"Fast so etwas wie ein Schatten von ihm"

Lizzie Doron im Gespräch mit Jürgen König · 09.02.2010
Die 55-jährige Israelin Lizzie Doron ist derzeit mit ihrem Buch "Es war einmal eine Familie" auf Lesereise in Deutschland. Zu Hause arbeitet sie mit einem palästinensischen Filmemacher an einem Buch und Film, für den sich beide in ihrem Alltag begleiten. Die Energie für diese Arbeit speise sich aus der Erfahrung des Holocaust, so Doron.
Jürgen König: Die israelische Schriftstellerin Lizzie Doron wurde 1953 in Tel Aviv geboren, zum Schreiben kam sie richtig erst nach dem Tod der Mutter 1990, als ihre eigenen Kinder anfingen, nach der Herkunft der Familie zu fragen und Lizzie Doron feststellen musste, dass sie das gar nicht wirklich beantworten konnte. Und also begann Lizzie Doron zu recherchieren und begann die Geschichte ihrer Mutter aufzuschreiben, die die Shoah überlebt hatte und in Israel Fuß fassen wollte, dieses aber nicht wirklich schaffte. Diese Texte, zunächst für ihre Kinder geschrieben, dann unter dem Titel "Warum bist du nicht vor dem Krieg gekommen" als Buch erschienen, dieses Buch gehört in Israel inzwischen zur Schullektüre. Lizzie Doron ist im Moment in Deutschland, hat in Frankfurt an einer Tagung teilgenommen, wird heute Abend im Berliner Literaturhaus zu erleben sein, und also haben wir sie in unser Studio eingeladen. Miss Doron, ich freue mich sehr, willkommen, und ich begrüße auch Marei Ahmia, die für uns übersetzen wird.

Lizzie Doron: Thank you, is a pleasure to be here!

König: Miss Doron, Sie haben inzwischen in mehreren Büchern über die Überlebenden der Shoah geschrieben, die so gerne in Israel heimisch werden wollten, dieses aber nie wirklich schafften. Sie selbst gehören, wie man so sagt, zur zweiten Generation Israels – wie haben Sie selber das erlebt, dieses Sich-fremd-Fühlen im eigenen Land Ihrer Eltern oder der Elterngeneration Israels?

Doron: Das ist ein Prozess, der andauert, er ist noch nicht zu Ende. Das eigentlich Tragische besteht in der Emigration. Und wenn jemand nicht freiwillig emigriert, sondern deportiert wird, dann ist das eine noch viel, viel tragischere Situation. Und ich wuchs von daher auf mit Leuten, die nicht akzeptieren konnten, nunmehr in einem vollkommen unterschiedlichen Land zu leben als das, was sie gewohnt waren, in einem neuen Land, mit anderem Wetter, einer anderen Atmosphäre, einer komplett unterschiedlichen Mentalität. Dies sorgte für ein Trauma, oder ein Trauma, das schon vorhanden war, setzte sich fest und blieb bestehen. Und ich bin dort aufgewachsen, was für mich bedeutete, dass es eine Situation war, in der man sozusagen überall ein Fremder war. Sie hatten ein Zuhause, das sie verlassen haben, ich hatte ein sozusagen ideelles Zuhause, was mir aus Erzählungen bekannt war vielleicht, aber Israel sollte mein eigentliches Zuhause sein.

König: Wie wurde in Ihrer Familie, aber auch in den Familien Ihrer ungefähr gleichaltrigen Freunde über die Vergangenheit Ihrer Eltern gesprochen – über die Shoah, über alles das, was im zeitlichen Umfeld dieser Ereignisse sich zugetragen hatte?

Doron: Ja, mit der Frage setzen Sie voraus, dass ich eine Familie gehabt habe, aber eigentlich war bei uns zu Hause nur die Mutter, meinen Vater habe ich nie getroffen. Also nur meine Mutter konnte mir wirklich etwas über den Holocaust erzählen, von familiärer Seite. Und die hatte nun einmal entschieden, nicht mit mir über die Vergangenheit zu sprechen. Ich war ihrer Meinung nach für die Zukunft geboren, ich sollte die Zukunft als Chance sehen. Und sie tat eigentlich alles dafür, dass ich mit dieser Vergangenheit nicht in Kontakt kam. Sie hatte sich sogar die Nummer, die ihr eintätowiert war, rausschneiden lassen, damit ich nicht neugierig werden sollte.

König: Miss Doron, Sie sagten, Ihre Mutter hätte Ihnen sozusagen das Gefühl vermittelt, nun für die Zukunft geboren worden zu sein. Haben Sie das für sich angenommen und dann daraus vielleicht gefolgert, nun eine wirklich besonders, in Anführungsstrichen gesprochen, eine besonders gute Israelin werden zu wollen, werden zu müssen?

Doron: Wenn man ein guter Mensch sein will, dann ist man das überall, nicht nur als israelischer Bürger oder so was. Aber das ist eine gute Frage. Die Antwort ist allerdings ein wenig schwierig. Es ist so, dass ich mich vielleicht mehr mit der Vergangenheit beschäftigt habe, die mir aber helfen soll, mit der Zukunft besser klarzukommen. Und indem ich jetzt meine Geschichte der Vergangenheit erzähle oder die Geschichte meiner Familie erzähle, soll das auch helfen bei neuen Projekten, die mehr um die israelische Situation von heute gehen, die im Hier und Jetzt verwurzelt sind. So habe ich angefangen, ein Buch zu schreiben mit einem palästinensischen Filmemacher, der aus Ostjerusalem kommt, und ich beschäftige mich damit mehr mit der Situation der Konflikte im heutigen Israel. So verbringe ich zum Beispiel zwei Tage in der Woche mit Palästinensern. Und man mag das irgendwie töricht nennen oder gefährlich oder mir sagen, ich riskiere zu viel, aber das ist mir gerade wichtig und das mache ich jetzt. Und ich denke, dass man ein Auge haben muss auf den Einfluss der Politik und der Religion, auf das Leben einer Person, auf das persönliche Leben. Und vielleicht wird das ja gerade zu meinem Thema. Wie das genau weitergeht, weiß ich noch nicht, der Prozess ist noch im Gange.

König: Die Vergangenheit als Brücke für die Zukunft zu verwenden, lassen Sie uns auf dieses Projekt ... Sie machen ja sehr viele Projekte, Sie unterhalten oder bauen unter anderem auch eine Website auf mit diesem palästinensischen Filmemacher, mit dem dann sozusagen die Kriegsgegner ins Gespräch gebracht werden sollen. Ich möchte aber auf dieses Buchprojekt detaillierter eingehen. Das Drehbuch dazu hat gerade, habe ich gelesen, an einem Wettbewerb in Jerusalem den ersten Preis gewonnen, damit sind auch Fördergelder gesichert worden. Wer ist dieser palästinensische Filmemacher und was ist das für ein Buchprojekt?

Doron: Ja, das ist eigentlich noch ein Geheimnis, woher haben Sie alle diese Informationen? Ich kann dazu noch gar nicht so viel sagen, ich muss da auch vor allem vorsichtig sein, da ich sonst meinen palästinensischen Partner in Gefahr bringen könnte. Also es ist besser, wenn ich seinen Namen hier jetzt noch nicht nenne. Was ich aber sagen kann, ist, dass wir uns in Italien getroffen haben bei einer Veranstaltung von Intellektuellen. Dort haben wir uns kennengelernt und wollten gemeinsam etwas tun, etwas, das jetzt nicht aus einer politischen Perspektive heraus entstand oder nicht als Protest gedacht war, sondern auf einer Basis des Sich-näher-Kommens, des Sichkennenlernens, einer Entwicklung, einer Freundschaft, wo wir auch Familien und Freunde eventuell zusammenbringen könnten. Und da ich nun einmal Autorin bin und er als Kameramann arbeitet, haben wir uns überlegt, dass wir ein Doppelprojekt machen, das aus einem Buch und einem Film besteht. So wollten wir das erste Jahr unserer Zusammenarbeit diesem Buch widmen, das ich zunächst aus meiner Perspektive schreiben würde. Das zweite Jahr soll dann ein Film sein, der mehr aus seiner Perspektive berichtet. Und mit diesem Projekt haben wir dann begonnen, und davon waren sehr viele Leute so begeistert, dass sie uns dafür auch Geld gegeben haben, Geld zur Verfügung gestellt haben, was uns vor die Frage brachte: Was tun wir damit? Es sollte ja nicht einzig für uns verwendet werden, sondern es sollte auch einen gemeinnützigen Sinn haben. Und so hatten wir die Idee, eine Website zu gründen, die Leute zusammenbringen sollte, die sich eigentlich politisch verfeindet waren, die aus unterschiedlichen Lagern stammten, unterschiedlicher Herkunft waren oder Menschen, die aus politischen Gründen traumatisiert waren oder Probleme hatten. Und mit diesen wollten wir dann über diese Website sprechen. Dieses Projekt läuft, aber ich kann momentan nicht sagen, dass ich sehr optimistisch bin, was die Situation des Landes betrifft. Ich habe das sehr optimistisch gestartet, aber ich sehe auch keine Lösung für die Konflikte und bin momentan sehr pessimistisch, und meine Hoffnung sah sich sehr, sehr vielen Hindernissen gegenüber.

König: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit der israelischen Schriftstellerin Lizzie Doron. Miss Doron, Sie sagten, Sie wollten Ihren palästinensischen Partner nicht in Gefahr bringen. Von wem droht die Gefahr? Die Rache der Hamas wäre ihm sicher?

Doron: Ich denke, damit haben Sie die Antwort schon selbst gegeben.

König: Wie arbeitet man unter diesen Bedingungen zusammen? Also Zusammenarbeit heißt ja auch, dass man zusammenkommt, dass man sich trifft, dass man miteinander telefoniert, im Café sitzt – wie geht das unter diesen Umständen?

Doron: Dieser Mann wurde wie zu einem Partner unserer Familie, fast wie so etwas von einem Familienmitglied. Wir haben viele Feiertage zusammen verbracht, muslimische und jüdische Feiertage, so war ich im Ramadan auch dort, oder meine Tochter besucht seine Familie. Er ist 41 Jahre und hat zwei Kinder, ich bin 55, habe einen Mann und auch zwei Kinder. Und wir sind sozusagen wie zu einer Familie geworden. Zwei Tage pro Woche verbringe ich jetzt in Ostjerusalem bei ihm und seiner Familie. Ich gehe mit ihm durch die Straßen, spaziere herum, treffe seine Freunde, besuche die Schule seiner Kinder, sehe seinen Alltag. Und ich gehe auch mit ihm zu seiner Arbeit, wo er zum Beispiel bei einem Fernsehsender arbeitet. Und natürlich kann ich nicht überall hin mitgehen, aber für die Wege, die ich machen kann, bin ich fast so etwas wie ein Schatten von ihm geworden. Also ich bin immer dabei. Und Ende Februar, so ist es geplant, wird er nach Tel Aviv kommen und bei uns sein, mit uns leben, und er wird auch noch einen Fotografen mitbringen, wird aber auch selbst filmen. Und ich denke, noch bin ich sehr vorsichtig mit diesen Informationen. Es ist eigentlich das erste Mal, dass ich über dieses Projekt in der Öffentlichkeit spreche. Es ist ja auch nicht ganz einfach, diese Zusammenarbeit erfolgreich fortzusetzen. So trage ich zum Beispiel in Ostjerusalem einen Schleier, wenn ich dort bin, weil ich auch nicht zu sehr auffallen möchte. Es ist immer noch ein wenig gefährlich. Und es gibt auch andere Dinge, die mir dort Probleme machen, insgesamt der Umgang mit Frauen behagt mir dort überhaupt nicht, und der sorgt dafür, dass ich manchmal lieber dort verschwinden möchte. Es gibt sehr viele Unterschiede kultureller Art. So war es zum Beispiel so, dass ich im Ramadan nicht mit den Männern sprechen durfte und mich plötzlich mit seiner Frau in der Küche wiederfand, was mir überhaupt nicht gepasst hat. Und ich denke, es ist nicht nur die Politik, die uns auseinanderbringt oder die verhindert, dass wir zusammenkommen, es ist auch die Mentalität, die Religion und der Status der Frau, insgesamt die alltäglichen Probleme.

König: Miss Doron, ich habe Sie jetzt fast so verstanden, dass die Mentalitäten, die Fragen der Religion, die Fragen nach dem Status der Frau fast die größeren Probleme sind als die politischen Fragen, die dahinterstehen: Zweistaatlichkeit, Gebietszuteilung und dergleichen mehr. Sehen Sie das auch so? Und gleich noch eine weitere Frage als sozusagen Abschlussfrage: Woher nehmen Sie die Kraft für diese ganze Arbeit? Denn das ist ja nicht nur etwas, wo man sagt, das ist jetzt anstrengend oder mühsam, sondern das ist ja schon ein – stelle ich mir vor, vielleicht kann ich es mir gar nicht richtig vorstellen – ein unglaublicher Druck, unter dem man steht und den man immer wieder überwinden muss, um jeden Tag aufs Neue zu dieser Arbeit zu gehen, mit diesem Ziel, wie Sie es vorhin beschrieben haben, zum Beispiel zu diesem Buch, zu diesem Film, zu dieser Website zu kommen, um dann wirklich für das Miteinander etwas zu tun. Woher nehmen Sie die Kraft für all das?

Doron: Das ging jetzt darum, um die Probleme, die ich mit ihm, mit meinem Partner habe sozusagen. Was uns auseinanderbringt, sind persönliche Probleme und keine politischen, da wir politisch einer Meinung sind. Das heißt, wir haben die gleichen Feinde, wir sind gegen die Ultraorthodoxen, gegen die Siedler und gegen die Hamas. Ich bin mir sicher, dass wir für den gleichen Ministerpräsidenten stimmen würden. Und das ist so bei den Liberalen in der Region, die wollen in einem freien Land leben und möchten nicht unterdrückt werden von irgendwelchen Extremisten, welcher Seite auch immer. Unsere persönlichen Probleme sind also nicht politischer Art, sondern mentalitätsbedingt. Um auf den zweiten Teil Ihrer Frage zurückzukommen, möchte ich sagen, dass ich keinesfalls provozieren möchte, aber die richtige Antwort auf diese Frage ist wohl sehr kurz: Meine Motivation und meine Kraft und Energie, die ich diesen Themen widme, ist dem Holocaust geschuldet. Diese Erfahrung, diese Vergangenheit gibt mir das Gefühl, etwas tun zu müssen, dass es nie wieder geschieht. Vielleicht werde ich Ihnen das nächste Mal eine andere Antwort geben, aber momentan ist es das, was mir Kraft gibt.

König: Lizzie Doron, vielen Dank, thank you very much! Lizzie Doron, die israelische Schriftstellerin im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur. Heute Abend wird sie in Berlin zu erleben sein. Im Literaturhaus in der Fasanenstraße wird sie lesen aus ihrem Buch "Es war einmal eine Familie", Beginn 20 Uhr. Ich danke Ihnen!

Doron: Danke schön! Vielen Dank!