Familienkrankheit Magersucht

Moderation: Ulrike Timm · 13.06.2012
Selbst Neunjährige leiden heute schon an Magersucht. Das liege aber nicht nur am Schönheitswahn im Fernsehen, meint Martina Hartmann von der Beratungsstelle Dick & Dünn. Es gebe auch immer mehr Eltern, "die selbst ein überhöhtes Körperideal haben".
Ulrike Timm: Magersüchtige hungern sich aus dem Leben, Fettsüchtige haben keine innere Bremse und verschlingen, was ihnen unter die Finger kommt. Die Zahl der Essgestörten nimmt zu und, was besonders erschreckt, die Zahl der Jüngeren - nicht Jungendliche sind gemeint, sondern Kinder! Jede dritte Schülerin, so eine Studie des Jugendministeriums Brandenburg, jede dritte Schülerin zwischen neun und elf leidet an Frühformen von Essstörungen! Es gibt neunjährige Mädchen, die gemeinschaftlich Diätwettbewerbe veranstalten, und immer häufiger werden auch Jungen viel zu dick oder viel zu dünn. Wie hilft man? Darüber wollen wir mit einer Praktikerin sprechen, mit Martina Hartmann von der Beratungsstelle Dick & Dünn. Schönen guten Tag, Frau Hartmann!

Martina Hartmann: Guten Tag!

Timm: Beobachten Sie das tatsächlich, dass die Ratsuchenden immer jünger werden?

Hartmann: Ja, das ist tatsächlich eine Erfahrung aus unserer Beratungspraxis, dass immer mehr Familien mit jüngeren Kindern zu uns in die Beratung kommen, die definitiv von Essstörung und Magersucht betroffen sind. Somit konnten wir beobachten, dass in den letzten Jahren immer mehr Neun-, Zehnjährige kamen, der jüngste Betroffene war acht, also, der hatte das Vollbild der Magersucht. Und das war vor wenigen Jahren noch anders, da fing das eher so mit 13 Jahren an, dass man dann sagte, das sei so etwa das Einstiegsalter für Essstörung. Das ist definitiv gesunken.

Timm: Neun Jahre, da sind die Kinder von der großen körperlichen Veränderung, der Pubertät, noch ein gutes Stück entfernt. Was treibt denn Kinder in die Magersucht?

Hartmann: Ja, das sind sehr unterschiedliche Faktoren. Also, sicherlich ist es so eine Gemengelage aus gesellschaftlichen Faktoren, wo natürlich die Schönheits- und Schlankheitsideale noch mal viel offensiver betrieben und sichtbar gemacht werden. Es gibt immer mehr solche Sendeformate, die auf Schlankheit und Schönheit abheben, wo es um Aussehen und Schlankheit geht. Es gibt aber auch immer mehr betroffene Eltern, die selbst auch ein überhöhtes Körperideal haben, selbst einem gewissen Schlankheitsideal sich unterwerfen oder einem Körperkult nachkommen, ich sage nur Stichwort Marathonlaufen und solche Dinge. Sodass das sicherlich so eine Mischung ist aus gesellschaftlichen Hintergründen, aus der Peergroup noch genährt, und dem, was die Eltern auch mitbringen.

Timm: Kann man dann da schon von Familienkrankheit sprechen?

Hartmann: Sicherlich, natürlich, klar! Einhergeht ja dann nicht nur ein Bild zum Thema Körper und Aussehen, sondern grundsätzlich, wie verhalten wir uns zum Thema Leistung, was muss ich in unserer Gesellschaft darstellen und bringen? Und ich habe schon das Gefühl, dass auch in sehr leistungsbewussten Familien gerade das Bild der Magersucht auch immer wieder auftritt.

Timm: Es ist in jedem Fall eine persönlich und sehr häufig eine Familiengeschichte. Trotzdem, kann man irgendwie festmachen, welche gesellschaftlichen Gruppen, welche Risikogruppen zum einen und zum anderen Bild neigen, wer eher magersüchtig wird und welche Kinder eher fettsüchtig werden? Kann man das festmachen oder geht das nicht?

Hartmann: Ich finde, das ist in letzter Zeit immer schwieriger geworden. Sicherlich, erst mal so ganz pauschal betrachtet kann man schon sagen: je höher der Bildungsgrad, umso eher die Magersucht. Aber es gibt da auch Einschränkungen, dass man auch gucken muss: Es gibt auch in bildungsferneren Schichten durchaus das Phänomen von Magersucht. Das hängt ein bisschen von der Ursache ab, wenn Gewalterfahrungen eine Rolle spielen, dann ist die soziale Schicht oder der Bildungsgrad meistens nicht so wichtig.

Timm: Es heißt ja, die Essstörungen, die würden von den Betroffenen lange verborgen. Wie kann das sein? Man sieht doch, wenn jemand nichts mehr isst, und man sieht ihm das an. Und wenn jemand bei Tisch sitzt und isst nichts mehr, das merkt man doch. Wie kann denn gerade noch ein Kind das versuchen zu verstecken, das Problem?

Hartmann: Ja, die Betroffenen sind ja auch sehr clever im Verbergen. Also, sie ziehen oft zwiebelartige Kleidung an, dass man das erst mal gar nicht so sieht, dass eine Gewichtsabnahme stattgefunden hat, finden sehr kluge Ausreden wie "Ich habe schon bei der Freundin gegessen" oder "Mir geht es gerade nicht gut, ich habe gerade eine Magen-Darm-Grippe", sodass sie eigentlich ganz geschickt um familiäre Essenssituationen drum herumkommen. Es ist immer wieder für Eltern oft ... ja, eine große Überraschung, oder sie entdecken das Kind mal aus Versehen beim Baden plötzlich nackt und sehen dann auf einmal, wie erschreckend dünn das Kind geworden ist!

Timm: Haben Magersüchtige eigentlich Hunger?

Hartmann: Natürlich haben die Hunger! Aber es besteht ja oft auch der Reiz darin, gerade diesen Hunger zu bekämpfen oder stärker zu sein als dieser Hunger.

Timm: Das heißt, die Sucht ist das, was als die persönliche Leistung verstanden wird?

Hartmann: Ja, genau. Also, die Sucht besteht darin, den Hunger möglichst lange auszuhalten, dem Bedürfnis nach Nahrung einfach nicht nachzukommen. Das ist oft der Kick, den das macht.

Timm: Ich gestehe, ich war schlicht entsetzt, als ich hörte, schon Neunjährige. Man dachte ja lange, das setzt so mit der Pubertät ein, wenn sich ein Körper so verändert, dass man vielleicht auch Zeit braucht, sich damit zu finden, und dann diese ganzen Pubertätsqualen sich dort spiegeln. Aber bei Kindern, da weiß man ja eigentlich gar nicht so richtig eine direkte Erklärung. Gut, Fernsehsendungen ... Aber trotzdem: Stehen Sie selber noch sprachlos davor oder gibt es schon ein Kinderbild der Magersucht oder ein Kinderbild der Fettsucht?

Hartmann: Ja, auch nicht so leicht zu beantworten. Also, letztlich braucht es da schon auch bestimmte familiäre Grundbedingungen und auslösende Situationen, die das Ganze dann wirklich in Gang bringen.

Timm: Beispiel?

Hartmann: Beispiel: Es kann sein, sehr, sehr häufig ist eine Trennungssituation der Eltern oder ein Elternteil wird lebensbedrohlich krank, an Krebs zum Beispiel, sodass dann die Kinder versuchen, mit Kontrollegewinnen übers Essverhalten ein Stück weit Sicherheit für sich zu gewinnen. Da hat das Essen einfach die Funktion beziehungsweise das Nichtessen die Funktion, sich zu schützen, sich abzulenken von unliebsamen Gefühlen, Gedanken, von Ereignissen, mit denen sie gefühlsmäßig einfach nicht zurechtkommen. Sodass man einfach dann sagen muss: Schönheitsideale alleine machen es alleine dann nicht mehr, es braucht dann schon auch so einen gewissen Nährboden, wo jemand emotional an einer Stelle steht, wo sie gerade nicht weiter weiß. Und da ist oft die Magersucht ein Ausdrucksmittel: Ich verdünnisiere mich, hallo, nehmt wahr, ich ziehe mich aus dem Kontakt, bitte kriegt das einfach mit! - Das ist oft Kinder- und Jugendsprache einfach.

Timm: Und wenn sich nun eine Familie und damit auch eine Kind - wenn die besonders betroffen sind in letzter Zeit - durchringt, nach Hilfe zu suchen, was kann man denn dann überhaupt tun?

Hartmann: Also, am einfachsten ist es natürlich definitiv, erst mal zu einer Beratungsstelle zu gehen, sich erst mal neutral beraten zu lassen und sich über das Hilfesystem informieren zu lassen. Definitiv, so eine psychosomatische Erkrankung, wie es offiziell heißt, braucht therapeutische Hilfe. Das kann man nicht alleine heilen, das geht auch nicht, dann nur an der Ernährungsschraube zu drehen und zu gucken, dass das Kind jetzt mehr isst, sondern es braucht letztlich Hilfe bei der Bewältigung der auslösenden Faktoren, der inneren Konflikte, die das Ganze mal ins Rollen gebracht haben. Und das schafft eine Familie nicht alleine.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton" im Gespräch mit Martina Hartmann über Essstörungen bei Kindern, die immer weiter zunehmen. Sie arbeitet bei der Beratungsstelle Dick & Dünn. Frau Hartmann, Sie haben beide Essstörungen unter einem Dach.

Hartmann: Ja.

Timm: Sind das denn tatsächlich beide Seiten einer Medaille?

Hartmann: Ja, tatsächlich. Also, wenn Sie jetzt von Magersucht und Esssucht sprechen, kann man sagen, dass die Ursachen manchmal gar nicht so unähnlich sind. Also, letztlich ist es bei beiden ein Versuch der Bewältigung von inneren Konflikten. Also, das Essen und Nichtessen hat bei beiden eine Funktion.

Timm: Aber man wundert sich ja: Also, auf der einen Seite die Neigung zur Selbstkasteiung, die Verweigerung ja auch der Sinnlichkeit, was zu essen. Und auf der anderen Seite die totale Hingabe an den Kontrollverlust beim Essen, die spüren ja nicht mehr, dass sie eigentlich schon gar keinen Hunger mehr haben. Und trotzdem eine Wurzel der Sucht?

Hartmann: Ja, auf jeden Fall! Also, letztlich leben wir ja, denke ich mal, schon auch in so einer Ganz-oder-gar-nicht-Gesellschaft. Also, es gibt viele Kinder, die früher mal so ein bisschen moppelig gewesen sind, die dann auf Diät gesetzt wurden, die dann extrem anfangen zu hungern, weil sie nicht mehr wollen, dass sie so wie früher mit Süßigkeiten sich vollstopfen. Also, es wird immer ein recht heftiges Gegenarbeiten versucht. Und oft ist man sehr ratlos dabei, so einen goldenen Mittelweg zu finden, also, wie kann ich mich so ernähren, dass ich als moppeliges Kind, moppeliger Jugendlicher nur ein bisschen abnehme, aber nicht so extrem. Also, das ist oft das Schwierige.

Timm: Sie haben es uns beschrieben: Wenn ein Kind in eine echte Sucht geraten ist, dann braucht es professionelle Hilfe. Nun sagt ja die Studie, jede dritte Schülerin zwischen neun und elf ist in der Gefahr, eine Frühform von Magersucht zu entwickeln. Da kann man wohl noch was tun, wenn man aufpasst! Wie können denn Eltern, Familien, Lehrer die Kurve kriegen, worauf sollen sie achten, damit aus der Frühform kein Vollbild wird?

Hartmann: Also, ich würde immer sehr aufmerksam werden, wenn das Mädchen oder der Sohn sich gedanklich sehr viel mit Essen, Nichtessen auseinandersetzt. Wenn es immer wieder äußert, es sei zu dick, obwohl es eigentlich gar nicht zu dick ist, wenn man ständig gefragt wird, wie viele Kalorien hat das, darf ich das essen, werde ich davon dick. Das sind so die Anfänge von Diätverhalten und riskantem Essverhalten, da würde ich dann schon auch noch mal nachhaken und mir da letztlich Rat holen und das Mädchen auch drauf aufmerksam machen und deutlich machen: Du, ich kriege das mit, dass du dich verstärkt mit Essen und Diäten und Dünnsein auseinandersetzt. Und dann nachhaken: Was ist eigentlich los mit dir? Das ist ein Ausdruck davon, dass es einem Kind nicht gut geht! Also, ein Kind, was sich wohlfühlt, das isst, wenn es Hunger hat, und hört auf, wenn es satt ist. Und so was kann man immer als Ausdruck sehen davon, dass es einem Kind nicht gut geht. Und ich würde dann immer nachfragen, was ist los.

Timm: Essen als Problem ... Ich habe mich gefragt, ganz naiv: Hilft eventuell schon die gemeinsame Mahlzeit am Tisch, Essen als Genuss, als Kommunikationsmittel, wir sitzen zusammen und reden und essen? Haben wir das im hektischen Alltag so sehr vergessen und verlernt, dass Genießen nicht mehr normal ist, schon für Kinder?

Hartmann: Ja, sicherlich, natürlich. Also, man muss sich das heutzutage mal angucken, wie Familienessen stattfinden: Da rennt jedes Familienmitglied heute fast zu einer anderen Zeit mit dem Coffee to go aus dem Haus. Sicherlich ist natürlich die Einnahme einer gemeinsamen Mahlzeit und sich in Ruhe hinsetzen, Genuss, selbst kochen, so etwas, das sind schon Dinge, die auch helfen, zu einem guten Hunger- und Sättigungsgefühl zu finden, ein gutes Körpergefühl zu entwickeln. Aber das ist es nicht nur. Also, ich erlebe das auch in Familien, wo all das auch gemacht wird, wo die Eltern wirklich sehr gesund kochen und sich wirklich auch in Ruhe hinsetzen. Das alleine scheint es nicht zu sein.

Timm: Martina Hartmann von der Beratungsstelle Dick & Dünn, ich danke Ihnen fürs Gespräch!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


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