Falsche Pillen für Senioren

Von Sigrun Damas · 23.03.2013
Morgens die weißen Tabletten, mittags zwei von den roten und am Nachmittag die Tropfen: Vor allem älteren Menschen verschreiben Ärzte zu sorglos zu viele Medikamente - nicht selten sogar die falschen. Das kann gefährlich werden.
Sie liegt seit Stunden wach, wie so oft. Seit ihr Mann gestorben ist, leidet Erika Wiesener unter Schlafstörungen. An diesem Abend schleppt sie sich ins Bad, öffnet den Arzneischrank und greift zum ersten Mal nach Beruhigungstropfen. Ihre Ärztin hat sie ihr verschrieben. Erika Wiesener nimmt die Tropfen, dreimal 20. Und dann nimmt die Katastrophe ihren Lauf:

"Da wurde mir schwarz vor Augen. Ich ging in ein tiefes schwarzes Loch. Hab die Hände hochgehalten, um mich zu schützen. Tja, und dann war's aus. Dann bin ich hingefallen."

Die Tropfen schaukeln sie nicht in einen sanften Schlaf, sondern stürzen sie in einen Wahnzustand - Delirium. Das Medikament war das falsche für sie. Krank durch Pillen - die 81-Jährige ist damit keine Ausnahme.

Scherer: "Man kann sagen, dass jeder fünfte ältere Mensch ein potenziell ungeeignetes Medikament bekommt."

Wiesener: "Wann ich aufgewacht bin, weiß ich nicht. Wo ich aufgewacht bin, weiß ich auch nicht. Ich weiß bloß, dass ich meine rechte Hand anguckte und sah, dass die geschwollen war. Und mir war klar: Die ist gebrochen."

Nach stundenlangem Delirium findet sich Erika Wiesener auf ihrem Sofa wieder. Sie rafft sich auf und versucht zu verstehen, was passiert ist. Sie findet ihre eigenen Blutspuren im ganzen Haus:

"Die Spuren führten am Bett entlang bis zur Terrassentür. Blutspuren waren vor der Schreibtischplatte. Und die große Tür vom Hochschrank war rausgebrochen."

Die alte Dame ruft ihre Tochter an und lässt sich in ein Krankenhaus bringen. Schnell wird klar: Es waren die Tropfen. Ein bestimmtes Neuroleptikum, das sie ins Delirum gestürzt hat. Eine seltene Nebenwirkung, aber bei älteren Menschen ist das Risiko dafür erhöht. Eines von vielen Medikamenten, deren Einnahme für ältere Menschen riskant sein kann. Das bestätigt Ann-Kathrin Meyer. Sie ist Spezialistin für Altersmedizin an der Asklepiosklinik in Hamburg-Wandsbek:

"Wir wissen zum Beispiel aus vielen Studien, dass es viele Krankenhausaufenthalte gibt, weil Patienten unerwünschte Arzneimittelwirkungen haben, die dann so ausgeprägt sind, dass sie nicht mehr zu Hause versorgt werden können."

Etwa fünf Prozent aller Patienten, die in einem Krankenhaus landen, haben schlicht ein Medikament nicht vertragen. Oder mehrere. Meist trifft es ältere Patienten. Dafür gibt es mehrere Gründe. Einer ist, dass ältere Menschen empfindlicher auf Medikamente reagieren als junge:

"Zwei Punkte: Einmal die Niere als unser wichtigstes Organ für die Entgiftung und zur Ausscheidung ist im höheren Lebensalter nicht mehr so aktiv, wie das bei Jungen der Fall ist. Dann können sich Medikamente ansammeln. Das müssen wir bei der Dosierung und bei der Auswahl beachten. Und dann das Gehirn, was sehr viel empfindlicher auf Medikamente reagiert als wir es im jüngeren Alter haben."

Die Organe altern – und sind nicht mehr so aktiv wie in der Jugend. Bei einem 70-Jährigen schafft die Niere nur noch halb so viel ihres Entgiftungsprogramms. Halbe Dosierungen bei Medikamenten wären deswegen angemessen, raten Experten. Spezielle Pillen für Senioren gibt es nämlich nicht. Jedes Medikament, das auf den Markt kommt, ist zwar vielfach an Menschen getestet, aber in der Regel nur an jungen und gesunden Männern. - Das weiß Erika Wiesener jetzt auch. Nach ihrem Unfall mit den Beruhigungstropfen ist sie nun auf der Hut:

"Natürlich bin ich vorsichtiger. Das Medikament landete natürlich sofort im Müll. Ich bin vorsichtiger und sage mir: So wenig wie möglich."

So wenig wie möglich – diese Meinung setzt sich auch unter Ärzten immer mehr durch. Und vor über 80 Wirkstoffen wird inzwischen regelrecht gewarnt, wenn der Patient über 65 ist. Arzneimittelexperten der Universität Witten-Herdecke haben diese bedenklichen Wirkstoffe vor zwei Jahren zusammengefasst, in der Priscus-Liste. Als besonders riskant gelten vor allem einige Schlaf- und Beruhigungsmittel, Schmerzmedikamente, Blutdrucksenker und Psychopharmaka wie zum Beispiel Mittel gegen Depressionen. Die Priscus-Liste nennt auch die Risiken, darunter Blutungen, Nierenversagen, Leberschäden, Thrombosen, Schlaganfälle, Schwindel, Stürze. Die Gefahren sind seit Längerem bekannt – aber von 100 älteren Patienten bekommen fünf die riskanten Medikamente trotzdem verschrieben, ein- oder sogar mehrmals im Jahr.

Blutungen, Schwindel, geistige Verwirrtheit. Noch gefährlicher wird es dann, wenn der Arzt diese Symptome nicht als Nebenwirkungen deutet - sondern als Krankheit, zum Beispiel geistige Verwirrtheit als Vorbote einer Alzheimer-Demenz. Davor warnt Martin Scherer. Er forscht zum Thema am Institut für Allgemeinmedizin des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf:

"Nicht jeder ältere Mensch, der verwirrt oder benommen ist, hat auch eine Demenz. Das kann auch mal an Medikamenten liegen. Und da ist es wichtig zu fragen: Hat sich was an der Dosis geändert, ist ein Medikament hinzugekommen?"

Aber es muss nicht das falsche Medikament sein. Es kann auch schlicht die Fülle der Medikamente sein, die alten Menschen Probleme macht. Diabetes, Herzbeschwerden, Arthrose: Im Alter häufen sich die Krankheiten – und damit steigt auch der Tablettenberg, sagt Martin Scherer:

"Häufig ist es ja so, dass Spezialisten aufgesucht werden. Und jeder dieser Spezialisten ist natürlich auch Experte für sein Gebiet. Und jeder behandelt nach den aktuell gültigen medizinischen Leitlinien."

Leitlinien, sie sind sozusagen der goldene Behandlungsstandard, den jeder Arzt zu erfüllen versucht.

"Und das Problem dieser Leitlinien ist, dass sie nicht aufeinander abgestimmt sind. Die sind auch nicht auf ältere Menschen abgestimmt. Die sind auch nicht auf Patienten mit vielen Erkrankungen abgestimmt. Sondern die sind sehr monomorbid ausgerichtet, das heißt: Als würde es nur diese eine Krankheit geben."

Wer mehrere Krankheiten hat, wird förmlich mit Medikamenten zugeschüttet.

Meyer: "Nüchtern, nach dem Essen, Spritzen, Tabletten: Es ist für viele Patienten nicht mehr zu bewältigen. Und man weiß auch: Ab vier bis fünf verschiedenen Sorten gibt es Wechselwirkungen untereinander …"

… sagt Altersmedizinerin Ann-Kathrin Meyer. Wenn Medikamente einander beeinflussen, können sich einzelne Wirkungen zum Beispiel ungewollt verstärken oder auch abschwächen. Was also tun? Martin Scherer vom Uniklinikum Hamburg empfiehlt:

"Was man selbst tun kann: eine gute Buchführung machen. Alle Behandlungsunterlagen aufheben, die Medikationspläne aufheben."

Alles muss auf den Tisch – und dann sollte der Arzt zusammen mit dem Patienten entscheiden, was wirklich notwendig ist.

"Die Lösung ist, auszusortieren. Es nützt ja nichts, wenn ich in der Theorie alles wunderbar behandelt habe, aber der Patient vor seinem Tablettenberg kapituliert und sagt: Das schaffe ich eigentlich nicht. Mir wird übel, ich bekomme Magenschmerzen."

Auch Erika Wiesener ist verunsichert und sucht jetzt Rat. Denn sie hat ja nicht nur Schlafstörungen, sondern sie nimmt auch noch verschiedene Tabletten für den Blutdruck und das Herz. Altersmedizinerin Ann-Kathrin Meyer hat ihre Patientin gebeten, alle Medikamente, die sie einnimmt, einmal aufzuschreiben.

"So dann gehen wir die einfach mal gemeinsam durch und sehen wie Sie die auch vertragen... Das sind ja alles drei gegen den Blutdruck. Dann passt das ja..."

Den Überblick behalten – dabei kann auch die Apotheke helfen. Patienten können sich dort eine Kundendatei anlegen lassen. So sieht die Apothekerin auf Knopfdruck, welche Medikamente ein Patient verordnet bekommt beziehungsweise bekommen hat. Apothekerin Sabine Gnekow erlebt fast jeden Tag, wie notwendig das ist:

"Das gibt es immer wieder: Das Problem der Doppelverordnungen, das ein und das gleiche Medikament in unterschiedlicher Form von unterschiedlichen Ärzten verschrieben wird. So was würde man mit einer Kundendatei entdecken, weil uns das System auf solche Sachen hinweist."

Sabine Gnekow kennt viele ihrer Kunden schon seit Jahren. Ihr fällt auf, dass besonders Schlaf- und Beruhigungsmittel immer häufiger von Ärzten verschrieben werden:

"Und in manchen Fällen fragt man sich dann schon, ob das neue Medikament nötig ist – oder ob es nicht auch der Gesprächskreis der Kirche getan hätte. Etwas mehr Zeit, etwas mehr Zuwendung würde wahrscheinlich so manches Medikament ersetzen."

Diese Zeit hat sich Erika Wieseners Ärztin genommen. Und danach hat die 81-Jährige entschieden, dass sie nun versuchen will, auf Schlafmedikamente bald ganz zu verzichten:

"Mit Hilfe von Frau Dr. Meyer hab ich jetzt die geringste Dosis, die es gibt. Und ich will versuchen, jetzt im Frühjahr, dass ich völlig davon abkomme. Im Grund habe ich keine Verpflichtungen. Und wenn ich mal eine Nacht nicht schlafe – dann schlafe ich eben nicht."


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