FDP-Vize Brüderle: Große Koalition macht "stümperhafte Reformpolitik"
Der stellvertretende Vorsitzende der FDP, Rainer Brüderle, hat der Bundesregierung vorgeworfen, bei den erforderlichen Reformen "Zeit verplempert" zu haben. Brüderle sprach sich für Steuersenkungen und für eine weitere Liberalisierung des Arbeitsmarktes aus. Der Wirtschaftswissenschaftler Heinz-Josef Bontrup hingegen warnte davor, die "gigantische Umverteilung" fortzusetzen.
Jörg Degenhardt: Die gute Nachricht: Die Verbraucher in Deutschland, sie blicken wieder optimistischer in die Zukunft – und das trotz anhaltender Turbulenzen auf den Finanzmärkten und trotz hoher Energie- und Lebensmittelpreise. Die Gesellschaft für Konsumforschung in Nürnberg hat das herausgefunden und mitgeteilt. Weniger angenehm klingt, was gleichfalls gestern alternative Ökonomen verkündet haben. Sie sehen keinen Anhaltspunkt dafür, dass der private Konsum deutlich ansteigen könnte. Sie sehen sogar die Gefahr einer Rezession. Wie real die ist und ob wir eine andere Wirtschaftspolitik brauchen, dazu nun ein Streitgespräch.
Brauchen wir also eine neue Wirtschaftspolitik und wie kann oder sollte die aussehen? Das soll jetzt Thema in einem Streitgespräch sein. Dazu begrüße ich einerseits den Wirtschaftsrechtler und Alternativökonom Heinz-Josef Bontrup. Guten Morgen Herr Bontrup!
Heinz-Josef Bontrup: Guten Morgen Herr Degenhardt!
Degenhardt: Und Rainer Brüderle, den stellvertretenden Vorsitzenden der FDP. Guten Morgen Herr Brüderle!
Rainer Brüderle: Guten Morgen Herr Degenhardt!
Degenhardt: An Sie gleich die erste Frage, Herr Brüderle, gewissermaßen zur Standortbestimmung. Vor kurzem war noch die Rede von Vollbeschäftigung, zumindest von der Möglichkeit in Deutschland. Jetzt hören wir Rezession, wachsende Armut. Sind das Schwarzweißmalereien?
Brüderle: Es ist an allem ein bisschen was dran. In der Tat sind Gewitterwolken erkennbar, ausgehend von der Immobilienkrise USA, aber auch Schwächen in der eigenen Wirtschaftspolitik. Die Diagnosen in dem Gutachten sind ja weitgehend richtig. Die Schlussfolgerung teile ich nicht, denn was man dort vorschlägt (gigantische Schuldenprogramme, Verstärkung der Wirtschaftsdemokratie, sprich gewerkschaftlicher Mitbestimmung) halte ich nicht für die Wege, die die Situation bessern. Wir müssen einiges anders tun in der Wirtschaftspolitik. Soziale Marktwirtschaft wird zu wenig beachtet.
Degenhardt: Entschuldigung, Herr Brüderle. Dazu kommen wir vielleicht noch. – Ich möchte gerne noch bei der Zustandsbeschreibung bleiben. Sie geben selbst das Stichwort mit der sozialen Marktwirtschaft. Würden Sie da einer Vertrauenskrise in die soziale Marktwirtschaft sprechen?
Brüderle: Die ist in Teilen da. Die Umfragen zeigen es insbesondere in den neuen Bundesländern mit einem hohen Prozentsatz bis zu 70 Prozent, dass das Vertrauen nicht da ist, aber auch in den alten Bundesländern hat es abgenommen, weil viele Fehlentwicklungen festzustellen sind. Wir haben Fehler. Wir haben zu wenig Binnennachfrage. Das teile ich mit den Autoren. Aber die Schlussfolgerung teile ich nicht. Die Ursache ist zum Beispiel die Mehrwertsteuererhöhung, wo man 23 Milliarden weggesteuert hat. Der Staat nimmt zu viel weg. Das verfügbare private Einkommen ist gesunken. Ich hatte durch eine Umfrage im Bundestag die Regierung um Auskunft gebeten, wie es sich in den letzten Jahren entwickelt hat. Es ist um 0,4 Prozent gesunken. Das ist natürlich eine Schwachstelle in der wirtschaftlichen Entwicklung, jenseits auch der Gerechtigkeitsfrage, wie man die anpacken will.
Degenhardt: Bevor wir natürlich noch zu den Schlussfolgerungen kommen, Herr Bontrup, wer ist denn aus Ihrer Sicht Schuld am jetzigen Zustand, dass wir uns doch Sorgen machen müssen, ob nicht möglicherweise wirtschaftlich schwierige und sozial problematische Zeiten auf uns zukommen?
Bontrup: Wir als Arbeitsgruppe alternative Wirtschaftspolitik, wir sagen das ja seit 30 Jahren. Das war ja auch in Ihrer Anmoderation zu hören. Wir halten grundsätzlich den wirtschaftspolitischen Kurs, der neoliberal ausgerichtet ist: nur die Märkte sollen noch regieren, alles soll nur noch auf Wettbewerb ausgerichtet sein, der Staat soll zurückgedrängt werden, die Löhne müssen gesenkt werden, die Steuern müssen gesenkt werden. Die Ergebnisse sehen wir ja seit Jahren. Wir haben dafür Massenarbeitslosigkeit uns eingefangen. Wir haben mittlerweile eine tief gespaltene Gesellschaft in arm und reich. Die Reichen sind reicher geworden, die Armen sind noch ärmer geworden. Kinderarmut in unserem Land! Ich hätte es ja vor zehn Jahren noch nicht geglaubt, dass eine Friedrich-Ebert-Stiftung feststellt, dass acht Prozent der deutschen Bevölkerung mittlerweile als "abgehängtes Prekariat" bezeichnet wird. Die Wissenschaftler haben lange überlegt, was "abgehängt" bedeutet. Abgehängt bedeutet, nie mehr da rauszukommen, nicht nur materiell abgehängt zu sein, kulturell abgehängt zu sein, von der Bildung abgehängt zu sein. Das ist ein Skandal in unserem Land und ich empfinde es mittlerweile als unerträglich, geradezu zynisch, wie Politiker sich daher stellen können und sagen, wir haben jetzt einen Aufschwung.
Degenhardt: Meinen Sie damit auch Herrn Brüderle?
Bontrup: Nein. Herrn Brüderle meine ich persönlich damit nicht.
Degenhardt: Auch gerade wenn Sie Neoliberale ansprechen und deren Verantwortung.
Bontrup: Ja, natürlich! Die FDP hat dort auch einen Großteil Schuld, weil sie natürlich auch in ihrer Grundausrichtung neoliberal ausgerichtet ist. Die FDP fordert ja auch seit Jahren "Löhne müssen gekürzt werden, die Steuern müssen gesenkt werden". Und Herr Brüderle, die Ergebnisse sehen wir. Wir haben vor dem Hintergrund der Globalisierung doch zwei wesentliche Dinge zur Kenntnis zu nehmen. Wenn man weltweit die Globalisierung nimmt, dann hat Politik uns auch immer versprochen, das wird für alle positiv ausgehen. Das tut es aber nicht. Die reichen Länder, wenn wir das mal auf die Volkswirtschaften beziehen, sind noch reicher geworden und die armen Länder, Entwicklungsländer sind noch ärmer geworden. Und in den reichen Ländern haben wir auch eine zweite Spaltung bekommen. In den reichen Ländern sind auch die Reichen und Vermögenden reicher geworden und die Armen sind ärmer geworden. Eine Zahl muss ich jetzt wirklich noch sagen, welche gigantische Umverteilung wir in unserem Land haben. Wenn Sie sich nur mal anschauen – und das ist ja für uns Ökonomen der Indikator – die gesamtwirtschaftliche Bruttolohnquote. Das ist die Verteilung. Das heißt das ist das Einkommen, was von der Wertschöpfung die abhängig Beschäftigten bekommen haben. Wenn wir die Lohnquote nur aus dem Jahr 2000 noch hätten, dann hätten im letzten Jahr 2007 die abhängig Beschäftigten in unserem Land 118 Milliarden Euro mehr an Einkommen gehabt. Diese 118 Milliarden, da sich nun mal immer Lohnquote und Gewinnquote in einer Volkswirtschaft zu 100 Prozent ergänzen, sind abgeflossen zu den Unternehmereinkommen und zu den Einkommen, die wir als Vermögenseinkommen bezeichnen. Das zeigt die gigantische Umverteilung. Das ist im Grunde des Pudels Kern. Darin liegt unsere Krise begründet und wenn wir dort nicht zur Besinnung kommen, dann werden wir unser Land noch weiter vor die Wand fahren.
Degenhardt: Herr Brüderle, fühlen Sie sich angesprochen als "Neoliberaler"?
Brüderle: Herr Degenhardt, das war jetzt ein fast fünfminütiger Monolog statt Streitgespräch von Herrn Bontrup. Ich hoffe, ich habe genauso lange Gelegenheit, auch meine Auffassung darzulegen.
Degenhardt: Nur zu!
Brüderle: Sonst ist es ja kein Streitgespräch, sondern eine einseitige Darstellung eines Gutachtens, was relativ wenig Beachtung in der Öffentlichkeit findet.
Bontrup: Das ist ja das Schlimme!
Brüderle: Darf ich mal ausreden? Sie haben die ganze Zeit ja nur wie ein Wasserfall geredet.
Degenhardt: Herr Brüderle, bitte.
Brüderle: Dann machen Sie eine einseitige Sendung. Dann steige ich da aus. – Das ist ja ein Wust von Vorwürfen und von persönlichen Wertungen und Fehldiagnosen. Die FDP war nicht für Lohnkürzungen. Wir sind dafür, dass eine Marktöffnung geschieht, damit wir durch Produktivitätserreichungen auch neue Arbeitsplätze schaffen können, was ja in Teilen gelungen ist – noch nicht hinreichend -, aber die Politik geht ja in Deutschland in die falsche Richtung. Wir sind gerade dabei, bei der Post mit anderen Mitteln ein Monopol fortzusetzen. Da können keine neuen Arbeitsplätze entstehen, wenn die Post weiter von Mehrwertsteuer befreit wird, 19 Prozent Vorteil hat, weil die anderen 19 Prozent Mehrwertsteuer zahlen müssen, Mindestlöhne so hoch festgesetzt werden, dass überhaupt kein Wettbewerb entstehen kann.
Und jetzt auch zu sagen, weltweit ist alles nur schlechter geworden. – Viele Länder haben erheblichen Aufstieg vorangebracht. Schauen Sie nach China, schauen Sie nach Indien, schauen Sie nach anderen Ländern. Die sind durchaus vorangekommen. Probleme haben wir in Afrika. Das hat aber auch andere Ursachen. Das sind auch interne Regime. Gucken Sie von Simbabwe bis sonst was, welche gesellschaftlichen Strukturen dabei sind.
In Deutschland haben wir auch Fehlentwicklungen, aber schauen Sie mal, wo bei den großen Konzernen die Fehlentwicklungen sind. Das sind alles paritätisch mitbestimmte Betriebe, bei VW 50 Prozent Mitbestimmung. Dort ist der Betriebsrat ins Bordell geführt worden. Bei Mannesmann, bei Siemens, das sind alles paritätisch mitbestimmte Betriebe mit Fehlentwicklungen. Deshalb, weil sich dort inzwischen eine Kaste zwischen Managern und Gewerkschaftsfunktionären entwickelt hat, die quasi auch die Managergehälter auskungeln, aushandeln, die Eigentümerrechte (nämlich die sitzen ja in der Hauptversammlung drin) immer wieder weiter geschwächt wurden. Dort wird nicht entschieden, wo die Eigentümer sind, und dann schwächt man Schritt für Schritt die Mechanismen der sozialen Marktwirtschaft und sagt, das System funktioniert nicht.
"Neoliberal" ist ja ein plakativer Begriff, der unsinnig ist. Neoliberal war ja die Antwort auf die Nazi-Zeit von Eugen von Hayek und anderen. Die haben die soziale Marktwirtschaft ordnungspolitisch begründet. Das ist heute von den Linken völlig deformiert und umgedreht worden, als ob das eine verbrecherische Vereinigung wäre.
Degenhardt: Sie haben gesagt, Herr Brüderle ganz kurz noch die Zwischenfrage, die Politik gehe in die falsche Richtung. Es gibt auch von Ihnen das Zitat "mutige Reformen sind mehr als ein mutiges Dekolleté". Das war gemünzt auf das tief ausgeschnittene Kleid der Kanzlerin, das für Aufsehen gesorgt hat. Auf welchen Reformfeldern ist denn Ihrer Meinung nach Frau Merkel zu zögerlich?
Brüderle: Wir müssen erstens in der Breite Steuern senken. Das verfügbare Einkommen ist zu gering. Wir müssen Steuern vereinfachen. Das versteht keiner mehr. Wir sind überreglementiert in Deutschland. Wir haben nicht den Freiraum für hinreichende Existenzgründungen und Erweiterungen. Wir haben eine gespaltene Wirtschaft. Global Player können ausweichen. Die gehen nach Osteuropa und in andere Länder. Der deutsche Mittelstand ist in einer Art DDR light eingesperrt. Der braucht faire Chancen der Entwicklung. Wir müssen wirklich auch dauerhaft soziale Sicherungssysteme reformieren. Das geschieht ja nicht. In der Gesundheitspolitik wird ja nur Mist gemacht. Jetzt hat man mit dem Gesundheitsfonds noch ein System oben draufgesetzt. Wie soll daraus, wenn man zwei Bürokratien schafft, eine effektivere und preiswertere Lösung dabei entstehen? Das kann man fortsetzen. In der Pflegeversicherung sind die Probleme nicht gelöst. Man hat zurecht die Demenzerkrankung mit erfasst, aber hat die Finanzierung nicht dauerhaft gesichert. Das ist eine stümperhafte Reformpolitik. In einer relativ guten Phase der deutschen Volkswirtschaft hat man die Zeit verplempert, durch Reformprozesse den Standort zu stärken. Wir können ja keine neue Mauer um Deutschland herum bauen; wir müssen uns dem europäischen Wettbewerb und dem weltweiten Wettbewerb stellen. Wenn man Europa erweitert, neue Länder aufnimmt wie Rumänien und Bulgarien, hat das natürlich Konsequenzen auf die Verteilung.
Degenhardt: Herr Brüderle, jetzt hatten Sie ein gehöriges Maß an Redezeit. An Sie, Herr Bontrup, damit verbunden auch die Frage: demokratische Wirtschaft, das ist Ihre Idee. Die sieht ein bisschen anders aus. Aber gibt es auch Punkte bei Herrn Brüderle, wo Sie sagen würden okay, da gehe ich mit ihm konform?
Bontrup: Bei dem Mittelstand hat Herr Brüderle sicherlich Recht, dass die Global Player, die Großkonzerne über immer mehr Marktmacht verfügen und dass da auch gigantische Umverteilungen von Gewinnen laufen, dass die großen Konzerne den kleinen Mittelstand benachteiligen. Wenn ein Mittelständler zum Beispiel Zulieferer ist, dass der dann über Nachfragemacht ausgebeutet wird, da bin ich mit ihm vollkommen konform. In den anderen Punkten überhaupt nicht! Fangen wir mal mit der Mitbestimmung an. Herr Brüderle sagt, wir haben Mitbestimmung in unserem Land. Das stimmt ja nicht. Wir haben keine paritätische Mitbestimmung. Die gibt es allenfalls im Montanmitbestimmungsgesetz, die 76er Mitbestimmung. Da hat der Aufsichtsratsvorsitzende, der immer von der Kapitalseite gestellt wird, bei Pattsituationen schon mal eine doppelte Stimme. Also da ist einfach die Gewerkschaft hinten dran. Und bei der betrieblichen Mitbestimmung, da gibt es überhaupt keine Form der wirtschaftlichen Mitbestimmung. Das ist eindeutig falsch, was Herr Brüderle dort eben ausgeführt hat.
Ich will einen anderen Gedanken noch mal hier hinein bringen. Wenn hier immer argumentiert wird, die Löhne sind zu hoch – das haben Sie eben gesagt, Herr Brüderle -, auch vor dem Hintergrund der Produktivitätsentwicklung. Und da haben Sie sicherlich Recht; das müssen wir relativieren. Der richtige Terminus Technikus sind ökonomisch natürlich immer die Lohnstückkosten. Da liegt Deutschland, wenn wir uns mal den Trend der letzten Jahre angucken, vor Japan an unterster Stelle. Das heißt, wir sind international wettbewerbsfähig. Das haben Sie auch betont; das sehe ich auch so.
Brüderle: Wir haben ja auch Erfolge!
Bontrup: Richtig! Ansonsten wären wir auch nicht Exportweltmeister. Eines gebe ich aber zu bedenken: Wenn wir immer mehr die Löhne senken, um damit die Produktivität, also die Menschen, die eine relativ schlechte Produktivität haben, in den Markt reinzuholen, dann kommt es auch immer mehr dazu, dass immer weniger Kapital eingesetzt wird, weil dort ein Substitutionsprozess stattfindet. Das kann natürlich dann dazu führen, dass insgesamt die Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft damit in Mitleidenschaft gezogen wird.
Degenhardt: Herr Bontrup, das war jetzt Ihre Redezeit. Wir müssen auch ein bisschen auf die Nachrichten aufpassen. Das letzte Wort soll jetzt Herr Brüderle haben.
Brüderle: Es ist eines richtig, dass wir Produktivitätssteigerung brauchen. Wir müssen in Weiterbildung, in Qualifizierung hinein gehen. Und denjenigen, die zu schwach sind, um mit dem Einkommen eine hinreichende Lebensbasis zu haben, die im Schatten stehen, werden wir aus der Solidargemeinschaft helfen müssen. Immer noch besser, zwei Drittel seines Lebenseinkommens durch Arbeit zu haben, ein Drittel Sozialtransfer, als 100 Prozent Arbeitslosigkeit und 100 Prozent Sozialtransfer.
Degenhardt: Meine Herren, ich bedanke mich für das wie ich fand spannende Gespräch, das geradezu nach einer Fortsetzung schreit. – Das waren FDP-Vize Rainer Brüderle und der Professor für Wirtschaftswissenschaften Heinz-Josef Bontrup über neue Möglichkeiten oder Möglichkeiten einer neuen, einer anderen Wirtschaftspolitik. Vielen Dank meine Herren!
Brauchen wir also eine neue Wirtschaftspolitik und wie kann oder sollte die aussehen? Das soll jetzt Thema in einem Streitgespräch sein. Dazu begrüße ich einerseits den Wirtschaftsrechtler und Alternativökonom Heinz-Josef Bontrup. Guten Morgen Herr Bontrup!
Heinz-Josef Bontrup: Guten Morgen Herr Degenhardt!
Degenhardt: Und Rainer Brüderle, den stellvertretenden Vorsitzenden der FDP. Guten Morgen Herr Brüderle!
Rainer Brüderle: Guten Morgen Herr Degenhardt!
Degenhardt: An Sie gleich die erste Frage, Herr Brüderle, gewissermaßen zur Standortbestimmung. Vor kurzem war noch die Rede von Vollbeschäftigung, zumindest von der Möglichkeit in Deutschland. Jetzt hören wir Rezession, wachsende Armut. Sind das Schwarzweißmalereien?
Brüderle: Es ist an allem ein bisschen was dran. In der Tat sind Gewitterwolken erkennbar, ausgehend von der Immobilienkrise USA, aber auch Schwächen in der eigenen Wirtschaftspolitik. Die Diagnosen in dem Gutachten sind ja weitgehend richtig. Die Schlussfolgerung teile ich nicht, denn was man dort vorschlägt (gigantische Schuldenprogramme, Verstärkung der Wirtschaftsdemokratie, sprich gewerkschaftlicher Mitbestimmung) halte ich nicht für die Wege, die die Situation bessern. Wir müssen einiges anders tun in der Wirtschaftspolitik. Soziale Marktwirtschaft wird zu wenig beachtet.
Degenhardt: Entschuldigung, Herr Brüderle. Dazu kommen wir vielleicht noch. – Ich möchte gerne noch bei der Zustandsbeschreibung bleiben. Sie geben selbst das Stichwort mit der sozialen Marktwirtschaft. Würden Sie da einer Vertrauenskrise in die soziale Marktwirtschaft sprechen?
Brüderle: Die ist in Teilen da. Die Umfragen zeigen es insbesondere in den neuen Bundesländern mit einem hohen Prozentsatz bis zu 70 Prozent, dass das Vertrauen nicht da ist, aber auch in den alten Bundesländern hat es abgenommen, weil viele Fehlentwicklungen festzustellen sind. Wir haben Fehler. Wir haben zu wenig Binnennachfrage. Das teile ich mit den Autoren. Aber die Schlussfolgerung teile ich nicht. Die Ursache ist zum Beispiel die Mehrwertsteuererhöhung, wo man 23 Milliarden weggesteuert hat. Der Staat nimmt zu viel weg. Das verfügbare private Einkommen ist gesunken. Ich hatte durch eine Umfrage im Bundestag die Regierung um Auskunft gebeten, wie es sich in den letzten Jahren entwickelt hat. Es ist um 0,4 Prozent gesunken. Das ist natürlich eine Schwachstelle in der wirtschaftlichen Entwicklung, jenseits auch der Gerechtigkeitsfrage, wie man die anpacken will.
Degenhardt: Bevor wir natürlich noch zu den Schlussfolgerungen kommen, Herr Bontrup, wer ist denn aus Ihrer Sicht Schuld am jetzigen Zustand, dass wir uns doch Sorgen machen müssen, ob nicht möglicherweise wirtschaftlich schwierige und sozial problematische Zeiten auf uns zukommen?
Bontrup: Wir als Arbeitsgruppe alternative Wirtschaftspolitik, wir sagen das ja seit 30 Jahren. Das war ja auch in Ihrer Anmoderation zu hören. Wir halten grundsätzlich den wirtschaftspolitischen Kurs, der neoliberal ausgerichtet ist: nur die Märkte sollen noch regieren, alles soll nur noch auf Wettbewerb ausgerichtet sein, der Staat soll zurückgedrängt werden, die Löhne müssen gesenkt werden, die Steuern müssen gesenkt werden. Die Ergebnisse sehen wir ja seit Jahren. Wir haben dafür Massenarbeitslosigkeit uns eingefangen. Wir haben mittlerweile eine tief gespaltene Gesellschaft in arm und reich. Die Reichen sind reicher geworden, die Armen sind noch ärmer geworden. Kinderarmut in unserem Land! Ich hätte es ja vor zehn Jahren noch nicht geglaubt, dass eine Friedrich-Ebert-Stiftung feststellt, dass acht Prozent der deutschen Bevölkerung mittlerweile als "abgehängtes Prekariat" bezeichnet wird. Die Wissenschaftler haben lange überlegt, was "abgehängt" bedeutet. Abgehängt bedeutet, nie mehr da rauszukommen, nicht nur materiell abgehängt zu sein, kulturell abgehängt zu sein, von der Bildung abgehängt zu sein. Das ist ein Skandal in unserem Land und ich empfinde es mittlerweile als unerträglich, geradezu zynisch, wie Politiker sich daher stellen können und sagen, wir haben jetzt einen Aufschwung.
Degenhardt: Meinen Sie damit auch Herrn Brüderle?
Bontrup: Nein. Herrn Brüderle meine ich persönlich damit nicht.
Degenhardt: Auch gerade wenn Sie Neoliberale ansprechen und deren Verantwortung.
Bontrup: Ja, natürlich! Die FDP hat dort auch einen Großteil Schuld, weil sie natürlich auch in ihrer Grundausrichtung neoliberal ausgerichtet ist. Die FDP fordert ja auch seit Jahren "Löhne müssen gekürzt werden, die Steuern müssen gesenkt werden". Und Herr Brüderle, die Ergebnisse sehen wir. Wir haben vor dem Hintergrund der Globalisierung doch zwei wesentliche Dinge zur Kenntnis zu nehmen. Wenn man weltweit die Globalisierung nimmt, dann hat Politik uns auch immer versprochen, das wird für alle positiv ausgehen. Das tut es aber nicht. Die reichen Länder, wenn wir das mal auf die Volkswirtschaften beziehen, sind noch reicher geworden und die armen Länder, Entwicklungsländer sind noch ärmer geworden. Und in den reichen Ländern haben wir auch eine zweite Spaltung bekommen. In den reichen Ländern sind auch die Reichen und Vermögenden reicher geworden und die Armen sind ärmer geworden. Eine Zahl muss ich jetzt wirklich noch sagen, welche gigantische Umverteilung wir in unserem Land haben. Wenn Sie sich nur mal anschauen – und das ist ja für uns Ökonomen der Indikator – die gesamtwirtschaftliche Bruttolohnquote. Das ist die Verteilung. Das heißt das ist das Einkommen, was von der Wertschöpfung die abhängig Beschäftigten bekommen haben. Wenn wir die Lohnquote nur aus dem Jahr 2000 noch hätten, dann hätten im letzten Jahr 2007 die abhängig Beschäftigten in unserem Land 118 Milliarden Euro mehr an Einkommen gehabt. Diese 118 Milliarden, da sich nun mal immer Lohnquote und Gewinnquote in einer Volkswirtschaft zu 100 Prozent ergänzen, sind abgeflossen zu den Unternehmereinkommen und zu den Einkommen, die wir als Vermögenseinkommen bezeichnen. Das zeigt die gigantische Umverteilung. Das ist im Grunde des Pudels Kern. Darin liegt unsere Krise begründet und wenn wir dort nicht zur Besinnung kommen, dann werden wir unser Land noch weiter vor die Wand fahren.
Degenhardt: Herr Brüderle, fühlen Sie sich angesprochen als "Neoliberaler"?
Brüderle: Herr Degenhardt, das war jetzt ein fast fünfminütiger Monolog statt Streitgespräch von Herrn Bontrup. Ich hoffe, ich habe genauso lange Gelegenheit, auch meine Auffassung darzulegen.
Degenhardt: Nur zu!
Brüderle: Sonst ist es ja kein Streitgespräch, sondern eine einseitige Darstellung eines Gutachtens, was relativ wenig Beachtung in der Öffentlichkeit findet.
Bontrup: Das ist ja das Schlimme!
Brüderle: Darf ich mal ausreden? Sie haben die ganze Zeit ja nur wie ein Wasserfall geredet.
Degenhardt: Herr Brüderle, bitte.
Brüderle: Dann machen Sie eine einseitige Sendung. Dann steige ich da aus. – Das ist ja ein Wust von Vorwürfen und von persönlichen Wertungen und Fehldiagnosen. Die FDP war nicht für Lohnkürzungen. Wir sind dafür, dass eine Marktöffnung geschieht, damit wir durch Produktivitätserreichungen auch neue Arbeitsplätze schaffen können, was ja in Teilen gelungen ist – noch nicht hinreichend -, aber die Politik geht ja in Deutschland in die falsche Richtung. Wir sind gerade dabei, bei der Post mit anderen Mitteln ein Monopol fortzusetzen. Da können keine neuen Arbeitsplätze entstehen, wenn die Post weiter von Mehrwertsteuer befreit wird, 19 Prozent Vorteil hat, weil die anderen 19 Prozent Mehrwertsteuer zahlen müssen, Mindestlöhne so hoch festgesetzt werden, dass überhaupt kein Wettbewerb entstehen kann.
Und jetzt auch zu sagen, weltweit ist alles nur schlechter geworden. – Viele Länder haben erheblichen Aufstieg vorangebracht. Schauen Sie nach China, schauen Sie nach Indien, schauen Sie nach anderen Ländern. Die sind durchaus vorangekommen. Probleme haben wir in Afrika. Das hat aber auch andere Ursachen. Das sind auch interne Regime. Gucken Sie von Simbabwe bis sonst was, welche gesellschaftlichen Strukturen dabei sind.
In Deutschland haben wir auch Fehlentwicklungen, aber schauen Sie mal, wo bei den großen Konzernen die Fehlentwicklungen sind. Das sind alles paritätisch mitbestimmte Betriebe, bei VW 50 Prozent Mitbestimmung. Dort ist der Betriebsrat ins Bordell geführt worden. Bei Mannesmann, bei Siemens, das sind alles paritätisch mitbestimmte Betriebe mit Fehlentwicklungen. Deshalb, weil sich dort inzwischen eine Kaste zwischen Managern und Gewerkschaftsfunktionären entwickelt hat, die quasi auch die Managergehälter auskungeln, aushandeln, die Eigentümerrechte (nämlich die sitzen ja in der Hauptversammlung drin) immer wieder weiter geschwächt wurden. Dort wird nicht entschieden, wo die Eigentümer sind, und dann schwächt man Schritt für Schritt die Mechanismen der sozialen Marktwirtschaft und sagt, das System funktioniert nicht.
"Neoliberal" ist ja ein plakativer Begriff, der unsinnig ist. Neoliberal war ja die Antwort auf die Nazi-Zeit von Eugen von Hayek und anderen. Die haben die soziale Marktwirtschaft ordnungspolitisch begründet. Das ist heute von den Linken völlig deformiert und umgedreht worden, als ob das eine verbrecherische Vereinigung wäre.
Degenhardt: Sie haben gesagt, Herr Brüderle ganz kurz noch die Zwischenfrage, die Politik gehe in die falsche Richtung. Es gibt auch von Ihnen das Zitat "mutige Reformen sind mehr als ein mutiges Dekolleté". Das war gemünzt auf das tief ausgeschnittene Kleid der Kanzlerin, das für Aufsehen gesorgt hat. Auf welchen Reformfeldern ist denn Ihrer Meinung nach Frau Merkel zu zögerlich?
Brüderle: Wir müssen erstens in der Breite Steuern senken. Das verfügbare Einkommen ist zu gering. Wir müssen Steuern vereinfachen. Das versteht keiner mehr. Wir sind überreglementiert in Deutschland. Wir haben nicht den Freiraum für hinreichende Existenzgründungen und Erweiterungen. Wir haben eine gespaltene Wirtschaft. Global Player können ausweichen. Die gehen nach Osteuropa und in andere Länder. Der deutsche Mittelstand ist in einer Art DDR light eingesperrt. Der braucht faire Chancen der Entwicklung. Wir müssen wirklich auch dauerhaft soziale Sicherungssysteme reformieren. Das geschieht ja nicht. In der Gesundheitspolitik wird ja nur Mist gemacht. Jetzt hat man mit dem Gesundheitsfonds noch ein System oben draufgesetzt. Wie soll daraus, wenn man zwei Bürokratien schafft, eine effektivere und preiswertere Lösung dabei entstehen? Das kann man fortsetzen. In der Pflegeversicherung sind die Probleme nicht gelöst. Man hat zurecht die Demenzerkrankung mit erfasst, aber hat die Finanzierung nicht dauerhaft gesichert. Das ist eine stümperhafte Reformpolitik. In einer relativ guten Phase der deutschen Volkswirtschaft hat man die Zeit verplempert, durch Reformprozesse den Standort zu stärken. Wir können ja keine neue Mauer um Deutschland herum bauen; wir müssen uns dem europäischen Wettbewerb und dem weltweiten Wettbewerb stellen. Wenn man Europa erweitert, neue Länder aufnimmt wie Rumänien und Bulgarien, hat das natürlich Konsequenzen auf die Verteilung.
Degenhardt: Herr Brüderle, jetzt hatten Sie ein gehöriges Maß an Redezeit. An Sie, Herr Bontrup, damit verbunden auch die Frage: demokratische Wirtschaft, das ist Ihre Idee. Die sieht ein bisschen anders aus. Aber gibt es auch Punkte bei Herrn Brüderle, wo Sie sagen würden okay, da gehe ich mit ihm konform?
Bontrup: Bei dem Mittelstand hat Herr Brüderle sicherlich Recht, dass die Global Player, die Großkonzerne über immer mehr Marktmacht verfügen und dass da auch gigantische Umverteilungen von Gewinnen laufen, dass die großen Konzerne den kleinen Mittelstand benachteiligen. Wenn ein Mittelständler zum Beispiel Zulieferer ist, dass der dann über Nachfragemacht ausgebeutet wird, da bin ich mit ihm vollkommen konform. In den anderen Punkten überhaupt nicht! Fangen wir mal mit der Mitbestimmung an. Herr Brüderle sagt, wir haben Mitbestimmung in unserem Land. Das stimmt ja nicht. Wir haben keine paritätische Mitbestimmung. Die gibt es allenfalls im Montanmitbestimmungsgesetz, die 76er Mitbestimmung. Da hat der Aufsichtsratsvorsitzende, der immer von der Kapitalseite gestellt wird, bei Pattsituationen schon mal eine doppelte Stimme. Also da ist einfach die Gewerkschaft hinten dran. Und bei der betrieblichen Mitbestimmung, da gibt es überhaupt keine Form der wirtschaftlichen Mitbestimmung. Das ist eindeutig falsch, was Herr Brüderle dort eben ausgeführt hat.
Ich will einen anderen Gedanken noch mal hier hinein bringen. Wenn hier immer argumentiert wird, die Löhne sind zu hoch – das haben Sie eben gesagt, Herr Brüderle -, auch vor dem Hintergrund der Produktivitätsentwicklung. Und da haben Sie sicherlich Recht; das müssen wir relativieren. Der richtige Terminus Technikus sind ökonomisch natürlich immer die Lohnstückkosten. Da liegt Deutschland, wenn wir uns mal den Trend der letzten Jahre angucken, vor Japan an unterster Stelle. Das heißt, wir sind international wettbewerbsfähig. Das haben Sie auch betont; das sehe ich auch so.
Brüderle: Wir haben ja auch Erfolge!
Bontrup: Richtig! Ansonsten wären wir auch nicht Exportweltmeister. Eines gebe ich aber zu bedenken: Wenn wir immer mehr die Löhne senken, um damit die Produktivität, also die Menschen, die eine relativ schlechte Produktivität haben, in den Markt reinzuholen, dann kommt es auch immer mehr dazu, dass immer weniger Kapital eingesetzt wird, weil dort ein Substitutionsprozess stattfindet. Das kann natürlich dann dazu führen, dass insgesamt die Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft damit in Mitleidenschaft gezogen wird.
Degenhardt: Herr Bontrup, das war jetzt Ihre Redezeit. Wir müssen auch ein bisschen auf die Nachrichten aufpassen. Das letzte Wort soll jetzt Herr Brüderle haben.
Brüderle: Es ist eines richtig, dass wir Produktivitätssteigerung brauchen. Wir müssen in Weiterbildung, in Qualifizierung hinein gehen. Und denjenigen, die zu schwach sind, um mit dem Einkommen eine hinreichende Lebensbasis zu haben, die im Schatten stehen, werden wir aus der Solidargemeinschaft helfen müssen. Immer noch besser, zwei Drittel seines Lebenseinkommens durch Arbeit zu haben, ein Drittel Sozialtransfer, als 100 Prozent Arbeitslosigkeit und 100 Prozent Sozialtransfer.
Degenhardt: Meine Herren, ich bedanke mich für das wie ich fand spannende Gespräch, das geradezu nach einer Fortsetzung schreit. – Das waren FDP-Vize Rainer Brüderle und der Professor für Wirtschaftswissenschaften Heinz-Josef Bontrup über neue Möglichkeiten oder Möglichkeiten einer neuen, einer anderen Wirtschaftspolitik. Vielen Dank meine Herren!