Fantastische Welten

Skulptur aus zerlegten Rechnern und Radios von A.C.M.
Skulptur aus zerlegten Rechnern und Radios von A.C.M. © Fotografie: collection abcd, Paris
Von Volkhard App |
Adolf Wölfli, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit geradezu manischer Schaffenskraft Ornamente entwarf, ist der bekannteste Künstler in dieser Schau. Sein Kollege A.C.M. schlachtet Computer aus und baut daraus Skulpturen.
Geheimnisvolle Werke sind es und wunderliche Geschichten. Wann immer Madge Gill mit feinen Strichen und in lieblichen Farben Gesichter und Pflanzenornamente zu Papier brachte, glaubte sie fest, von einem Geist angeleitet zu werden. Emery Blagdon wiederum versuchte, in einem Schuppen mit Hunderten von Bildern und Skulpturen der Erde elektrische Energien zu entziehen und in seine "Heilmaschine” einzuspeisen. Martina Weinhart, die Frankfurter Kuratorin:

""Der Hintergrund: Seine Eltern und manche seiner Geschwister sind an Krebs gestorben und deshalb hat er diese ‘Healing Machine’ erstmal als Antikrebsmaschine gebaut. Die ist dann entdeckt worden, weil er diese vielen fantastischen Draht-Skulpturen und die Bilder mit einer Funktion belegt und entsprechend ausgestattet hat.”"

Ein französischer Künstler mit dem Kürzel A.C.M. schlachtet Computer und Transistorradios aus und baut aus den kleinen Elementen bizarre Skulpturen. Während Judith Scott allerlei vorgefundene Gegenstände mit einem Konkon aus Wolle umgibt und so ebenfalls fantastische Skulpturen schafft.

"Outsider Art” nennt man diese Kunst in der Schirn und nimmt damit einen Begriff aus den frühen siebziger Jahren auf, der auf die gesellschaftliche Randstellung dieser Akteure zielt, zugleich aber Unschärfen aufweist.

Vor allem klingt er einfach zu schön, während die jeweiligen Biografien doch von psychischen Blessuren und oft auch von Anstaltsaufhalten überschattet sind. Welche Rolle also spielen solche Erkrankungen für die eigenwilligen Formen und die Ausdrucksstärke dieser Bilder und Objekte? Weinhart:

""Das ist keine Frage, die ich mir im Kern stelle. Es geht auch gar nicht darum, herauszufinden, welche Formen mit einer Psychose oder mit Autismus zu tun haben. Ich will zeigen, welches Potenzial in dieser Kunst steckt, die ja fast eine Antithese zur Gesellschaft ist, in der wir uns im Moment befinden - zum ‘rationalistischen Zeitalter’. Für die Unvernunft ist da nicht soviel Platz. Effizienz ist das Stichwort unserer Gesellschaft. Und darum geht es in dieser Kunst gar nicht.”"

Auffällig ist der Hang zu Raum- und Wohninstallationen: Diese unermüdlichen Produzenten umgaben sich wie Karl Junker mit geschnitzten Skulpturen und archaischen Bauten oder bedeckten wie August Walla die Wände mit allerlei Motiven und Parolen, so dass selbst Jonathan Meese gestaunt hätte.

Der bekannteste Künstler in dieser Schau ist Adolf Wölfli, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit geradezu manischer Schaffenskraft Zahlenkolonnen niederschrieb und Ornamente entwarf. Die Ärzte staunten, wie schnell dieser Mann seine Blei- und Buntstifte verbrauchte.

Ihm auch war schon 1921 unter dem Titel "Ein Geisteskranker als Künstler” eine wegweisende Schrift gewidmet. Der Heidelberger Arzt Hans Prinzhorn sammelte und analysierte Werke von Patienten, Jean Dubuffet hob sie als Beispiele einer rohen, vitalen, nicht verbildeten Kunst hervor, und Harald Szeemann richtete ihnen 1972 auf der Documenta eine eigene Abteilung ein. Durch die vielen Ausstellungen im Laufe der Zeit dürften die heutigen Kuratoren mit ihren "Outsidern” offene Türen einrennen. Weinhart:

""Das würde ich mir wünschen. Natürlich rennt man in Teilen der Gesellschaft mit einem solchen Projekt offene Türen ein. Obwohl ich das Gefühl habe, dass es Zeiten gegeben hat - um 1968 zum Beispiel -, in denen man weitaus stärker an dieser Kunst und der ganzen Gedankenwelt interessiert war. Aber es gibt auch heute viele Künstler, die ‘Art Brut’ oder ‘Outsider Art’ oder wie immer man es nennen will, sammeln.”"

In Frankfurt hat man sich klugerweise auf 14 Künstlerinnen und Künstler mit jeweils mehreren Werken konzentriert, so dass wirkliche Begegnungen mit dem jeweiligen Kosmos möglich sind bei diesem Gang durch mehr als hundert Jahre "Outsider"-Geschichte.

In der Gegenwart angekommen, trifft man auf den autistisch geprägten George Widener aus North Carolina, der vor allem durch sein phänomenales Zahlengedächtnis auffällt. Aus diesem Fundus schöpft er auch bei seinen verspielten Gemälden. Auf einem hat er Sonntage aufgelistet, an denen Flugzeuge abstürzten:

""Ich habe daran gedacht, dass die Menschen an Sonntagen die Kirche zum Gebet aufsuchen. An Sonntagen stürzen aber auch Flugzeuge ab. Und da hatte ich die Vorstellung, dass genau zu diesem Zeitpunkt, wenn gebetet wird, ein Flugzeug herunterkommt, und die Menschen darin beten auch. Diese Vorgänge stehen in einer inneren Beziehung zueinander, die mich bewegt. Und da habe ich diese Daten zusammengestellt. Es mag witzig erscheinen, regt aber auch zum Nachdenken an.”"

Das Zeichnen und Malen ist für ihn ein elementarer Vorgang, dem er sich nicht entziehen kann:

""Ich steigere mich in einen bestimmten Rhythmus hinein, man könnte es Trance nennen. Und wenn ich in dieser Trance bin, kann ich besondere Dinge verwirklichen.”"

Sicherlich wirft diese Ausstellung Fragen auf - nicht nur die übliche nach dem Verhältnis von "normal” und "anomal”, sondern auch die nach der Trennlinie zwischen diesen Künstlern und renommierten Vertretern der klassischen und zeitgenössischen Moderne, deren fantastische Welten man in einem solchen Zusammenhang ja niemals zeigen würde.

Für die Qualität dieser Schau spricht, dass sich der Besucher jenseits aller Krankheitsgeschichten von der expressiven Kraft der Arbeiten einfangen lassen kann und diese "Weltenwandler” dann, soweit es überhaupt möglich ist, ein Stück auf ihrem Weg begleitet. "Weltenwandler” - noch so ein schönes Wort.

Die Ausstellung "Weltenwandler" ist vom 24. September 2010 bis 9. Januar 2011 in der Schirn Kunsthalle in Frankfurt am Main zu sehen.