Familie macht stark
Ach, die Familie. Ständig wird sie totgesagt, ständig neu erfunden. Wissenschaftler beugen sich besorgt über sie, Politiker hoffnungsfroh, alle reden von ihr, brauchen sie, flehen sie herbei, subventionieren sie, bedauern und betrauern sie.
Sie ist die Keimzelle der Gesellschaft. Sie ist am Aussterben. Und sie ist, folgt man den Befragten der Nation, die einzige Hoffnung: über 80 Prozent, so eine Allensbach-Umfrage, verlassen sich im Notfall auf die Familie, heute mehr noch als vor zehn Jahren.
Was bleibt ihnen auch anderes übrig, mag sich der abgeklärt-nostalgische Zeitgenosse denken, wenn es doch an anderen Gemeinschaften fehlt wie am dörflichen Zusammenhalt oder an der guten Nachbarschaft. Aber wie lange wird es noch Familie geben?
Gemach. Noch ist niemand falsch beraten, der auf die Verwandtschaft setzt: entgegen aller Schreckensmeldungen wird die weitaus größte Zahl pflegebedürftiger Menschen, insbesondere der Alten, nicht ins Pflegeheim abgeschoben, sondern zu Hause versorgt. Von den Müttern, Ehefrauen und Töchtern. Zyniker oder Realisten – kommt ganz auf den Standpunkt an – sind schon deshalb gegen die allumfassende Berufstätigkeit von Frauen. Es gibt nun mal private Leistungen, die unbezahlbar und unersetzlich sind.
Aber wird das auch so bleiben angesichts wachsender Scheidungsraten und einer Zunahme der Kinderlosen? Wir schaffen mehr, nicht weniger Familie, tönt es da zweckoptimistisch bei den modernen Patchworkfamilien. Alte und neue Ehe- und Lebenspartner pflegen den vernünftigen Umgang miteinander zugunsten der Kinder, die dadurch in den Genuss kommen, mehr als zwei Erwachsene nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen.
Überhaupt, die Kinder: Je seltener sie werden, desto kostbarer sind sie. Es geht sogar das Gerücht, dass sie längst zum heimlichen neuen Statussymbol der wohlhabenden Elite der Gesellschaft geworden sind: Nicht, wie man bislang annahm, die unteren Schichten widmen sich dem, was die Gebildeteren der Karrierechancen wegen hintanstellen, sondern im Gegenteil: die Bessergestellten lassen es sich etwas kosten, Familie und Berufsleben miteinander zu verbinden.
Familie stirbt nicht aus – und der allgemeine und weltweite Bevölkerungsrückgang hat auch seine Vorzüge. Aber unzweifelhaft hat sich Familie verändert in den vergangenen Jahrzehnten, sind ihre Formen, Ausdrucksweisen, Rituale anders geworden.
Wer noch das Kaffeegeschirr von Eltern oder Großeltern der Kriegsgeneration irgendwo herumstehen hat – womöglich gar in der Vitrine, in der es früher schon präsentiert wurde – weiß, was gemeint ist: Wozu um Himmelswillen braucht es ein eigenes Kaffeeservice, wenn es das Ritual des sonntäglichen Kaffeetrinkens nicht mehr gibt, schon weil es ungesund ist und man genug anderes zu tun hat?
Familie als eine Einrichtung von Dauer mit festen Ritualen, als eine Institution mit Wurzeln in der Vergangenheit und Optionen auf die Zukunft, scheint wieder zum Adelsprivileg geschrumpft zu sein. Woran liegt das? An der erhöhten Bereitschaft von Paaren, sich scheiden zu lassen, wenn die Kinder aus dem Hause sind und kein Anliegen, kein gemeinsames Projekt die beiden Alleingelassenen noch verbindet?
Das alte Paar, das gerade seine eiserne Hochzeit gefeiert hat – geheiratet wurde vor 65 Jahren – hat drei Kinder, von denen trotz gestiegener Lebenserwartung keines auf eine solch lange Spanne des Zusammenlebens mit einem einzigen Partner wird zurückblicken können.
Dauer und Kontinuität verspricht auch nicht mehr das "Elternhaus", heute vielfach noch nicht einmal eine virtuelle Größe. Nur noch selten oder in ländlichen Gegenden baut man für die Ewigkeit oder auch nur für die Enkel und Urenkel. Allein der Gedanke daran ist den Deutschen womöglich ferner als anderen: die Kriegsgeneration hat gelernt und vermittelt, dass Elternhaus eine höchst fragile Angelegenheit sein kann, nichts, das den Zeitläufen standhält, nichts, in das man zurückkehren kann nach dem Krieg oder nach der Odyssee.
Und was ist mit der "guten Kinderstube", mit diesem portablen Elternhaus, das sie mit sich geführt haben damals, als das Elternhaus in Flammen aufgegangen war? Während etwa unter türkischen Einwanderern auf Familie und Tradition allergrößten Wert gelegt wird, glauben viele deutsche Eltern, ihren Kindern in dieser Hinsicht nicht viel mitgeben zu können. Die Entwurzelung der Eltern und Großeltern hat sich verwandelt in kosmopolitisches Einverständnis mit der Heimatlosigkeit. Doch dass die reine Gegenwart noch nicht zufrieden macht, zeigt sich nicht zuletzt an der geradezu untertänigen Beweihräucherung aller möglichen Abscheulichkeiten anderer Kulturen, solange man sie mit dem Etikett "kulturelle Eigenheit" beschönigen kann.
Gibt es eine aufgeklärte Weise, Familie mit Dauer, Verlässlichkeit und historischem Horizont zu verbinden? Vielleicht würde das mehr bewirken als die zigste steuerliche Subvention einer knapp werdenden Ressource.
Die Frankfurter Publizistin und Buchautorin Cora Stephan, Jahrgang 1951, ist promovierte Politikwissenschaftlerin. Von 1976 bis 1984 war sie Lehrbeauftragte an der Johann Wolfgang von Goethe Universität und Kulturredakteurin beim Hessischen Rundfunk. Von 1985 bis 1987 arbeitete sie im Bonner Büro des "Spiegel". Zuletzt veröffentlichte sie "Der Betroffenheitskult. Eine politische Sittengeschichte", "Die neue Etikette" und "Das Handwerk des Krieges".
Was bleibt ihnen auch anderes übrig, mag sich der abgeklärt-nostalgische Zeitgenosse denken, wenn es doch an anderen Gemeinschaften fehlt wie am dörflichen Zusammenhalt oder an der guten Nachbarschaft. Aber wie lange wird es noch Familie geben?
Gemach. Noch ist niemand falsch beraten, der auf die Verwandtschaft setzt: entgegen aller Schreckensmeldungen wird die weitaus größte Zahl pflegebedürftiger Menschen, insbesondere der Alten, nicht ins Pflegeheim abgeschoben, sondern zu Hause versorgt. Von den Müttern, Ehefrauen und Töchtern. Zyniker oder Realisten – kommt ganz auf den Standpunkt an – sind schon deshalb gegen die allumfassende Berufstätigkeit von Frauen. Es gibt nun mal private Leistungen, die unbezahlbar und unersetzlich sind.
Aber wird das auch so bleiben angesichts wachsender Scheidungsraten und einer Zunahme der Kinderlosen? Wir schaffen mehr, nicht weniger Familie, tönt es da zweckoptimistisch bei den modernen Patchworkfamilien. Alte und neue Ehe- und Lebenspartner pflegen den vernünftigen Umgang miteinander zugunsten der Kinder, die dadurch in den Genuss kommen, mehr als zwei Erwachsene nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen.
Überhaupt, die Kinder: Je seltener sie werden, desto kostbarer sind sie. Es geht sogar das Gerücht, dass sie längst zum heimlichen neuen Statussymbol der wohlhabenden Elite der Gesellschaft geworden sind: Nicht, wie man bislang annahm, die unteren Schichten widmen sich dem, was die Gebildeteren der Karrierechancen wegen hintanstellen, sondern im Gegenteil: die Bessergestellten lassen es sich etwas kosten, Familie und Berufsleben miteinander zu verbinden.
Familie stirbt nicht aus – und der allgemeine und weltweite Bevölkerungsrückgang hat auch seine Vorzüge. Aber unzweifelhaft hat sich Familie verändert in den vergangenen Jahrzehnten, sind ihre Formen, Ausdrucksweisen, Rituale anders geworden.
Wer noch das Kaffeegeschirr von Eltern oder Großeltern der Kriegsgeneration irgendwo herumstehen hat – womöglich gar in der Vitrine, in der es früher schon präsentiert wurde – weiß, was gemeint ist: Wozu um Himmelswillen braucht es ein eigenes Kaffeeservice, wenn es das Ritual des sonntäglichen Kaffeetrinkens nicht mehr gibt, schon weil es ungesund ist und man genug anderes zu tun hat?
Familie als eine Einrichtung von Dauer mit festen Ritualen, als eine Institution mit Wurzeln in der Vergangenheit und Optionen auf die Zukunft, scheint wieder zum Adelsprivileg geschrumpft zu sein. Woran liegt das? An der erhöhten Bereitschaft von Paaren, sich scheiden zu lassen, wenn die Kinder aus dem Hause sind und kein Anliegen, kein gemeinsames Projekt die beiden Alleingelassenen noch verbindet?
Das alte Paar, das gerade seine eiserne Hochzeit gefeiert hat – geheiratet wurde vor 65 Jahren – hat drei Kinder, von denen trotz gestiegener Lebenserwartung keines auf eine solch lange Spanne des Zusammenlebens mit einem einzigen Partner wird zurückblicken können.
Dauer und Kontinuität verspricht auch nicht mehr das "Elternhaus", heute vielfach noch nicht einmal eine virtuelle Größe. Nur noch selten oder in ländlichen Gegenden baut man für die Ewigkeit oder auch nur für die Enkel und Urenkel. Allein der Gedanke daran ist den Deutschen womöglich ferner als anderen: die Kriegsgeneration hat gelernt und vermittelt, dass Elternhaus eine höchst fragile Angelegenheit sein kann, nichts, das den Zeitläufen standhält, nichts, in das man zurückkehren kann nach dem Krieg oder nach der Odyssee.
Und was ist mit der "guten Kinderstube", mit diesem portablen Elternhaus, das sie mit sich geführt haben damals, als das Elternhaus in Flammen aufgegangen war? Während etwa unter türkischen Einwanderern auf Familie und Tradition allergrößten Wert gelegt wird, glauben viele deutsche Eltern, ihren Kindern in dieser Hinsicht nicht viel mitgeben zu können. Die Entwurzelung der Eltern und Großeltern hat sich verwandelt in kosmopolitisches Einverständnis mit der Heimatlosigkeit. Doch dass die reine Gegenwart noch nicht zufrieden macht, zeigt sich nicht zuletzt an der geradezu untertänigen Beweihräucherung aller möglichen Abscheulichkeiten anderer Kulturen, solange man sie mit dem Etikett "kulturelle Eigenheit" beschönigen kann.
Gibt es eine aufgeklärte Weise, Familie mit Dauer, Verlässlichkeit und historischem Horizont zu verbinden? Vielleicht würde das mehr bewirken als die zigste steuerliche Subvention einer knapp werdenden Ressource.
Die Frankfurter Publizistin und Buchautorin Cora Stephan, Jahrgang 1951, ist promovierte Politikwissenschaftlerin. Von 1976 bis 1984 war sie Lehrbeauftragte an der Johann Wolfgang von Goethe Universität und Kulturredakteurin beim Hessischen Rundfunk. Von 1985 bis 1987 arbeitete sie im Bonner Büro des "Spiegel". Zuletzt veröffentlichte sie "Der Betroffenheitskult. Eine politische Sittengeschichte", "Die neue Etikette" und "Das Handwerk des Krieges".