Fantasy

Zweigeteilte Welt

Von Gertrud Lehnert · 10.01.2014
In einer nicht mehr ganz fernen Zukunft sind London und Oxford zu düsteren Orten einer totalitären Diktatur geworden. Mittendrin die Romanheldin Paige, die sich gegen Sklaverei und Unterdrückung zur Wehr setzen muss.
London 2059. Die Welt ist zweigeteilt: Es gibt die "Normalen", die das herrschende totalitäre Regime Scion akzeptieren und unterstützen. Und es gibt die übersinnlich Begabten: Wahrsager, Medien, Nekromanten, Traumwandler und viele mehr, die erbarmungslos verfolgt, umgebracht oder deportiert werden. So werden sie in den Untergrund und in die Kriminalität gezwungen.
Die 19-jährige Paige Mahony gehört zu einer erfolgreichen Gang im Londoner Untergrund. Sie wird als "eine Art Überwachungsgerät" eingesetzt, denn sie besitzt die außergewöhnliche Fähigkeit, "die feinen Spuren von Traumlandschaften und bösen Geistern" zu spüren, von "Dingen, die außerhalb meines Selbst existierten."
Eines Tages wird sie erwischt. Und findet sich wieder in der in eine Strafkolonie verwandelten Stadt Oxford. Dort herrschen die grausamen "Rephait", Wesen mit übermenschlichen Fähigkeiten, die die Übersinnlichen als Sklaven halten und sich von ihrer Lebenskraft nähren.
Ambivalenz von Gut und Böse
Die rebellische Paige hat das Glück, einem Rephait zugeordnet zu werden, der es aus unerfindlichen Gründen nicht schlecht mit ihr meint. Dennoch will sie zurück in ihr eigenes Leben und schmiedet Fluchtpläne. Aus dieser Konstellation entwickelt sich die spannende Handlung weiter, in der es letztlich um Menschenwürde und Tyrannei, um Freiheit und Sklaverei, Solidarität und Feigheit, Anpassung und Rebellion geht. Und das ganz ohne erhobenen Zeigefinger. Am Ende drehen sich alle Maßstäbe um. Es stellt sich heraus, dass das scheinbar so mächtige Scion von den Rephait abhängig ist und diesen gezwungenermaßen ständig neue Übersinnliche liefert. Aber auch, dass nicht alle Rephait ihrem eigenen, ebenfalls totalitären Regime treu sind - und schließlich auch, dass sogar Paiges Gang in London mitnichten nur auf der Seite der "Guten" anzusiedeln ist.
Die Betonung der Ambivalenz von Gut und Böse gehört zu den Stärken des Romans. Die Qualität der Beschreibungen liegt weniger im farbenfrohen Malen von Bildern in Worten, als in der fesselnden und emotional starken Schilderung der zu dystopischen Orten umgestalteten Städte London und Oxford. Die Figuren sind insgesamt sehr gut charakterisiert, wenn auch nicht immer bis ins Kleinste überzeugend ausgestaltet. Manches ist überzeichnet, so die nie nachlassenden körperlichen und psychischen Fähigkeiten der Heldin. Aber das gehört zum Genre. Eine gewisse Banalität droht auch hier, wie in vielen Fantasyromanen, wenn sich eine Liebesgeschichte anbahnt.
Großartige Dystopie
Solche kleineren Mängel mindern die Qualität dieser großartigen Dystopie nicht. Die Fantasyliteratur leidet zu weiten Teilen unter Trivialität, der mittelmäßigen Imitation erfolgreicher Muster und Schwarzweißmalerei. Dieser anspruchsvolle Roman aber ist originell, fantasievoll, überzeugend, anregend und von der ersten bis zur letzten Seite fesselnd - und unbedingt empfehlenswert.

Samantha Shannon: The Bone Season / Die Träumerin
Roman
Aus dem Englischen übersetzt von Charlotte Lungstrass-Kapfer
Bloomsbury Verlag, Berlin 2013
606 Seiten, 16,99 Euro

Mehr zum Thema