Fasse dich kurz!
Absolute REDEFREIHEIT steht in riesigen Lettern auf dem Plakat, neben dem Bild einer hübschen jungen Frau, die so strahlend lächelt, als habe sie gerade eben einen Orgasmus gehabt; in der Unterzeile ist von einer supergünstigen Flatrate die Rede, die dem User, wie der Verbraucher heute heißt, Zugang in alle Netze verschafft.
Die überdimensionale Werbung prangt an einem symbolischen Ort, auf halbem Weg zwischen Bahnhof Friedrichstraße und Berlins neuem Hauptbahnhof, in Sichtweite des Reichstags und des Bundeskanzleramts.
Das als Blickfang dienende Wort REDEFREIHEIT wirkt wie eine Verhöhnung des vom Volk gewählten Parlaments und der Mitarbeiter und Besucher des Reichstags, die aus der verglasten Kuppel in den Plenarsaal des Bundestages herabschauen. Denn es besagt das Gegenteil dessen, wofür die Abgeordneten des in der Frankfurter Paulskirche tagenden ersten deutschen Parlaments kämpften, ähnlich wie die Deputierten der Nationalversammlung am Vorabend der französischen Revolution, als sie feierlich schworen, nur der Gewalt der Bajonette zu weichen. Das war am 20. Juni 1789 im Ballhaus von Versailles, und seitdem ist viel Wasser die Seine herabgeflossen und viel Blut vergossen worden für die Durchsetzung von Bürgerrechten, unter denen die Rede- und Meinungsfreiheit stets an vorderster Stelle stand: Von der Bill of Rights der Vereinigten Staaten über den Freiheitskampf der spanischen Kolonien Lateinamerikas bis zur Februarrevolution in Russland, deren liberale Ansätze Lenin und Stalin in ihr Gegenteil verkehrt wurden. Und von den Meiji-Reformen zur Modernisierung Japans bis zum Massaker auf dem Tien-An-men-Platz in Peking und weiter bis zur Ermordung der mutigen Journalistin Anna Politkowskaja, die es gewagt hatte, den Tschetschenienkrieg zu kritisieren, war und ist die Meinungsfreiheit ein viel zu ernstes Thema und ein viel zu hohes Gut, um es dem Blabla der Werbeprofis zu überlassen.
Ist dieser Einwand nicht humorlos und geht an der Sache vorbei, weil zur Meinungsfreiheit auch die Chance gehört, unzensiert zu werben für Produkte, deren Vermarktung zum Aufschwung der Wirtschaft und damit zum Wohlergehen der Gesellschaft beiträgt? Und sind Vorurteile gegen Reklame nicht reaktionär, weil das Recht, den Zeitgeist satirisch beim Wort zu nehmen, kein Privileg linker Intellektueller ist und die Werbung genauso kreativ sein darf und darf wie Kunst oder Literatur? Ja und nein, denn im eingangs zitierten Kontext bedeutet Redefreiheit die Negation all dessen, wofür Generationen von Männern und Frauen, oft unter Einsatz ihres Lebens, stritten: Was davon unter dem Strich übrig bleibt, ist einfach nur die Freiheit, so lange zu quasseln und zu quatschen, zu plaudern oder zu schwatzen, bis die Telefoniersucht befriedigt ist. Anders als im Parlaments- oder Gerichtssaal, in Kirche, Schule und Universität, wo für das Gemeinwohl wichtige Fragen erörtert wurden, geht es hier nicht mehr um die Qualität des Denkens bzw. des Redens, sondern einzig und allein um dessen schier unbegrenzte Quantität – das genaue Gegenteil dessen, was früher in jeder Telefonzelle zu lesen war: Fasse dich kurz! Dieses kommerziell verflachte Verständnis von Redefreiheit bestätigt ungewollt ein populäres, nein: populistisches Vorurteil, das bis heute bei rechten wie linken Verächtern der Demokratie anzutreffen ist: Dass Parlamente Quasselbuden sind, und dass eine Kompanie Soldaten genügt, um jede gewählte Volksvertretung aufzulösen, ihre Abgeordneten zu verhaften oder zum Teufel zu jagen – ein Satz, den Hitler und Stalin nicht nur unterschrieben, sondern nach dem sie auch gehandelt haben.
Oder sind Aufrufe zum Konsumverzicht am Ende kontraproduktiv, weil die Deutschen nicht zuviel, sondern viel zu wenig konsumieren, sprich: telefonieren? Demnach wäre das endlose Gequatsche und Getratsche, mit oder ohne Flatrate, keine akustische Umweltverschmutzung und auch kein Energieverschleiß, sondern ein heroischer Versuch zur Rettung der durch Kundenabwerbung und Streiks geschwächten Telekom? Dieser Einwand ist leicht zu widerlegen, denn der Slogan "absolute Redefreiheit" stammt nicht von T-Mobile, sondern von der Konkurrenz.
Hans Christoph Buch, 1944 in Wetzlar geboren, wuchs in Wiesbaden und Marseille auf und las im Jahr seines Abiturs (1963) bereits vor der Gruppe 47. Mit 22 Jahren veröffentlichte er seine Geschichtensammlung ‘Unerhörte Begebenheiten’. Ende der 60er Jahre verschaffte er sich Gehör als Herausgeber theoretischer Schriften, von Dokumentationen und Anthologien. Auch mit seinen Essays versuchte er, politisches und ästhetisches Engagement miteinander zu versöhnen. Erst 1984 erschien sein lang erwartetes Romandebüt: "Die Hochzeit von Port au Prince". Aus seinen Veröffentlichungen: "In Kafkas Schloß", "Wie Karl May Adolf Hitler traf", "Blut im Schuh", 2004 erschien "Tanzende Schatten".
Das als Blickfang dienende Wort REDEFREIHEIT wirkt wie eine Verhöhnung des vom Volk gewählten Parlaments und der Mitarbeiter und Besucher des Reichstags, die aus der verglasten Kuppel in den Plenarsaal des Bundestages herabschauen. Denn es besagt das Gegenteil dessen, wofür die Abgeordneten des in der Frankfurter Paulskirche tagenden ersten deutschen Parlaments kämpften, ähnlich wie die Deputierten der Nationalversammlung am Vorabend der französischen Revolution, als sie feierlich schworen, nur der Gewalt der Bajonette zu weichen. Das war am 20. Juni 1789 im Ballhaus von Versailles, und seitdem ist viel Wasser die Seine herabgeflossen und viel Blut vergossen worden für die Durchsetzung von Bürgerrechten, unter denen die Rede- und Meinungsfreiheit stets an vorderster Stelle stand: Von der Bill of Rights der Vereinigten Staaten über den Freiheitskampf der spanischen Kolonien Lateinamerikas bis zur Februarrevolution in Russland, deren liberale Ansätze Lenin und Stalin in ihr Gegenteil verkehrt wurden. Und von den Meiji-Reformen zur Modernisierung Japans bis zum Massaker auf dem Tien-An-men-Platz in Peking und weiter bis zur Ermordung der mutigen Journalistin Anna Politkowskaja, die es gewagt hatte, den Tschetschenienkrieg zu kritisieren, war und ist die Meinungsfreiheit ein viel zu ernstes Thema und ein viel zu hohes Gut, um es dem Blabla der Werbeprofis zu überlassen.
Ist dieser Einwand nicht humorlos und geht an der Sache vorbei, weil zur Meinungsfreiheit auch die Chance gehört, unzensiert zu werben für Produkte, deren Vermarktung zum Aufschwung der Wirtschaft und damit zum Wohlergehen der Gesellschaft beiträgt? Und sind Vorurteile gegen Reklame nicht reaktionär, weil das Recht, den Zeitgeist satirisch beim Wort zu nehmen, kein Privileg linker Intellektueller ist und die Werbung genauso kreativ sein darf und darf wie Kunst oder Literatur? Ja und nein, denn im eingangs zitierten Kontext bedeutet Redefreiheit die Negation all dessen, wofür Generationen von Männern und Frauen, oft unter Einsatz ihres Lebens, stritten: Was davon unter dem Strich übrig bleibt, ist einfach nur die Freiheit, so lange zu quasseln und zu quatschen, zu plaudern oder zu schwatzen, bis die Telefoniersucht befriedigt ist. Anders als im Parlaments- oder Gerichtssaal, in Kirche, Schule und Universität, wo für das Gemeinwohl wichtige Fragen erörtert wurden, geht es hier nicht mehr um die Qualität des Denkens bzw. des Redens, sondern einzig und allein um dessen schier unbegrenzte Quantität – das genaue Gegenteil dessen, was früher in jeder Telefonzelle zu lesen war: Fasse dich kurz! Dieses kommerziell verflachte Verständnis von Redefreiheit bestätigt ungewollt ein populäres, nein: populistisches Vorurteil, das bis heute bei rechten wie linken Verächtern der Demokratie anzutreffen ist: Dass Parlamente Quasselbuden sind, und dass eine Kompanie Soldaten genügt, um jede gewählte Volksvertretung aufzulösen, ihre Abgeordneten zu verhaften oder zum Teufel zu jagen – ein Satz, den Hitler und Stalin nicht nur unterschrieben, sondern nach dem sie auch gehandelt haben.
Oder sind Aufrufe zum Konsumverzicht am Ende kontraproduktiv, weil die Deutschen nicht zuviel, sondern viel zu wenig konsumieren, sprich: telefonieren? Demnach wäre das endlose Gequatsche und Getratsche, mit oder ohne Flatrate, keine akustische Umweltverschmutzung und auch kein Energieverschleiß, sondern ein heroischer Versuch zur Rettung der durch Kundenabwerbung und Streiks geschwächten Telekom? Dieser Einwand ist leicht zu widerlegen, denn der Slogan "absolute Redefreiheit" stammt nicht von T-Mobile, sondern von der Konkurrenz.
Hans Christoph Buch, 1944 in Wetzlar geboren, wuchs in Wiesbaden und Marseille auf und las im Jahr seines Abiturs (1963) bereits vor der Gruppe 47. Mit 22 Jahren veröffentlichte er seine Geschichtensammlung ‘Unerhörte Begebenheiten’. Ende der 60er Jahre verschaffte er sich Gehör als Herausgeber theoretischer Schriften, von Dokumentationen und Anthologien. Auch mit seinen Essays versuchte er, politisches und ästhetisches Engagement miteinander zu versöhnen. Erst 1984 erschien sein lang erwartetes Romandebüt: "Die Hochzeit von Port au Prince". Aus seinen Veröffentlichungen: "In Kafkas Schloß", "Wie Karl May Adolf Hitler traf", "Blut im Schuh", 2004 erschien "Tanzende Schatten".