Faszination Geisteswissenschaften

Moderation: Holger Hettinger |
Zum Jahr der Geisteswissenschaften hat der Präsident der Humboldt-Universität Berlin, Christoph Markschies, von geisteswissenschaftlichen Fachrichtungen eine stärkere Orientierung am Publikum gefordert. Die Geisteswissenschaften müssten deutlich machen, dass sie ebenso wie die Naturwissenschaften faszinieren können, sagte der Theologe.
Holger Hettinger: "Lassen Sie mich durch, ich bin Germanist." Klingt schon seltsam, wenn man diesen nassforschen Medizinerspruch ummünzt auf die Geisteswissenschaft. Keiner würde so was sagen. Dabei können die Geisteswissenschaften schon etwas mehr Selbstbewusstsein vertragen. Sie stehen bei vielen Menschen im Ruf, Laberfächer zu sein ohne jeglichen Praxisbezug. Etliche Disziplinen bluten finanziell aus, viele Universitäten ziehen Stellen bei den Geisteswissenschaften ab, die dann den Naturwissenschaften zugeschlagen werden. So geschehen zum Beispiel in Tübingen. Die Geisteswissenschaften in der Krise? Und das im Jahre 2007, das als Wissenschaftsjahr unter dem Motto steht, "Die Geisteswissenschaften – ABC der Menschheit". Wie man den Geisteswissenschaften ihre Bedeutung wiedergeben könnte, darüber spreche ich nun mit Professor Christoph Markschies, der Theologe ist Präsident der Berliner Humboldt Universität.

Herr Markschies, die Geisteswissenschaften haben immer weniger Geld, immer weniger Stellen, und eine Untersuchung im Auftrag des "Spiegel" hat ermittelt, die Absolventen gelten als schwerer vermittelbar als beispielsweise Naturwissenschaftler, es dauert länger, bis sie einen Job bekommen. Das Nachrichtenmagazin spricht gar von einem Lumpenproletariat und einem akademischen Prekariat. Wie begegnen Sie solchen Vorwürfen?

Christoph Markschies: Erstmal indem ich darauf hinweise, es ist Aufgabe des "Spiegel" Sachen so zuzuspitzen, dass sie Leser finden jeden Montag. Nein, ganz so dramatisch ist die Lage nicht. Die Geisteswissenschaften haben gewaltig ausgebaut, beispielsweise noch in den siebziger Jahren. Sie sind im Augenblick in einer Verteidigungsposition. Stellen Sie sich vor, im 19. Jahrhundert, wenn Sie das Wort "Goethe" genannt hätten, hätte jeder ehrfürchtig den Kopf gesenkt und gesagt, ja, muss erforscht werden, und das ist heute natürlich nicht mehr der Fall. Sie müssen für Geisteswissenschaften werben, Sie müssen verständlich machen, warum es sinnvoll ist, so etwas zu erforschen. Das ist über längere Zeit nicht gemacht worden, und insofern, das ist schon richtig in der Untersuchung beschrieben, gibt es Menschen, Sie haben vorhin so schön gesagt, die der Auffassung sind, das sind reine Laberfächer. Dagegen muss etwas unternommen werden.

Hettinger: Was muss man denn unternehmen, um dieses Profil zu stärken?

Markschies: Sie müssen deutlich machen, dass genauso wie Naturwissenschaften elementar faszinieren können, wenn Sie einen Mediziner darüber sprechen hören, dass er zum Beispiel durch Elektroden im Gehirn die Parkinsonkrankheit behandelt, dann denken Sie immer sofort, entweder das könnte ich mal sein, der da behandelt wird, oder ich kenne jemanden sehr gut, der behandelt werden müsste, und diesen elementaren Grat der Faszination, den müssen Sie durch Geisteswissenschaften herstellen. Das heißt, Sie müssen deutlich machen, dass Geisteswissenschaften etwas zu einem besseren und qualitätsvolleren Leben beitragen können, dass sie etwas zu einem besseren Verständnis von Problemen der modernen Welt beitragen können, und zwar nicht einfach nur durch ständiges Reden, wie wir es gerade hier machen, sondern indem sie so faszinieren, wie Naturwissenschaften faszinieren, also indem sie mehr inszenieren und mehr aufführen.

Hettinger: Nun ist doch diese Überzeugungsarbeit doch eher in den Kinderschuhen, wenn man bedenkt, bei Personalchefs stehen Geisteswissenschaften eher niedrig im Kurs, und auch die akademische Welt, beispielsweise in der Diskussion um die Elite-Unis, da wurden fast alle Teilanträge aus dem geisteswissenschaftlichen Bereich abgelehnt, maßgeblich waren fast ausschließlich technische, naturwissenschaftliche Inhalte. Diese Reform, diese Neuorientierungsentscheidung ist scheinbar noch nicht in Gang gekommen?

Markschies: Könnte man meinen. Aber das sind zwei verschiedene Probleme. Ich sage erstmal kurz was zu diesem Exzellenzwettbewerb und dann zu dem Thema, ob die Neuorientierung schon in Gang gekommen ist. Der Exzellenzwettbewerb ist dadurch, dass er Goßkluster, zu Deutsch Haufen, fördert, eher ein naturwissenschaftlicher Wettbewerb. Geisteswissenschaften funktionieren vielfach so, dass einer oder eine sehr kleine Gruppe zusammensitzt und ein ganz kluges Buch schreibt, das Sie dann Weihnachten auf dem Tisch der Buchhandlungen finden und nach Weihnachten mit roten Ohren lesen. Der Exzellenzwettbewerb fordert Großverbünde, und das ist nicht die Forschungsform der Geisteswissenschaften oder nicht ihre primäre. Insofern ist das nicht sehr verwunderlich. Außerdem entspricht die Menge der Dinge, die in den Exzellenzwettbewerben gefördert werden, in etwa auch dem Anteil, den das bei der DFG hat. Naturwissenschaftliche Forschung ist viel teurer. Also das ist nicht ein Hinweis darauf, dass die Umorientierung noch nicht in Gang gekommen ist, sondern man muss sagen, die Umorientierung hat längst schon begonnen, sie gelingt manchen besser und anderen schlechter. Wenn Sie zum Beispiel an die Archäologien denken, die machen inzwischen spektakuläre Ausstellungen, da kommen ungeheure Mengen von Leuten vorbei. Sie erwähnen immer in Ihrer Anmoderation die Germanisten, die noch nicht so fröhlich auftreten und sagen, hallo, ich bin Germanist, lassen Sie mich mal durch. Es gibt Fächer, die sind da schon weiter, und andere haben größeren Nachholbedarf, aber ich rechne damit, dass das Jahr der Geisteswissenschaften, was jetzt anbricht, noch mal da einen gewaltigen Schub geben wird, weil den Leuten deutlich wird, Aufmerksamkeit für Wissenschaft findet man nur, wenn man Wissenschaft auch so serviert, dass es Spaß macht sie zu konsumieren.

Hettinger: Reicht es wirklich einfach nur zu sagen, wir machen jetzt mehr Werbung für die Geisteswissenschaften, wir wecken da jetzt mehr Verständnis. Sie haben gerade eben die Germanisten ins Feld geführt. Wolfgang Frühwald, der ehemalige Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, hat beispielsweise gerade der Germanistik vorgeworfen, ein völlig zersplittertes Fach zu sein, aufgegliedert in viele Unterdisziplinen, von Deutschkunde bis Medientheorie. Ist unter diesen Umständen der Patient Geisteswissenschaft überhaupt noch heilbar, gibt es überhaupt noch so ein großes Ganzes, was diese Vielzahl an Fächern und Disziplinen zusammenhält?

Markschies: Das ist eine spannende Frage. Also es ist sicher schwierig, Sie finden heute kaum mehr jemanden, das ist ein allgemeines Pluralisierungsphänomen aller Wissenschaften, nicht nur der Geisteswissenschaften, Sie finden auch kaum mehr jemanden, der, sagen wir mal, als anorganischer Chemiker bereit ist, eine Großvorlesung über die Natur zu halten oder über den Menschen an und für sich. Was in den Geisteswissenschaften wieder stärker notwendig ist, ist ein gemeinsames Verständigen auf Standards, also dass die unterschiedlichen Disziplinen, die sich mit der Auslegung von Texten beschäftigen, also die Philologien, die Germanistik usw. sich stärker darüber verständigen, was ihre gemeinsamen Standards einer guten Textauslegung sind, wann ist ein Text zum Leuchten und zum Strahlen gebracht. Da besteht Notwendigkeit, dies gemeinsam zu tun, aber unter anderem gehört zum Programm des Jahres der Geisteswissenschaften eine Reihe solcher sehr öffentlichkeitswirksamer Konferenzen, wo sich unterschiedliche Geisteswissenschaften auf Standards verständigen. Sie haben Frühwald erwähnt, Frühwald hat gesagt, da kann man ihm nur nachdrücklich zustimmen, das Jahr der Geisteswissenschaften sollte auch nicht als großer öffentlicher Bußakt begangen werden, in dem Sinne, dass wir jetzt in Sack und Asche gehen müssen. Das ist überhaupt nicht der Fall, sondern das ist eine ganz faszinierende Welt, und es sind meiner Ansicht nach nur an einigen Punkten, da aber auch entschlossene Korrekturen notwendig, damit Sie die Strahlkraft der Geisteswissenschaften besser sehen und wahrnehmen können, wenn Sie nicht in der Universität tätig sind.

Hettinger: Ich habe manchmal den Eindruck, dass diese Strahlkraft mit einigen wenigen Musterprojekten, die entsprechend spektakulär sind und beim Publikum gut ankommen, vermittelt werden, aber so die akademische Wirklichkeit sind immer noch Klein- und Kleinstpublikationen unter besonderer Berücksichtigung von irgendwas. Texte, auf gut Deutsch, die die Menschheit nicht sonderlich interessieren. Forschen die Geisteswissenschaftler am Publikum vorbei?

Markschies: Das müssen sie auch ein gutes Stück. Ich selber beschäftige mich mit der Antike. Wenn wir, sagen wir mal, eine Inschrift traktieren, also wenn ich begreiflich mache, was steht da drin und was bedeutet das, dann wird das das große Publikum nicht interessieren, und es wäre auch fatal, wenn man nur solche Forschung machen würde, die immer sofort auf dem Marktplatz oder, sagen wir, in Berlin unter dem Fernsehturm in einem Zelt dargeboten werden kann und die Massen strömen. Sie müssen die großen, spektakulären Dinge, also was weiß ich, in der Antike ist die Rentenversicherung zusammengebrochen, und das ist nicht uninteressant, wenn man sich heutige Probleme der Rentenversicherung anguckt. Nur um dazu eine schwungvolle These vertreten zu können, müssen Sie auch Detailarbeit leisten, genauso in den Naturwissenschaften. Also bevor Sie durch Elektrodeneinsetzung Parkinson heilen können, müssen Sie auch zum Teil völlig unspektakuläre, wenig spannende Forschung machen. Darauf muss man auch beharren. Man muss nur Menschen erklären können, was die eigentliche Abzweckung ist, also was man nicht mehr machen darf, ist, was so im 19. und frühen 20. Jahrhundert üblich war, ich forsche, woran ich will, du hast mich gefälligst nicht zu befragen, lass mich in Ruhe. Das geht in Zeiten einer sehr geringen Finanzausstattung nicht. Sie müssen Auskunft darüber geben können, wozu ihre Detailforschung eigentlich sinnvoll ist.

Hettinger: Dieser Vergleich mit dem Parkinsonmedikament scheint Ihnen sehr zu gefallen. Deswegen frage ich Sie mal, wo sind denn die Geisteswissenschaften so wichtig, so relevant wie beispielsweise beim Parkinsonmedikament?

Markschies: Also ich würde beispielsweise denken, das wird Sie nicht verwundern, dass ich das als Theologe sage, dass die Frage, wie Religionen friedlich zusammenleben können, eine der großen existenziellen Überlebensfragen der ganzen Weltgesellschaft, aber auch sehr vieler bis runtergebrochen in kleine Fragen Berlin-Pankow, Moscheebau, also wie Religionen zusammenleben können, ist eine existenzielle Frage der Gesellschaft, und insofern ist religionswissenschaftliche Forschung, die Ausbreitung von Kenntnisse über die verschiedenen Formen des Islam beispielsweise eine der Dinge, bei denen ich sagen würde, geisteswissenschaftliche Forschung ist genau so wichtig wie Parkinsonforschung. Wir werden in Deutschland jetzt eine historisch-kritische Koranausgabe beginnen an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften mit Kräften aus allen Berliner Universitäten. Das ist zum Beispiel eine bedeutsame Forschung, die vergleichbar ist den großen medizinischen Fortschritten.

Hettinger: Recht herzlichen Dank für das Gespräch.