessene Tradition in Erinnerung ruft.

Besprochen von Gertrud Lehnert

Mithu M. Sanyal: Vulva. Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts
Wagenbach Verlag, Berlin 2009
240 Seiten, 19,90 EUR