Faszination Marathonlauf

Die Kraft des langen Atems

Silhouette eines Joggers im Sonnenuntergang.
Nicht die Rennen sind wichtig, sondern die Disziplin des regelmäßigen Trainings, sagt Günter Herkel. © imago/Imagebroker
Von Günter Herkel · 12.04.2015
Lange Strecken machen süchtig. Laufen ist die schärfste Droge und zugleich die billigste Therapie, meint Günter Herkel: Es entwickelt Ruhe und Kraft, Stress und Depressionen fallen ab. Unweigerlich steigert sich das wöchentliche Pensum.
Mein erster Straßenlauf war ein Fiasko. Die 25 Kilometer von Berlin 1985 - kaum trainiert ging ich an den Start, wollte es wissen. Liebeskummer, berufliche Probleme, Frust knüppeldick. Wenige hundert Meter vor dem Ziel, schon im Olympiastadion, riss es mich von den Beinen. Diagnose im Sanitätszelt: extrem hoher Flüssigkeitsverlust, Totalerschöpfung, Kreislaufkollaps. Mit Blaulicht ins Klinikum. Blut wie Sirup, Infusionen. Schon ein halbes Jahr später stand ich erneut am Start. Diesmal beim Marathon, topfit und mit einer passablen Einsteiger-Endzeit von gut vier Stunden.
Mittelalte Männer besonders stark vertreten
Damals war ich Mitte 30. Männer zwischen 35 und 45 sind beim Marathon besonders stark vertreten. Reflex der Midlife-Crisis, Initiationsritus einer zweiten männlichen Jugend? Schon möglich. Eines Tages stehst du schwer atmend auf irgendeiner Treppe. Schweißausbrüche, Herzjagen, Angst. Das bestürzende Gefühl: Es geht bergab. Dann fängst du mit dem Laufen an. Fast unmerklich steigert sich dein wöchentliches Pensum. Du spürst, wie du Ruhe und Kraft entwickelst. Stress und Depressionen fallen ab. Du bekommst dein Leben besser in den Griff. Du erlebst deine Lunge wie einen gotischen Dom im Sonnenaufgang.
LSD – Long Slow Distance: Bewusstseinserweiterung durch Langstreckenlauf. Du wirst süchtig. Laufen ist die schärfste Droge, zugleich die billigste Therapie. Spräche sich das noch weiter herum, die Praxen mancher Psycho-Scharlatane würden sich im Nu leeren.
Rückkehr zu den Ursprüngen
Langlauf ist Versenkung, Meditation. Nicht die Rennen sind wichtig. Das regelmäßige Training ist es, die Disziplin, fast täglich zu laufen, unabhängig vom Wetter und sonstigen Widrigkeiten. Ich verstehe Laufen auch als unbewussten Prozess gegen die zunehmende Technisierung des Alltags. Du erreichst ein selbstgestecktes Ziel, ohne Hilfsmittel. Es muss nicht unbedingt Marathon sein. Aber jeder kann Marathon schaffen. Beim Laufen kehrt der Mensch zu seinen Ursprüngen zurück. Die Strecke entspricht fast dem früheren Jagdkreis eines Stammes: 20 Kilometer hin, 20 zurück.
Wie sagt James Fizz in seiner Jogger-Bibel "Das komplette Buch vom Laufen":
"Wir spüren, was wir erlebt hätten, wenn wir vor zehntausend Jahren gelebt, Früchte, Nüsse und Gemüse gegessen, unsere Herzen, Lungen und Muskeln durch dauernde Bewegung trainiert hätten."
Eisenlunge Emil Zatopek, tschechisches Laufidol der 50er Jahre, brachte es auf die ebenso kurze wie geniale Formel: "Fisch schwimmt, Vogel fliegt, Mensch läuft."
Lebenslang regelmäßig laufen
Meinen letzten kompletten Marathon absolvierte ich vor zehn Jahren. Dem regelmäßigen Laufen aber bin ich treu geblieben und werde es auch mein Leben lang bleiben. Heute kombiniere ich lieber leichtes Joggen mit ein wenig Krafttraining – als Balsam gegen das Joch vieler Schreibtischstunden. Den Marathon-Staffelstab habe ich an meinen Sohn weiter gegeben. Vor zwei Wochen feierte er beim Berliner Halbmarathon seinen Straßenlauf-Einstand, mit glänzenden 1:42. Ich begnüge mich inzwischen mit der Rolle des stolzen Nachwuchs-Coaches – sie ist weniger schweißtreibend.
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