Fantasie als kostbares Gut

Mit der Erzählung "Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein" ist dem Multimediakünstler André Heller eine elegante Selbstinszenierung aus der Perspektive eines Ich-Erzählers geglückt. Als Sprössling einer Süßwaren-Dynastie erlebte auch er wie sein Protagonist die Internatszeit im Jesuitenkolleg als eine katholische "Glaubenskaserne". Katholizismus und Despotismus werden zur traumatischen Personalunion. Die Fantasie wird zu einem kostbaren Gut, um der seelischen und körperlichen Ohnmacht Herr zu werden.
Es soll eine Sünde sein, dass sich Paul Silberstein wünscht, lieber als Schwalbe und nicht als "Zögling Nummer 42" im katholischen Internat aufzuwachen. Paul ist Sohn des wohlhabenden Wiener Süßwarenfabrikanten und angesehenen Kommerzialrates Roman Silberstein. Bei den Jesuiten soll das Kind die Strenge moralischer Sittlichkeit und Ordnung lernen.

Der Zwölfjährige aber ist ein renitenter Einzelgänger, dem die animalischen Derbheiten seiner Mitinsassen Ekel bereiten. Paul spürt vom ersten Tag an, dass er "am falschen Ort und bei den falschen Leuten" ist. So schmiedet die kindliche Fantasie Fluchtpläne, um der sadistischen Internats-Tristesse zu entkommen, in der die Kälte der Wiener Nachkriegszeit um ein Vielfaches potenziert scheint.

Die Fantasie wird zu einem kostbaren Gut, um der seelischen und körperlichen Ohnmacht Herr zu werden. Wie ein Schutzschild trägt er sie fortan vor sich her. In nächtlichen "Trostbesuchen" bei der Mutter erinnert er sich der grazilen Gestik ihrer wärmenden Hände, um gegen körperliche Übergriffe gefühllos zu bleiben. Sehnsüchtig spürt seine Nase in der Erinnerung dem verführerischen Duft ihres Parfüms nach, von dem das Elternhaus erfüllt war. Pauls Sinnesorgane werden zum "Ausbruchswerkzeug", um zwei Hindernisse zu überwinden: seine Angst und seinen Vater.

In André Hellers Erzählung tauchen viele Fakten und Episoden auf, die auf seine Biografie verweisen. Als Sprössling einer Süßwaren-Dynastie - sein Großvater war Mitbegründer der Wiener Süßwarenfabrik "Gustav & Wilhelm Heller" und Erfinder der Dragées - erlebte auch er das Jesuitenkolleg Kalksburg als eine katholische "Glaubenskaserne".

Um sich dieser "Kinderausgabe der heiligen Inquisition" zu widersetzen, flüchtete er nach eigener Aussage in "Traumexile", die er als "seelischen Luftschutzkeller" empfand. Sein Vater Stephan Heller starb wie Papst Pius XII. im Jahr 1958. Beider Ableben bildet die Ouvertüre zu Hellers Erzählung.

Der Grundakkord ist damit angeschlagen. Die Omnipräsenz dieser Machtzentren ist einem episodenhaften Erzählen unterlegt, in dem Katholizismus und Despotismus zur traumatischen Personalunion werden.

Mit der Erzählung "Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein" ist dem Multimediakünstler und Magier vernachlässigter Sinne eine elegante Selbstinszenierung aus der Perspektive eines Ich-Erzählers geglückt.

Der Rückschluss auf die banale Reproduktion biografischer Fakten verbietet sich jedoch. Zwar lugt aus etlichen Falten des Fabuliermantels Robert Musils Zögling Törleß hervor, doch steckt dazwischen unausgesprochen noch ein anderes Inferno.

Nach dem Jesuitenkolleg war André Heller Schüler des Privatgymnasiums in Bad Aussee, das von einem ehemaligen SS-Obersturmbannführer geleitet wurde. In einer Erzählung darüber käme zum Katholizismus und Despotismus noch der Faschismus hinzu.

Rezensiert von Carola Wiemers

André Heller: Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein. Eine Erzählung
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008,
138 Seiten, 16,90 Euro