Familienroman mit Thrillereffekten

22.02.2013
Professor Siem Sigerius hat es nicht leicht mit seinen Kindern: Seine Tochter betreibt mit ihrem Freund eine lukrative Porno-Website, sein Stiefsohn hat einen Menschen erschlagen. Dazu wird Sigerius, frisch zum Minister ernannt, erpresst.
Der Familienroman ist seit je (also mindestens seit den "Buddenbrooks") ein Familienzerfallsroman. Peter Buwalda spitzt die Sache in seinem Debüt noch zu. "Bonita Avenue" ist ein Patchworkfamilienexplosionsroman.

Historischer Mittelpunkt des niederländischen Bestsellers ist die Katastrophe von Enschede im Jahr 2000, als eine Feuerwerksfabrik in die Luft flog und ein ganzes Stadtviertel aussah wie nach einem Bombardement. Auf der realistischen Ebene werden die Hauptfiguren verschont, auch wenn sie teils in unmittelbarer Nähe der Unglückszone leben. Auf der symbolischen nicht: Denn eine solch gewaltige Explosion sende "Druckwellen" aus, die weitere Zerstörung anrichten; Katastrophen von solchem Ausmaß seien "Kreißsäle, in denen neue Katastrophen geboren werden".

Durch die Porno-Website sprudelt das Geld
Es gibt drei Hauptfiguren, aus deren Perspektive wechselnd und in gekonnter zeitlicher Verschachtelung erzählt wird: Siem Sigerius, ein sportlicher Mittfünfziger, der sich aus kleinen Verhältnissen hochgearbeitet hat, bis er Mathematikprofessor und Rektor einer Universität wurde, seine selbstbewusste, attraktive Stieftochter Joni und der Fotograf Aaron Beever, der die besten und eifersüchtigsten Jahre seines Lebens an Jonis Seite verbracht hat und über der Trennung von der Geliebten im Wahn versinkt, "psychotisch wie ein Kreisel".

Zum zünftigen Familienroman gehören unerhörte Geheimnisse. Eines Tages kommt Professor Sigerius beim gefälligen Betrachten von Sex-Bildern im Internet (für Filme ist das Netz noch zu langsam) ein gräulicher Verdacht: Handelt es sich bei der schönen jungen Frau, die dort nichts vor ihm und hunderttausend anderen Männern verbirgt, etwa um seine Tochter Joni? Tatsächlich haben Joni und Aaron (mit Joni als Hauptdarstellerin) eine Porno-Webseite aufgezogen, und seitdem sprudelt das Geld: Eine Premium-Yacht gehört zu ihrem Doppelleben.

Siem Sigerius, der Jazzfan und Judokämpfer, zerbricht über der Entdeckung – zumal er bei seinen Nachforschungen selbst in hochnotpeinliche Situationen gerät. Und dann gibt es noch einen veritablen Springteufel in der Handlung: Sigerius’ Stiefsohn aus erster Ehe, der missratene Soziopath Wilbert. Er hat einen Menschen mit Hammerschlägen getötet und wird gerade rechtzeitig wieder aus dem Gefängnis entlassen, um weiteres Unheil zu stiften. Als Siem Sigerius, soeben zum Wissenschaftsminister ernannt, von einem "Unbekannten" unflätige Drohanrufe bekommt und erpresst wird, brennt die Lunte Richtung Finale.

Dick aufgetragene Thrillereffekte
Inzest, Pornographie, Drogen, Betrug, Politiker-Erpressung, Messie-Verwahrlosung, Wahnsinn, Psycho-Szenen in Duschkabinen, Mord und Totschlag und eine splatterhaft zersägte Leiche – dergleichen kommt in den besten Familien vor. Aber vielleicht nicht alles auf einmal. Buwalda richtet ein hypertrophes Konfliktpotential an, das garantiert hochgeht wie eine Feuerwerksfabrik.

Als "niederländische Antwort auf Jonathan Franzen" wird der Sechshundert-Seiten-Wälzer jedoch zu Unrecht beworben. Franzens subtile Figurendarstellungen, sein psychologisch-sozialer Mikro-Realismus haben in "Bonita Avenue" keine Entsprechung, ungeachtet der handwerklichen Gediegenheit und mancher gekonnten Beschreibung. Stattdessen bekommt man Thrillereffekte, die so dick aufgetragen sind wie die Motivik des "Explodierens" und "Auffliegens". Es ist zu viel Explizites in diesem Roman, der sich immerhin spannend liest.

Peter Buwalda: "Bonita Avenue”
Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens
Rowohlt Verlag, Hamburg 2013
640 Seiten, 24,95 Euro