Fachkräftemangel in der Atomindustrie "dramatisch"

Michael Sailer im Gespräch mit Holger Hettinger |
Der Nuklearexperte Michael Sailer vom Ökoinstitut hat vor einem gravierenden Fachkräftemangel in der Atomindustrie gewarnt. Es gebe nicht genug Ingenieure für den sicheren Betrieb und die Stilllegung von Kernkraftwerken sowie für den Umgang mit Abfällen. Für den fehlenden Nachwuchs sei auch das schlechte Image der Nuklearbranche verantwortlich. Dabei böten umweltgerechte "Stilllegungen, Abbau, Behandlung der Abfälle und Endlagerung Stoff für ein ganzes Berufsleben."
Holger Hettinger: Weltweit gehen mehr alte Atomkraftwerke vom Netz, als neue in Betrieb genommen werden. Das geht aus dem Welt-Statusbericht Atomenergie 2009 hervor, den das Bundesumweltministerium nun veröffentlicht hat. Dieser Abwärtstrend äußert sich auch auf dem Arbeitsmarkt: Eine Technologie, die – so scheint’s – langsam, aber sicher ausstirbt, die ist unattraktiv für Nachwuchskräfte. Der Fachkräftemangel ist jetzt schon bedeutsam und wird sich noch weiter verstärken, auch das geht aus dem Bericht hervor.

Das ist misslich, denn man braucht kompetentes Personal zum Betrieb der bestehenden Kernkraftwerke, die ja oft noch einige Jahre Laufzeit vor sich haben, und auch für den Rückbau eines Atomkraftwerks braucht man Fachkräfte. Was das für die Atombranche und auch für den Ausstieg aus der Kernenergie bedeutet, das ist nun mein Thema mit dem Kernkraftexperten Michael Sailer von der Geschäftsführung des Öko-Instituts. Er ist Mitglied der Reaktorsicherheitskommission. Schönen guten Tag, Herr Sailer!

Michael Sailer: Ja, guten Tag!

Hettinger: Herr Sailer, in manchen Medienberichten liest sich dieses Problem Fachkräftemangel so drastisch, dass der geordnete Ausstieg aus der Atomkraft kaum noch möglich ist, weil Fachkräfte fehlen, die den Abbau eines Atomkraftwerks begleiten. Ist es wirklich so dramatisch?

Sailer: Also wir haben schon eine dramatische Lage, die übrigens nicht nur in Deutschland, sondern weltweit in allen Kernenergieländern ist, nämlich das, dass die letzten 20 Jahre kaum Nachwuchs nachgekommen ist. Das heißt, wir haben ganz viele Kollegen, die einen großen Erfahrungsschatz haben, die sind 55 oder älter, und das heißt auch, dass die in den nächsten zehn Jahren in Pension gehen.

Insofern haben wir erstmal ein Problem beim sicheren Betrieb der Kernkraftwerke, und das auch bei der Sicherheitsbeurteilung der Kernkraftwerke, weil dort gehören ja nicht nur die Leute, die Betrieb machen, dazu, sondern auch die Leute bei den Gutachtern, die Leute bei den Aufsichtsbehörden, die Leute bei den Konzernen in der Zentrale, die die Sicherheitsanalysen für die Kernkraftwerke machen, die von den Konzernen betrieben werden. Oder eben auch beim Hersteller, der dann zum Beispiel Nachrüstungen liefern muss. Überall dort stellt man fest, Überalterung des Personals, und es ist offensichtlich wenig attraktiv für jüngere Leute, genau in diese Branche zu gehen.

Hettinger: Wenn ich das so mir durch den Kopf gehen lasse, was Sie da gerade beschrieben haben, dieses Berufsfeld ist ja ganz vielfältig, gerade wenn ich an Gutachter denke oder Menschen, die das kritisch oder, ja, die das im weitesten Sinne kritisch begleiten, also es sind ja nicht nur die Bösen, da kann man ja auch mit in diesem Themenbereich sich durchaus umweltengagiert verhalten. Ist es wirklich nur ein Imageproblem?

Sailer: Es hat mehrere Ursachen. Es ist ein Imageproblem – wir merken natürlich in der gesamten Nuklearbranche auch den massiven Ingenieurmangel, den wir in Deutschland haben, das heißt, Ingenieure können sich heute total aussuchen, in welche Branche sie gehen. Es hat dieses Problem, dass man im Freundes- und Bekanntenkreis immer über Kernkraft diskutieren muss, sobald man hört, jemand ist bei einer Gutachterorganisation oder bei einem Betreiber von einem Kernkraftwerk.

Hettinger: Na gut, das hat ein Mediziner auch, der muss auf der Party auch immer kostenlose medizinische Ratschläge geben.

Sailer: Ja, die Frage ist, welche kostenlosen Ratschläge gibt ein Kerntechniker dann auf der Party.

Hettinger: Der steht auf der Anklagebank, und zwar ganz massiv wahrscheinlich.

Sailer: Sieht zumindest öfter so aus. Also ich kenn das selbst von mir auch, passiert mir auch. Trotzdem, ich möchte da jetzt nicht den Pessimismus machen, wir brauchen einfach Leute, die den sicheren Restbetrieb garantieren auf den verschiedenen Positionen. Es gibt ja ganz viele Dinge, die noch aufgeräumt werden müssen – Stilllegungen, Abbau, Behandlung der Abfälle, Endlagerung –, da ist eigentlich genügend Stoff da noch für ein ganzes Berufsleben, auch für Frauen und Männer, die jetzt gerade erst mit dem Studium fertig sind. Das Schwierige ist eben nur, genügend Leute zu motivieren, dass die sich dann um die Kerntechnik kümmern.

Hettinger: Wie könnte solch eine Motivation aussehen?

Sailer: Also man kann sicher nicht erzählen – um es mal negativ zu sagen –, das ist die große Zukunftstechnik, denn das ist es nicht und das glaubt auch keiner mehr. Man muss aber sagen, sind eben Aufgaben über viele Jahre da, auch spannende Aufgaben, die technisch spannend sind, die auch gesellschaftlich spannend sind. Die andere Sache ist die, man muss Möglichkeiten schaffen, dass Leute, die Ingenieure für Elektrotechnik oder Maschinenbau allgemein sind, denen durch Zusatzausbildung und Training, Praktika die spezifischen kerntechnischen Dinge oder nuklearabfällmäßigen Dinge beizubringen, damit die dann auch fachlich gut einsetzbar sind.

Hettinger: In diesem Bereich sind ja auch die Energieunternehmen ziemlich dahinter. E.ON beispielsweise sponsert einen Lehrstuhl für Nukleartechnik an der TU München. Dieses Projekt läuft seit zwei Jahren, das ist ein dreisemestriger internationaler Master-Studiengang, Nuclear Technology heißt das Ganze, und auch andere Betreiber von Atomkraftwerken machen sich stark - einerseits für die universitäre, aber auch für die betriebliche Ausbildung. Kann das diesen Fachkräftemangel auffangen in irgendeiner Weise?

Sailer: Es ist ein Versuch, diesen Fachkräftemangel aufzufangen. Ich finde ihn auch eher positiv. Man ist ja immer ein bisschen hin- und hergerissen und sagt, industriefinanziert ist mit Meinung vorgeprägt. Auf der anderen Seite sagen ja auch viele, die Verursacher sollen bezahlen. Und unter diesem Motto ist es ja auch richtig, dass die Industrie Ausbildungen finanziert, auch Lehrstühle finanziert. Wir werden gucken müssen, dass auf diesem Weg wenigstens der Grundstock an Leuten motiviert wird, der in 20 Jahren auf die Dinger aufpasst.

Hettinger: Was wäre denn konsequent, dieses Szenario zu Ende gedacht, wenn diese Nachwuchsflaute weiter anhält, wenn nicht genügend Fachkräfte zur Verfügung stehen, um so ein Atomkraftwerk abzubauen – bleiben die dann einfach stehen?

Sailer: Also man kann einen Abbau immer langsamer oder schneller machen, ohne dass da sich die Gefährdungslage wesentlich ändert. Das Grundproblem ist eben, dass man beim Abbau Leute braucht, die vertraut sind mit der Situation, und das erfordert, dass man das in absehbarer Zeit, sprich in 10, 15 Jahren fertig bekommt.

Hettinger: Wie machen das eigentlich ausländische Kernkraftbetreiber? Beispiel Frankreich: Frankreich setzt ja sehr stark auf Atomenergie, und Électricité de France (EDF), die Betreiber dort, die werden bis, ich glaube, Mitte des kommenden Jahres 40 Prozent ihres Personals in den Ruhestand versetzen, und da hat man einen Bedarf von 1500 Ingenieuren. 300 junge Menschen studieren das gerade in Frankreich. Wie gehen die mit diesem Problem um?

Sailer: Also sie haben grundsätzlich das gleiche Problem, Leute zu motivieren. Auch die müssen suchen, dass sie Leute, die eine ähnliche Ausbildung als Ingenieure oder Naturwissenschaftler haben, motiviert werden, dann als Quereinsteiger in die Nukleartechnik zu gehen. Das zeigt übrigens, die Situation in Frankreich zeigt ja auch, dass auch in einem Land, in dem Kernkraft großgeschrieben ist, trotzdem das Nachwuchsproblem ist. Nur der Betrieb von Kernkraftwerken, der darf eigentlich nicht mehr stattfinden, wenn es schon am kenntnisreichen Personal fehlt.

Hettinger: Aber diese gesellschaftliche Stimmung, die Sie da ansprechen, ist doch eigentlich ein ganz interessantes Phänomen. Wenn man den Bundesumweltminister Sigmar Gabriel so hört, da ist Atomenergie grundsätzlich des Teufels. Da muss man sich ja eigentlich nicht wundern, dass kein junger Mensch, der so was wie Ökogewissen hat oder in irgendeiner Weise umweltpolitisch interessiert ist, dass der sich auf so einen Studiengang setzt. Müsste da nicht auch die Politik das viel deutlicher machen, dass Fachkräfte in diesem Bereich auch mit durchaus verantwortungsvollen Aufgaben wie Rückbau et cetera betraut werden?

Sailer: Also grundsätzlich müsste die Politik diesen Fachkräftemangel thematisieren. Und es gibt ja noch ein zweites Problem dabei: der Wissensübergang oder das Wissensmanagement. Es ist ja nicht damit getan, dass man einen jungen Mann oder eine junge Frau einstellt, die jetzt 28 sind und ihr Ingenieurstudium hinter sich haben oder vielleicht schon irgendwo ein bisschen Berufserfahrung, die müssen ja auch ganz viele Sachen lernen, wie das über die Jahrzehnte zugegangen ist. Und dort passiert es jetzt wahrscheinlich, dass viele der alten Kollegen in Pension gehen, ohne ihren Wissensschatz weitergeben zu können. Das heißt, man muss auch auf der Ebene Wissensmanagement sich neuartige Dinge überlegen.

Hettinger: Also diese oftmals beschworene Renaissance der Atomkraft, die könnte ins Stocken geraten, wenn nicht gar ganz verschwinden, weil es an Fachkräften fehlt?

Sailer: Also grundsätzlich gibt’s keine Renaissance, das ist Pfeifen im Wald von 55- oder 60-Jährigen, die erzählen wollen, dass ihre Technik noch 'ne Zukunft hat. Wir haben ja nicht das Problem, dass wir vielleicht nicht genug Leute für die Renaissance haben, sondern wir haben das Problem, dass wir nicht genug Leute haben für den Weiterbetrieb, solange er gesetzlich erlaubt ist, und für die Stilllegung und den Umgang mit den Abfällen. Und wenn wir die Gesellschaft vor den Gefahren der Atomenergien schützen wollen, braucht man eine Mindestmenge an Leuten, die diese Arbeit auch in 10 und in 20 Jahren noch machen.

Hettinger: Schönen Dank! Michael Sailer war das, von der Geschäftsführung des Öko-Instituts. Er ist Mitglied der Reaktorsicherheitskommission. Wegen Fachkräftemangel ist der Betrieb, der laufende Betrieb von Kernkraftwerken, ebenso in Gefahr wie der folgende Rückbau.