Faszinierende Lebewesen

23.12.2008
Sie summen uns ins Ohr, stechen uns in die Haut oder rauben uns den letzten Nerv bei ihrem 15. Versuch, durch unsere Fensterscheibe hindurchzufliegen. Die Rede ist von Wespen, Mücken, Stubenfliegen und anderen Insekten. Ihnen allen hat nun der Gerstenberg Verlag einen ganzen Bildband gewidmet.
Eine kleine grüne Raupe schreckt mit einem riesigen rot umrandeten Maul und stechend schwarzen Augen ihre Feinde ab, eine andere robbt sich überlebensgroß mit orange-roten Karnevalsantennen einen dünnen Ast entlang. Das sind zwei der Fotos mit denen der Naturforscher Michael Chinery in seinem Bildband "Insekten" faszinierende Einblicke in das Leben von Raupen, Stubenfliegen und Tieren gibt, die man erst auf den zweiten oder dritten Blick als Insekt erkennt.

Einige der großformatigen Aufnahmen zeigen um das 200.000fache vergrößerte Augen, Köpfe oder die feinen Röhrchen am Fliegenfuß, mit denen die Tiere sogar glatte Fensterscheiben emporklettern können. Da werden aus harmlosen Fliegen plötzlich finster dreinblickende Gesellen, die eher an Außerirdische erinnern.

Es sind spektakuläre Bilder, die eine ungemeine Faszination ausüben. Zu jedem Foto erzählt Michael Chinery die Geschichte des Insekts. Man lernt, wie die Stubenfliege ihre Nahrung mit einem schwammähnlichen Gebilde aufsaugt, sieht, wie die Kleinlibellennymphe mit Kiemen an ihrem Schwanz atmet und erkennt jeden einzelnen Widerhaken auf dem Stachel der Honigbiene.

Aber der Bildband bietet weit mehr als beeindruckende Bilder und spannende Bildunterschriften. Zu Beginn des Buches stellt der Autor in kurzen leicht verständlichen Texten die vierundzwanzig bekanntesten Insektenordnungen vor.

Der Bildband selbst ist in sechs Kapitel unterteilt, die von größten Details aus nächster Nähe, über Bewegungsformen, Ernährungsvorlieben, Tarnungs- und Verteidigungsstrategien sowie Entwicklungszyklen bis hin zu den Lebensräumen von Libellen, Tarsenspinnern oder Schnabelkerfen reichen. Und hier beginnt die eigentliche Magie des Buches.

Die Insekten werden plötzlich zu perfekt angepassten Lebenskünstlern, die Klettverschlüsse und Saugnäpfe lange vor den Menschen kannten oder die Langstreckenflüge von mehreren tausend Kilometern meistern, um den Winter im Warmen zu verbringen - wie etwa der Monarchfalter, der über 3000 Kilometer in sein Winterquartier fliegt. Doch nie werden die Tiere vermenschlicht, was anschaulich der Todeskampf einer Heuschrecke im Maul einer Gottesanbeterin beweist, die anschließend ihre Fangzähne säubert. Man sieht, wie eine Großlibellennymphe einen kleinen Fisch verspeist. Auf einem anderen Foto tropft noch das Blut vom Stechrüssel eines Mückenweibchens. Weniger blutig, aber dafür umso berauschender ist das Foto der Larven der neuseeländischen Pilzmücke, die eine ganze Höhle in blauem Licht erstrahlen lassen.

Der Brite Michael Chinery versteht etwas von seinem Fach wie kaum ein anderer. Er hat Zoologie, Geologie, Botanik und Anthropologie studiert und zahlreiche Bücher über die Insekten Großbritanniens und Europas verfasst. Seinen liebevoll geschriebenen Texten merkt man die große Sachkenntnis an. Anhand fantastischer Bilderfolgen beschreibt er jedes Detail der Metamorphose von Larven über Raupen bis hin zu ausgewachsenen Schmetterlingen. Er zeigt wie sich eine Stubenfliege aus ihrer Puppenhülle freikämpft und lässt den Leser die akrobatischen Paarungsriten der Hufeisen-Azurjungfern beobachten. Durch diese gekonnte Mischung, aus genialen Fotos und klugen Texten, eröffnet Michael Chinery einen wundervollen Mikrokosmos, eine Welt voller Dramen und Wunder, die den meisten Menschen bislang verborgen gewesen sein dürfte. Ein wunderbares Weihnachtsgeschenk!

Rezensiert von Monika Seynsche

Michael Chinery: Insekten. Eindrucksvolle Nahaufnahmen faszinierender Lebewesen Gerstenberg Verlag, 287 Seiten, 49,90 Euro