Faszination Russland
Drei Jahre - von 1897 bis 1900 - durchlebten sie eine intensive Liebesbeziehung: der Dichter Rainer Maria Rilke und die Schriftstellerin und spätere Psychoanalytikerin Lou Andreas-Salomé. Ihre gemeinsame Russlandreise im Jahr 1900 wurde für sie zu einem unvergesslichen Erlebnis. Das Hörbuch "Russische Impressionen" fasst Tagebucheinträge und Gedichte der beiden zusammen.
Rilke schien sie wie die japanische "Göttin der Grazie", die 1861 in St. Peterburg geborene Schriftstellerin und spätere Psychoanalytikerin Lou Andreas-Salomé.
"Sie steht in Tiefe, blauen Gründen,
in denen viele Flüsse münden
aus Fernen welche höher sind."
Dichtet er im Mai 1900.
"Aber in ihre Schönheit kühl
steigt sein in Wellen hinbewegtes
ewig ebenes Gefühl."
Mit dem Gedicht beginnt eine akustische Reise durch Russland im Jahr 1900. Sie basiert auf der Route, die Rilke und Salomé in vier Monaten von Moskau über Kiew nach Jaroslawl führt und die Salome in ihrem Tagebuch "Russland mit Rainer" dokumentiert hat. Während Rilke eine unbekannte Landschaft betritt und die russische Sprache und Literatur studiert, ist es für Salomé eine aufregende Reise in die Kindheit. Einblick in den sinnlichen und intellektuellen Reichtum des Tagebuchs, das erst nach ihrem Tod erschien, vermittelt Doris Wolters in einer angenehm leichten, aber eindringlichen Lesung. Rilke – stimmlich präsent durch Herbert Schäfer - bleibt nur der Part, das Hörereignis zu eröffnen und mit drei Briefen, die wie eine Fußnote anmuten, zu beschließen.
Die Reisenden sind mit dem Zug und dem Schiff unterwegs, wobei die Landschaft als reizvolles Wechselspiel von Weite und Intimität erfahren wird.
In Salomés Beschreibung der russischen Seele, die sich beim Anblick einfacher Bauern und Lastenträger entzündet, ist die sehnsuchtsvolle Suche nach den eigenen Wurzeln zu erkennen.
"Die Mischung von Temperament und spontaner einfacher Wärme mit vorurteilsloser Weite und hingerissener Sachlichkeit ... Und in diesem Menschentypus wie in diesem Landschaftstypus tauchen mir so viele Kindheitserinnerungen auf. Ist so viel Heimkehr."
Doris Wolters präsentiert die Tagebucheintragungen mit kluger Distanz, die ohne Kühle ist. Im genauen Ausformen der komplexen Satzstrukturen arbeitet sie den Kern heraus. Tastet die Sätze behutsam ab, um zu jenem Text zu gelangen, der zwischen den Zeilen steht.
Im Monolog verschmelzen so Landschaft, Menschen und Architektur zu einem tröstenden Begriff von Heimat.
"Matuschka Moskwa, Mütterchen Moskau und Matuschka Wolga, Mütterchen Wolga sind die beiden großen Herrlichkeiten Russlands."
"Ein Gold und Rot über den Wellen und Wäldern wie über mystischen Welten."
Rilke wird zum stummen Passagier, der nur als grammatisches "wir" mitreist und doch derjenige ist, der in der 15 Jahre Älteren eine längst verlernte Freude an Rauschzuständen auslöst. Vom Liebeserlebnis sensibilisiert, findet Salomé in ihren Hymnen auf das finnländische Rongas
"die vielen kleinen Kinderstimmen aus einem lang vergangenen Sommer wieder, dem Sommer, der am Ausgang meiner Kindheit stand."
In diese Stimmen mischt sich auch die Erinnerung an den Vater.
"Wenn er mich umfasst und geküsst hatte, dann war irgendeine Wärme über mich hingegangen, halb verstanden. So wie man durch ein offenes Fenster Sonne und Landschaft wirken fühlt ohne die Tür zu ihnen hinaus aufstoßen zu können.
Jetzt, jetzt wäre ich ganz sein Kind geworden."
Es kommt zu Besuchen auf dem Gut des Dichters Leo Tolstojs. Dabei entsteht ein Psychogramm, das von poetischer Tiefe ist.
"Von allem Anfang an … machte er diesmal einen so seltsam vergeistigten, einen rührend erschütternden Eindruck, wie einer, der nicht mehr der Erde angehört … und die Augen so klar im elenden beseelten Gesicht. Klar und wie über allem, hinter allem. Wie ein verzaubertes Bäuerlein, ein Zauberwesen sah er aus."
Wolters markiert einen Bruch, der sich bei der Lektüre des Tagebuchs so nicht erschließt. Virtuos kontrastiert sie die Bilder der Kindheit mit dem Intellekt der nun 40-Jährigen. Die Zeiten schieben sich ineinander und eine versunkene Welt wird gegenwärtig. Man fühlt sich beim Hören angesprochen. Denn die intensiven Reflexionen der Erzählerin rühren an unser Innerstes, an Sehnsüchte und Ängste, die zeitlos sind. Das macht die "Russischen Impressionen" zu einem aktuellen Hörerlebnis.
Während die Reise für Rilke zum Bildungserlebnis wird, begibt sich Salomé immer tiefer in eine nur ihr vertraute Seelenlandschaft. Die Liebenden entfernen sich schließlich voneinander. Am 28. Juli 1900 fährt sie allein weiter nach Finnland. Rilke bleibt noch einen Monat in St. Petersburg.
"Mir ist als hätte ich der Schöpfung zugesehen","
schreibt er 1902 rückblickend.
""Hier sind die Dinge in den Maßen Gottvaters … Schwer und ungern ging ich damals von Russland fort und mir war als ob ich ein Unrecht täte."
Besprochen von Carola Wiemers
Lou Andreas-Salomé/Rainer Maria Rilke: Russische Impressionen
Eine Russlandreise im Jahr 1900
Gelesen von Doris Wolters und Herbert Schäfer
Audiobuch 2009, 1 CD
Laufzeit 78 Minuten, 9,95 Euro
"Sie steht in Tiefe, blauen Gründen,
in denen viele Flüsse münden
aus Fernen welche höher sind."
Dichtet er im Mai 1900.
"Aber in ihre Schönheit kühl
steigt sein in Wellen hinbewegtes
ewig ebenes Gefühl."
Mit dem Gedicht beginnt eine akustische Reise durch Russland im Jahr 1900. Sie basiert auf der Route, die Rilke und Salomé in vier Monaten von Moskau über Kiew nach Jaroslawl führt und die Salome in ihrem Tagebuch "Russland mit Rainer" dokumentiert hat. Während Rilke eine unbekannte Landschaft betritt und die russische Sprache und Literatur studiert, ist es für Salomé eine aufregende Reise in die Kindheit. Einblick in den sinnlichen und intellektuellen Reichtum des Tagebuchs, das erst nach ihrem Tod erschien, vermittelt Doris Wolters in einer angenehm leichten, aber eindringlichen Lesung. Rilke – stimmlich präsent durch Herbert Schäfer - bleibt nur der Part, das Hörereignis zu eröffnen und mit drei Briefen, die wie eine Fußnote anmuten, zu beschließen.
Die Reisenden sind mit dem Zug und dem Schiff unterwegs, wobei die Landschaft als reizvolles Wechselspiel von Weite und Intimität erfahren wird.
In Salomés Beschreibung der russischen Seele, die sich beim Anblick einfacher Bauern und Lastenträger entzündet, ist die sehnsuchtsvolle Suche nach den eigenen Wurzeln zu erkennen.
"Die Mischung von Temperament und spontaner einfacher Wärme mit vorurteilsloser Weite und hingerissener Sachlichkeit ... Und in diesem Menschentypus wie in diesem Landschaftstypus tauchen mir so viele Kindheitserinnerungen auf. Ist so viel Heimkehr."
Doris Wolters präsentiert die Tagebucheintragungen mit kluger Distanz, die ohne Kühle ist. Im genauen Ausformen der komplexen Satzstrukturen arbeitet sie den Kern heraus. Tastet die Sätze behutsam ab, um zu jenem Text zu gelangen, der zwischen den Zeilen steht.
Im Monolog verschmelzen so Landschaft, Menschen und Architektur zu einem tröstenden Begriff von Heimat.
"Matuschka Moskwa, Mütterchen Moskau und Matuschka Wolga, Mütterchen Wolga sind die beiden großen Herrlichkeiten Russlands."
"Ein Gold und Rot über den Wellen und Wäldern wie über mystischen Welten."
Rilke wird zum stummen Passagier, der nur als grammatisches "wir" mitreist und doch derjenige ist, der in der 15 Jahre Älteren eine längst verlernte Freude an Rauschzuständen auslöst. Vom Liebeserlebnis sensibilisiert, findet Salomé in ihren Hymnen auf das finnländische Rongas
"die vielen kleinen Kinderstimmen aus einem lang vergangenen Sommer wieder, dem Sommer, der am Ausgang meiner Kindheit stand."
In diese Stimmen mischt sich auch die Erinnerung an den Vater.
"Wenn er mich umfasst und geküsst hatte, dann war irgendeine Wärme über mich hingegangen, halb verstanden. So wie man durch ein offenes Fenster Sonne und Landschaft wirken fühlt ohne die Tür zu ihnen hinaus aufstoßen zu können.
Jetzt, jetzt wäre ich ganz sein Kind geworden."
Es kommt zu Besuchen auf dem Gut des Dichters Leo Tolstojs. Dabei entsteht ein Psychogramm, das von poetischer Tiefe ist.
"Von allem Anfang an … machte er diesmal einen so seltsam vergeistigten, einen rührend erschütternden Eindruck, wie einer, der nicht mehr der Erde angehört … und die Augen so klar im elenden beseelten Gesicht. Klar und wie über allem, hinter allem. Wie ein verzaubertes Bäuerlein, ein Zauberwesen sah er aus."
Wolters markiert einen Bruch, der sich bei der Lektüre des Tagebuchs so nicht erschließt. Virtuos kontrastiert sie die Bilder der Kindheit mit dem Intellekt der nun 40-Jährigen. Die Zeiten schieben sich ineinander und eine versunkene Welt wird gegenwärtig. Man fühlt sich beim Hören angesprochen. Denn die intensiven Reflexionen der Erzählerin rühren an unser Innerstes, an Sehnsüchte und Ängste, die zeitlos sind. Das macht die "Russischen Impressionen" zu einem aktuellen Hörerlebnis.
Während die Reise für Rilke zum Bildungserlebnis wird, begibt sich Salomé immer tiefer in eine nur ihr vertraute Seelenlandschaft. Die Liebenden entfernen sich schließlich voneinander. Am 28. Juli 1900 fährt sie allein weiter nach Finnland. Rilke bleibt noch einen Monat in St. Petersburg.
"Mir ist als hätte ich der Schöpfung zugesehen","
schreibt er 1902 rückblickend.
""Hier sind die Dinge in den Maßen Gottvaters … Schwer und ungern ging ich damals von Russland fort und mir war als ob ich ein Unrecht täte."
Besprochen von Carola Wiemers
Lou Andreas-Salomé/Rainer Maria Rilke: Russische Impressionen
Eine Russlandreise im Jahr 1900
Gelesen von Doris Wolters und Herbert Schäfer
Audiobuch 2009, 1 CD
Laufzeit 78 Minuten, 9,95 Euro