Familienroman: "Winternähe"

Eine deutsch-jüdische Zustandsbeschreibung

Von Carsten Hueck · 03.08.2015
Lola ist in Ost-Berlin aufgewachsen, ihre Großeltern sind Holocaust-Überlebende - und sie begibt sich auf Identitätssuche. Mirna Funk hat mit "Winternähe" ein Generationenbuch geschrieben, in dem es vor allem um das deutsch-jüdisch-israelische Verhältnis geht.
Eigentlich ist dieses Buch viel zu schmal für die vielen Geschichten, die es in sich trägt. Für das Bündel widerstrebender Emotionen, die Menge kluger und provozierender Sätze, die hier ohne Unterlass abgefeuert werden. Eigentlich könnte man über jede der Figuren, die in dem Roman vorkommen, ein eigenes Buch schreiben und dazu noch eines über die gesellschaftlichen Phänomene, die sie verkörpern. Eigentlich müsste das ein überladenes Debüt sein – und ist doch ein mitreißendes Leseerlebnis.

Die junge, 1981 in Ost-Berlin geborene Journalistin Mirna Funk hat sich entschieden alles, was nicht unter einen Hut passt, zwischen zwei Buchdeckel zu pressen. Und ist damit zur Autorin geworden. Wenn man "Winternähe" aufschlägt, wirbeln einem scharfe Gegenwartspartikel wie Böen eines Eissturms um den Kopf. Es geht um deutsch-jüdische Geschichte, um den Krieg in Israel und den Antisemitismus derer, die sich für cool und links halten.

Lola, Mitte Dreißig, ist die stark autobiographisch eingefärbte Hauptfigur des Romans: Tochter eines deutschen Juden, dessen Eltern, nachdem sie den Holocaust überlebt hatten, als Kommunisten in die DDR gezogen waren. Der Sohn, abgebrochener Medizinstudent und egozentrischer Möchtegernrebell, begeht Republikflucht. Er lässt Lola mit ihrer ebenso egozentrischen Mutter zurück. Diese übergibt sie den Großeltern und so wächst Lola mit Geschichten von Fleckfieber, Konzentrationslagern und Emigration auf. Sie erlebt in der Schule Repressalien, später die Wende, und dann: den alltäglichen Antisemitismus unserer Tage. Er ist das Gravitationszentrum des Romans.
Reflexionen und Rückblicken der Protagonistin
Mirna Funk erzählt Lolas Geschichte in der Dritten Person, sie spielt in den letzten zwei Jahren und ist immer unterbrochen von Reflexionen und Rückblicken der Protagonistin. Eine Häufung antisemitischer Erlebnisse offenbart ihre Identitätskrise. Lola setzt sich stark mit der Geschichte ihrer Eltern und Großeltern auseinander, drei Generationen reiben sich hier aneinander, unterschiedlichste Lebenserfahrungen und -entwürfe, unterschiedliche politische Prägungen. Lola rechnet ab, listet auf, was alles schief gelaufen, was empörend und deprimierend ist. Zugleich ist sie eine witzige, souveräne, scharf denkende Großstadtbewohnerin – sie vereint in sich ihres Vaters Ungreifbarkeit, die Toughness ihrer im Heim aufgewachsenen Mutter und das Judentum ihrer Großeltern.

Hauptschauplätze sind Berlin, Tel Aviv und Thailand. Jeder dieser Orte steht für eine Phase in Lolas Leben, das sich am Ende des Romans nicht rundet, doch ein wenig zur Ruhe kommt.

"Winternähe" ist ein wichtiger Roman. Der radikalste von vergleichbaren Romanen deutschsprachiger Autoren und Autorinnen der "Dritten Generation", die sich mit jüdischer Identität auseinandersetzen. Was Mirna Funk zu Deutschland zu sagen hat, sollten wir ernst nehmen. Und uns von ihrer gelungenen Literarisierung eines Geschichtsbegriffs, der Gegenwärtiges als dauerhafte Intervention des Zurückliegenden proklamiert, besonders im Hinblick auf das deutsch-jüdisch-israelische Verhältnis, immer wieder herausgefordert fühlen.

Mirna Funk: "Winternähe"
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2015
342 Seiten, 19,99 EUR

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