Familientreffen wider Willen

05.08.2010
Bernd Lichtenberg erzählt in seinem ersten Roman von der schwierigen Selbstfindung einer zerrissenen Familie. Nüchtern schreibt er über etwas, was jede Verwandtschaft beschäftigt: die Lüge.
Als der Großvater stirbt, kommen sie alle noch einmal zusammen: die Söhne, der Enkel und ihre Frauen. Es ist ein Wiedersehen, das nicht geplant und nicht gewollt ist, dem sich nun aber alle stellen müssen: Andreas und Johannes, die Söhne des Verstorbenen, die sich Jahrzehnte nicht gesehen haben, Johannes' Frau Marianne und ihr Sohn Paul.

Was Bernd Lichtenberg dabei entstehen lässt, ist ein hochverdichtetes Kammerspiel, in dem sich erweist, wie unendlich schwer es in dieser Familie geworden ist, miteinander zu reden, sich offen gegenüberzutreten. Dabei gibt es gar kein dunkles Geheimnis, nirgends liegt eine Leiche im Keller. Man ist sich im Laufe der Jahre einfach aus dem Weg gegangen, man hat sich wenig zu sagen, und wenn doch, dann lügt man sich an – was vor allem die Männer mit Gleichgültigkeit zu nehmen scheinen.

Hier werden keine Kämpfe mehr ausgefochten, hier ist die Luft raus. Genau daraus entwickelt sich das eigentliche Familiendrama. Die Beteiligten bemerken ihre Entwurzelung erst bei diesem unfreiwilligen Treffen. Sie merken, wie fremd sie sich geworden sind, wie wenig sie miteinander verbindet und wie wenig sie noch erstreben. Keine Ziele, nirgends.

Paul täuscht seinen Eltern vor, Philosophie in Berlin studieren, braucht aber im Grunde nur einen Vorwand, um von ihnen ausgehalten zu werden. Er will die Großstadt unbeschwert genießen und sich nicht durch systematisches Arbeiten von Kneipen und Frauen ablenken lassen. Wobei sein Frauenbild weitestgehend auf die sexuelle Komponente beschränkt ist. Komplizierte Verbindungen sind dem wortkargen Einzelgänger ein Graus. Er ist sich bei alldem der "Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz" bewusst, was ihm wiederum als "abgeklärte Alltagsweisheit" erscheint. Oder anders gesagt, einen Satz weiter, ein "beschissenes Leben, aber selbstbestimmt".

Als Paul dann kurz vor der Beerdigung des Großvaters seinen Vater Johannes trifft, versucht er, das Lügenkonstrukt über seine angeblich voranschreitende Karriere aufrecht zu erhalten, hält es aber nicht lange durch. Ebenso wenig wie seine Mutter Marianne, die kaum mehr verbergen kann, dass sie einen Liebhaber hat. Am Ende wissen alle deutlich mehr voneinander, aber Bernd Lichtenberg widersteht in seinem ersten Roman glücklicherweise der Versuchung, einen Skandal mit schreienden Menschen, bösen Szenen und heftigen Abschieden zu inszenieren. Er bleibt bei seinem ruhigen Ton. Und er zeigt große Nähe zu seinen Figuren. Er kennt sie gut, er lässt sie nicht blass durch die Seiten schleichen, sondern zeichnet sie kräftig und klar, aber er beschützt sie, wenn es sein muss, er liefert sie nie aus, führt sie nie vor.

Bernd Lichtenbergs Romandebüt ist auf diese Weise ein unprätentiöses und gerade dadurch anrührendes Buch geworden – eines, in dem er fast schon nüchtern über etwas schreibt, was jede Familie beschäftigt: die Lüge. Das erinnert an Lichtenbergs großen Drehbucherfolg "Goodbye, Lenin!" Auch dort wird eine Realität vorgegaukelt, die längst nicht mehr existiert: die DDR.

Und dann ist da noch die Liebe, die Lichtenberg am Beispiel der ergrauten Ehe von Johannes und Marianne zeigt. Seine Analyse: es sind immer nur die Kleinigkeiten, es ist nie der ganze Mensch, den wir lieben. Vielleicht ist dies ein tröstender Gedanke, wenn sich der Leser wieder mal einer Illusion hingeben sollte, zum Beispiel der von der totalen Liebe.
Besprochen von Vladimir Balzer

Bernd Lichtenberg: Kolonie der Nomaden,
Rowohlt, Reinbek 2010, 221 Seiten, 17,95 Euro