Familien wie Du und Ich

Von Michael Laages |
Sam ist der einzige Mann in dieser Frauenrunde: Die Mutter trauert ihren wilden Zeiten hinterher und die Oma hadert mit Fehlverhalten in der Nazizeit. Lutz Hübners neues Stück "Nachtgeschichte" zeigt eine Familie, wie sie viele kennen.
Sie haben alle immer nur geschwiegen unterhalb der Oberfläche aus ganz viel hohlem Geschwätz; alle Jahre wieder im Sommer irgendwo an der See, wo das Familientreffen dreier Generationen stattfindet – Oma, die gerade 70 wird und zwei Töchter hat, beide Mitte 40, die wiederum je eine Tochter haben, eine gerade volljährig, die andere noch nicht ganz. Mutter Ulrike ist die Glucke, jobbt unglücklich in einer Buchhandlung, und die Tochter Lea will gerade ausbrechen, nach Australien; Mutter Jana war mal das wilde Huhn und ist jetzt als Künstlerin mäßig erfolgreich, ihre Tochter heißt Tanja und kommt sehr flippig und esoterisch daher.

Getrennt sind beide; Sam, Janas aktueller Freund, ist der einzige Mann in der Frauen-Runde. Und dass Autor Hübner ihn zum Rettungssanitäter macht, sagt schon ziemlich viel. Ob hier allerdings noch jemand zu retten ist, bleibt durchaus unklar – nach allerhand Nickligkeiten schon bei den ersten Begegnungen dieses Familien-Rituals reitet Jana die ganz große und grobe Attacke und wirft der immer sehr coolen, toughen Mutter "Nazigeschichten" vor.

Wenn's nun aber wenigstens wirklich darum ginge! Tatsächlich aber leidet Oma stark am Bunker-Trauma – bei Luftangriffen vor der Flucht aus Breslau starb an ihrer Seite ein kleiner, unbekannter Junge; und lebenslang wirft sie sich seither vor, dass sie ihn nicht retten konnte. Warum starb er, warum nicht sie? Und womit hat sie das Glück verdient, danach nicht direkt ins Inferno von Dresden geflüchtet zu sein, oder in den Feuersturm von Hamburg, von dem ihr neulich eine Bettnachbarin im Krankenhaus erzählt hat? Von diesen Erinnerungen, diesen "Geistern", kann sie bloß Tanja erzählen, der Enkelin; das ist die einzige, der sie vertraut. Die eigenen Töchter haben von all dem nie etwas erfahren.

Einmal mehr kommt Lutz Hübner, der meistgespielte zeitgenössische Dramatiker in Deutschland, einem starken Thema auf die Spur; wenn das Thema auch noch stärker wäre, wenn Oma tatsächlich "Nazigeschichten" hätte. So aber ist auch sie Opfer, und die Sympathien sind viel zu simpel verteilt – hier die Alte, die sich alles kathartisch von der Seele kämpft, und die zukunftsträchtig-verständnisvollen Enkelinnen, dort die beispielhaft fürchterlich in ihren verfahrenen Biografien gefangenen alten Mädchen der mittleren Generation. Dem Stück fehlen eine Menge Ebenen, männliche zumal, um aus dem Streit der Frauen ein tatsächlich gültiges Panorama der Generationen werden zu lassen.

Und Hübner fehlt, wie immer, die Sprache für den Abgrund – bis auf Omas große Katharsis bewegt sie sich wieder vor allem an den Oberflächen praktisch aller Figuren. Das mag diesmal zwar besonders angemessen sein – denn speziell Katharina Linders Ulrike ist ja durchaus mit Absicht beinahe abendfüllend mit nichts als Phrasen beschäftigt: um die Familie vor den "Geistern" zu retten. Und Bettina Engelhardt geht es als Jana kaum besser. Wer Dialoge wie "Habt Ihr eine gute Fahrt gehabt? Ja, wir sind gut durchgekommen" für bühnentauglich hält, wird auch hier wieder üppig bedient. Lutz Hübner ist das Trüffelschwein unter den Dramatikern heute: immer sicher im Griff nach den richtigen, wichtigen Themen, aber nur sehr bedingt befähigt, diesen Themen Tiefe zu verleihen. Halt wie im richtigen Leben, das ja auch überwiegend aus Geschwätz besteht – in Familien wie dieser, Familien wie Du und Ich.

Essens Schauspiel-Intendant Anselm Weber erzählt all das werkgerecht; und die Keifereien haben es schon in sich. Jutta Wachowiak blieb auch seit sie demonstrativ das Deutsche Theater in Berlin verließ, und regierenden Wessies dort, um nach Essen zu wechseln, die "grande dame", die sie früher stets war; kühl, knapp und konzentriert hat Hübner ihr als Oma Marika allemal den besten Part geschrieben. Aber auch die beiden Enkelinnen fallen auf – Barbara Hirt führt ihren Part ganz eng und verschlossen, wüste Ausbrüche inklusive, Friederike Becht würde als letztes Hippie-Mädel sogar den Geliebten der Mutter abschleppen, wenn ihr danach ist. Aber das wäre eine ganz andere Geschichte. Vor allem aber kann sie zuhören. Damit ist sie die einzige in diesem Spiel.

Eine Kritik über den Schriftsteller Siegfried Lenz las sich vor Jahren mal sinngemäß so: Seit langem versuchten auch wohlmeinende Freunde dem Autor zu erklären, warum er immer nur Bestseller und Erfolge zustande bringe, aber kaum etwas, was wesentlicher wäre als immer nur Erfolg; er aber schreibe trotz aller guten Ratschläge weiter immer bloß Hits. So etwa geht es dem Dramatiker Lutz Hübner auch. Und so wird es wohl auch bleiben.