Familie mit Händchen fürs Geld

30.11.2010
Paris - Brest, das ist die Reise aus dem Zentrum Frankreichs an seine äußerste Peripherie. Eine Strecke, die der Ich-Erzähler zurücklegt, um Familie und Heimatstadt wiederzusehen. Er bringt keine Geschenke mit, aber ein Manuskript.
"Paris - Brest" - scheinbar schlicht lautet der Titel des neuen Romans von Tanguy Viel und doch ist er äußerst vieldeutig. Paris - Brest, das ist die Reise aus dem Zentrum Frankreichs an seine äußerste Peripherie. Eine Strecke, die der Ich-Erzähler schließlich zurücklegen wird, um Familie und Heimatstadt wiederzusehen, die er mehrere Jahre zuvor verlassen hat. Er bringt keine Geschenke mit, aber ein Manuskript, in dem er seine Familiengeschichte als Roman verarbeitet hat. Und eine Patisserie namens Paris - Brest, ein mit Nougatbuttercreme gefüllter Brandteigkringel.

Viel schwerer noch als Buttercreme wiegt das Schicksal dieser Familie, in der es – wie schon in einigen Romanen Viels – immer wieder um Geld geht, das durch Heirat oder weniger legale Methoden erworben wird. Eine 18-Millionen-Erbschaft verspricht da ein Greis der Großmutter des Erzählers, sollte sie seine letzten Lebensjahre mit ihm teilen – nun gut, es sind "nur" Francs, bleiben aber mehr als zwei Millionen Euro. Eine unerheblich geringere Summe, 14 Millionen, verschwindet aus der Kasse des Fußball-Erstligaclubs Stade Brestois 29, dessen Vizepräsident der Papa des Ich-Erzählers ist. Die 200.000 Francs, die dieser aus Großmutters Wohnung klaut, um nach Paris zu ziehen, sich von der Familie zu befreien und Schriftsteller zu werden, fallen da eigentlich kaum ins Gewicht.

Jedenfalls scheint jene vergleichsweise bescheidene Summe gut investiert, denn zumindest gelingt es dem jungen Mann, sich von seiner dominanten Familie zu lösen und tatsächlich das oben genannte Manuskript zu verfassen.

Nun sind Bücher relativ junger Autoren – Tanguy Viel kam 1974 in Brest zur Welt - in denen junge Männer oder Frauen zu Schriftsteller(inne)n werden, nicht unbedingt der Gipfel der Originalität. Doch werden wir in diesem keineswegs mit der Beschreibung von Schreibblockaden, der Suche nach dem richtigen Wort oder Ähnlichem gelangweilt. Mit für ihn typischer Ironie und Leichtigkeit - "Paris - Brest" ist bereits Viels siebenter Roman und der dritte ins Deutsche übersetzte - skizziert er in knappen aber plastischen Schilderungen das Leben seines Ich-Erzählers. Von diesem erfahren wir nicht nur die (fiktionale) Realität einer Familiengeschichte, sondern auch, wie er sie als Autor literarisch aufgepeppt hat. Diese Einschübe mit Resümees verschiedener Szenen des Manuskripts sind durchaus amüsant.

Getragen wird die ganz Erzählung indes von der besonderen Stärke des realen Autors Viel, durch wenige, genau beobachtete Details vor dem inneren Auge des Lesers eine Szenerie samt Stimmung zu erzeugen, die so intensiv ist, dass die Versuchung entsteht, trotz der vielen und wenig glaubwürdigen Millionen nachzurechnen, ob der Ich-Erzähler nicht vielleicht mehr als nur den Geburtsort Brest mit Tanguy Viel gemein hat. Doch das Resultat ist eindeutig, die Daten stimmen nicht überein. Es ist also davon auszugehen, dass Viel trotz aller Vorliebe für perfekte Verbrechen in seinen Romanen, die dennoch keine Krimis sind, seine Karriere nicht dank 200.000 der Oma geklauter Francs begonnen hat.

Besprochen von Carolin Fischer

Tanguy Viel: Paris - Brest
Deutsch von Hinrich Schmidt-Henkel
Wagenbach, Berlin 2010
140 Seiten, 16,90 Euro