Fantastik auf flämische Weise

18.08.2009
Eine Kostbarkeit aus der niederländischsprachigen Nachkriegsliteratur: Hubert Lampo lässt das flämische Antwerpen zum Schauplatz von seltsamen Gleichzeitigkeiten und bedeutsamen Zufällen werden - nebst Wiedergängern, jungschen Archetypen, zarter Liebesgeschichte und Einbruch des Fantastischen.
Antwerpen 1959. In der Stadt an der Schelde lebt der Journalist und Schriftsteller Frederik "Freek" Groenevelt, Junggeselle, in seinen täglichen Abläufen und Nickligkeiten gefangen; ein Mann mit traumatischer Kriegserfahrung, und doch in sich ruhend, solange er sein Kopje Koffie und sein Pintje Bier genießen und sich an der Durchsichtigkeit dünner Sommerkleidchen im Gegenlicht erfreuen kann.

Die konservativ-altväterliche Attitüde des Bonvivant wird empfindlich gestört durch die Ankunft des Briefes eines gewissen Joachim Stiller – ein Brief, der offensichtlich anderthalb Jahre vor Groenevelts Geburt aufgegeben wurde und doch präzise die kürzlich geschehenen Ausbesserungsarbeiten an einer Antwerpener Straße und einen daraufhin von Groenevelt verfassten Artikel beschreibt. Weitere Ort-Zeit-Verrückungen folgen: Joachim Stiller ist sowohl der Name eines Renaissance-Mystikers als auch eines amerikanischen Soldaten, der damals im bombardierten Antwerpen vor den Augen des jungen Groenevelt starb.

Der mysteriöse Stiller scheint allgegenwärtig, sein Einfluss reicht bis in das Leben der schönen Mathematikerin Simone, die Groenevelt bei seinen Recherchen kennenlernt. Es entspinnt sich eine zarte Liebesgeschichte, während in Antwerpen Gerüchte vom Weltuntergang die Runde machen. Freek und Simone fühlen sich wundersamer Weise durch den mysteriösen Stiller geschützt – bis der eines Tages seine Ankunft ankündigt: Um halb neun Uhr abends wird er am Südbahnhof erscheinen ... eine Materialisation, die nur der Anfang eines fantastischen Messias-Geschehens ist.

Magischer Realismus in einer typischen flämischen Ausprägung: Lampo verwebt belgischen Alltag im langsam wieder auflebenden Nachkriegs-Antwerpen mit dem Nachdenken über bedeutsame Gleichzeitigkeiten. Er gibt C.G. Jungs Archetypuskonzept in Form des Erlösers Stiller einen Körper – und schreibt nebenbei die Geschichte eines Junggesellen, der die Sinnlichkeit wieder entdeckt. Die Fantastik des Geschehens wird so sachte in den Alltag hinein erzählt, dass man auf der Höhe der Protagonisten jeder Volte folgen, an jedem Erstaunen teilhaben kann.

Hubert Lampo, Jahrgang 1920, vor drei Jahren gestorben, gehört zu den Klassikern der flämischen Nachkriegsliteratur. Kein Wunder, dass dieses Buch jahrzehntelang Schullektüre in Flandern war: Die Symbolhaftigkeit der Handlung, die mythischen Ebenen, das Verwirrspiel der handelnden Personen, die mannigfachen Zeitbezüge, schließlich der fulminante – und etwas kitschige – Schluss laden so deutlich zum Interpretieren ein, dass man einen Abiturjahrgang damit ein halbes Jahr lang auf Trab halten kann.

Erstaunlich allerdings, dass "Die Ankunft des Joachim Stiller" – ein Roman, der an die deutschsprachige Jahrhundertwende-Fantastik, allen voran an Gustav Meyrinck oder an Alfred Kubins "Andere Seite" erinnert – erst ein halbes Jahrhundert nach seinem Entstehen in der deutschen Übersetzung greifbar ist. Ein Verdienst der hübschen "Entdeckungen"-Reihe des Mitteldeutschen Verlages. Die Ausgabe lässt an eines dieser schönen alten Herrenhemden aus den späten 50ern denken: ein architektonisches Einbandmuster – dem flämischen Verband nachempfunden, einer besonderen Art, in Belgien die Ziegel zu setzen – freut ebenso wie die atmosphärisch zwischen die Seiten gestreuten Fotografien eines jungen Hallenser Künstlers. Aus der "Entdeckung" des Mitteldeutschen Verlages wird eine fantastisch-sinnliche Begegnung: die lang überfällige Ankunft des Hubert Lampo im deutschen Sprachraum.

Besprochen von Katrin Schumacher

Hubert Lampo: Die Ankunft des Joachim Stiller
Aus dem flämischen Niederländisch von Herbert Genzmer
Mit Illustrationen von René Norbert Schäffer
Mitteldeutscher Verlag, Bibliothek der Entdeckungen Band 3, Halle 2009
240 Seiten, 19,90 Euro