"Facebook-Mentalität auf staatlich getrimmt"

Thomas Jäger im Gespräch mit Dieter Kassel · 29.11.2010
Die von WikiLeaks veröffentlichten Dokumente stellen zwar eine Fülle an Informationen dar, aber kein Wissen, meint der Politologe Thomas Jäger. Die Informationen seien "entkontextualisiert". Es koste enorme Mühe, wieder alles zusammenzufügen.
Dieter Kassel: Ein Außenministerium, das auch intern immer diplomatisch sein muss, funktioniert nicht. Ein Mensch, der niemandem mehr schreiben kann, was er denkt, auch nicht, schreibt heute die "Süddeutsche Zeitung", und "Die Welt" behauptet sogar, WikiLeaks hat ein Spiel in Gang gesetzt, das an Russisches Roulette erinnert, und andere Zeitungen stellen fest, das, was da jetzt veröffentlicht wurde, das sei zwar sehr peinlich für das amerikanische Außenministerium, aber – so fragt zum Beispiel das "Handelsblatt" – was hat eigentlich die Welt davon, dass sie nun weiß, wie wenig oder wie viel die amerikanische Diplomatie vom Außenminister oder der Kanzlerin hält? Diese Frage stellt sich nun in der Tat, nachdem WikiLeaks 251.000 Dokumente des amerikanischen Außenministeriums veröffentlichen will und zumindest in einem Teil davon eigentlich nur die Formulierungen erstaunlich sind, und nicht der Inhalt.

Nichtsdestotrotz, das hat eine neue Qualität, was da passiert, und wir wollen über solche Veröffentlichungen und davon, was sie uns in Zukunft bringen könnten, jetzt mit Professor Thomas Jäger reden. Er hat an der Universität Köln den Lehrstuhl für Internationale Politik und Außenpolitik inne. Schönen guten Tag, Herr Jäger!

Thomas Jäger: Guten Tag, Herr Kassel!

Kassel: Ich gebe mal die einfachste der gestellten Fragen, die vom "Handelsblatt", an Sie weiter: Was hat die Öffentlichkeit davon, dass wir jetzt zum Beispiel wissen, wie Herr Westerwelle eingeschätzt wird?

Jäger: Also die Öffentlichkeit, wenn Sie jetzt die breite Öffentlichkeit nehmen, die kann in dem Fall sehen, dass die Einschätzung, die in Deutschland getroffen wird, relativ mit dem übereinstimmt, was wir hier lesen können, und das gilt ja auch für die anderen Entscheidungspersönlichkeiten, die hier erwähnt werden. Dann gibt es eine spezielle Öffentlichkeit: Die Wissenschaft, die freut sich über so was!

Kassel: Und zwar Ihre Wissenschaft wahrscheinlich, die Politikwissenschaft ...

Jäger: ... natürlich!

Kassel: Aber ist es denn für Sie neu? Ich meine, dass Botschaften solche Informationen weitergeben und dass sie in internen Dokumenten nicht immer so diplomatisch formulieren wie vor Kameras, das ist Ihnen doch wahrscheinlich auch schon vorher klar gewesen?

Jäger: Natürlich, und das ist auch nicht neu. Die neue Qualität ist die, dass man eben jetzt nicht 30, 40 Jahre warten muss, bis man diese Formulierungen kennt, sondern man liest sie jetzt eben. Aber das ist eigentlich auch gar nicht so fürchterlich überraschend, denn hier wird ja auch häufig weitergegeben, was etwa in den Medien, von bestimmten Öffentlichkeiten formuliert wird. Diese Einschätzungen sind nicht wirklich überraschend. Was ein wenig stärker überrascht, ist, dass eben Berichte aus internen Gesprächen gegeben wurden etwa um den Irankonflikt, das hat eine Qualität, die schon etwas anders beurteilt werden muss.

Kassel: Ist das gefährlich?

Jäger: Na ja, in den Fällen, in denen Diplomatie darauf angewiesen ist, dass man in direktem persönlichen Kontakt auch mal offen ist und anders eben redet, als man in der Öffentlichkeit redet, in den Fällen ist das nicht von Vorteil, was da gerade geschieht.

Kassel: Wird da langsam der Eindruck vermittelt, dass eigentlich niemand sich mehr sicher sein kann, dass das, was er sagt oder gar schreibt, noch schlimmer, egal wie privat, persönlich oder eben geheim es ist, dass es nicht doch irgendwann im Internet landet? Haben wir nicht alle das Gefühl, wir stehen ständig auf der Bühne?

Jäger: Ja, das ist, wenn Sie so wollen, Facebook-Mentalität auf staatlich getrimmt. Hier gab es aber eine Entwicklung, um das ernst zu machen, in der Nachfolge des 11. Septembers. Der 11. September war ja nun davon gekennzeichnet, dass man sagte, hier wusste jeder irgendwas. Unterschiedliche Behörden hatten unterschiedliche Informationen, es gab nur niemanden, der das ganze Bild hatte. Und deswegen ist man hergegangen und hat ein Netz aufgebaut, in dem eben diese unterschiedlichen Behörden alle miteinander verbunden sind, aus denen auch diese Unterlagen nun stammen. Und 2,5 Millionen Menschen haben Zugang zu dem Netz. Da ist es eigentlich gar nicht verwunderlich, dass irgendeiner auf die Idee gekommen ist, das für sich zu sichern und dann der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Kassel: Nun haben Sie schon den 11. September 2001 erwähnt. WikiLeaks und auch ähnliche Bewegungen, von denen man weniger hört, sind ja auch gegründet worden als eine Reaktion darauf, dass nach diesen Terroranschlägen ja die Geheimniskrämerei doch deutlich stärker wurde, auch in den USA, dass Ministerien wie Homeland Security und andere auch gar nicht mehr verpflichtet waren, so genau zu erklären, was sie machen, wie das vorher üblich war. Aber man hatte Angst davor, gerade auch wegen der vielen Sicherheitsmaßnahmen, dass der berühmte gläserne Bürger kommt. Aber sind wir jetzt nicht so kurz vor dem gläsernen Staat?

Jäger: Ja, das ist eine Reaktion darauf. Der gläserne Bürger ist da, er tut auch mit vielen Handlungen massiv etwas dazu, gläsern zu sein. Und dann gibt es die Reaktion darauf, dieser "Geheimnisverrat", in Anführungszeichen, hat in den Vereinigten Staaten ja auch eine ganz andere Tradition. Da ist es gar nicht ungewöhnlich, dass Dinge ausgeplaudert werden von denjenigen, die etwa ein Ministerium verlassen. Also das ist dahin eine andere Kultur. Es hat jetzt eine andere Qualität durch die Quantität.

Aber sehen Sie, das ist jetzt, wenn Sie so wollen, die dritte Welle an Veröffentlichungen von WikiLeaks: Afghanistankrieg, Irakkrieg war vorher, das ist eine kurze Aufmerksamkeit, die kommt, und dann muss man die erst finden, die sich durch Hunderttausende von Dokumenten wühlen.

Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur nach den jüngsten Veröffentlichungen von WikiLeaks mit Thomas Jäger, er ist Professor für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität Köln. Nun ist allerdings doch die Frage bei einer solchen Veröffentlichung: Wer entscheidet eigentlich überhaupt noch, was man wissen darf und was man nicht wissen darf? Man hat ja schon das Gefühl, 251.000 Dokumente, aber das scheint ja die Kategorie zu sein, in der da gearbeitet wird, das war bei anderen Veröffentlichungen auch noch. Das ist ja einfach komplett das Rohmaterial, das da auf den Markt geworfen wird! Gibt es also tatsächlich keinen mehr, der das sortiert, der entscheidet, was wichtig ist und was nicht?

Jäger: Ja das ist eben genau eine Idee gewesen, herzugehen und unterschiedlichen Behörden eben dieses Material direkt zur Verfügung zu stellen, sodass die unterschiedlichen Informationen dann zusammengefügt werden. Die Analyse desselben, das ist nun wirklich ein großes Problem, sodass wir hier auch aus den bisherigen Veröffentlichungen sagen müssen: Wir haben eine ganze Reihe von Informationen, aber Wissen haben wir eigentlich nicht. Und man kann dann die einzelnen Informationen nehmen, sie sind, wenn man das so sagen kann, entkontextualisiert, man weiß nicht genau, wo stammen sie denn her? Wir wissen sozusagen nur den zweiten Blick, der auf diese Information geworfen wurde. Und das ist eine enorme Mühe, das eben zu kontextualisieren, wieder alles zusammenzufügen.

Hinzu kommt, dass wir uns, wenn wir uns in diese Dokumente begeben, eben alle die amerikanische Brille aufsetzen, denn hier wird berichtet, was amerikanische Mitarbeiter eben aus Gesprächen gehört haben. Vielleicht ist ja was ganz anderes gesagt worden und von denjenigen, die gesprochen haben, auch was ganz anderes als wichtig erachtet worden!

Kassel: Ist das nicht fast auch schon ein Fluch, mit dem Washington da umzugehen hat? Es wäre ja möglicherweise viel interessanter und auch viel relevanter zu wissen, was intern in Nordkorea, in Kuba, in Libyen oder wo auch immer besprochen wird, nur das weiß WikiLeaks nun auch nicht, da haben sie keine Quellen, Sie haben es ja gerade selber gesagt: An sich ist die einzige Quelle eine amerikanische, auch wenn es um die ganze Welt geht.

Jäger: Richtig, und nicht nur eine amerikanische Quelle, sondern auch die staatliche amerikanische Quelle. Also wenn man etwa betrachtet die unterschiedlichen Beziehungen, sei es in der Finanzkrise, sei es in den Kriegen, die schon thematisiert wurden von WikiLeaks, dann wissen wir ja gar nicht, ob der Austausch zwischen unterschiedlichen staatlichen Stellen immer der wichtigste Austausch war. So manchmal wäre ja wirklich interessant zu wissen, was Präsident Obama mit Warren Buffett spricht, und nicht, was er aus seinen diplomatischen Depeschen nimmt.

Also, das mag gut sein, worauf Sie hinweisen, dass wir uns hier mit Informationen befassen, die einen gewissen Reiz haben, aber möglicherweise in eine ganz falsche Richtung führen.

Kassel: Dieses Sich-daran-Gewöhnen, dass alles am Ende doch rauskommt, dass diese Öffentlichkeit dann da ist – wie verändert das vielleicht auch eine Gesellschaft? Ich muss ja ganz ehrlich sagen, ich finde, wenn man nun einfach die Information eines Botschafters, der auch mal flapsig formuliert um auch sehr schnell und in wenigen Worten klarzumachen, was er denkt, die Sache mit der Teflonpfanne oder das Alphatier Putin, wenn der so etwas an seine Zentrale weitergibt und später wird es veröffentlicht ... Ich finde, das hat schon auch ein bisschen was von Denunziantentum!

Jäger: Ja, also das ist so, die Kommunikation ist so, sie ist ja auch in den Medien so, das sind ja nun auch Charakterisierungen, die nicht zum ersten Mal hier genannt werden, und da sprechen Sie einen ganz wichtigen Punkt an: Wenn eben im persönlichen Verhältnis nun stets darauf geachtet wird so zu sprechen, als habe man gerade die Öffentlichkeit vor sich, dann geht eine Tiefe im diplomatischen Verkehr verloren, die notwendig ist, wenn Staaten miteinander kooperieren wollen.

Kassel: Zum Schluss noch die Frage, die natürlich längst beantwortet wurde auf zwischenstaatlicher Ebene, aber Sie können ja als Politikwissenschaftler da ein bisschen offener reden: Sowohl Berlin als auch Washington als auch viele anderer Länder betonen ja nun, das Verhältnis zwischen Amerika und zum Beispiel Deutschland ist nicht belastet durch diese Veröffentlichung. Ist das glaubhaft?

Jäger: Ja, das ist glaubhaft. Das ist ein bisschen anders, wenn man die einzelnen Personen in den Blick nimmt, das kommt sozusagen auf die Ebene an. Also die deutsch-amerikanischen Beziehungen, die leiden darunter jetzt nicht, weil die stehen auf ganz, ganz vielen Beinen. Was anderes ist, wie etwa der Umgang mit dem amerikanischen Botschafter und einzelnen Regierungsmitgliedern sich in Zukunft gestalten wird, da kann es eben sein, dass im persönlichen Verhältnis doch Vertrauen schwieriger herzustellen sein wird in Zukunft.

Kassel: Und es ist wahrscheinlich auch nicht nur eine amerikanische Angewohnheit, dass in Botschaften auch in dem Ton geredet wird? Wir wissen es beide nicht, aber es ist doch wahrscheinlich auch gar nicht so unwahrscheinlich, dass irgendwann mal der deutsche Botschafter in Washington, zum Beispiel, als der noch Präsident war, auch deutliche Worte über George W. Bush nach Berlin gefaxt hat?

Jäger: Das wäre zu vermuten. Und wenn irgendetwas hier in den Kabel, die Bundesrepublik Deutschland betreffen, für die Bundesregierung wirklich neu wäre, dann müsste sie über ihr Informationssystem nachdenken. Also überrascht werden dürfte eine Regierung von dem, was da veröffentlicht wurde, eigentlich nicht.

Kassel: Ich danke Ihnen! Thomas Jäger war das, Professor für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität Köln, über Diplomatie und Geheimhaltung in den Zeiten von Internet und Wikipedia. Danke schön und noch einen schönen Nachmittag!

Jäger: Herzlichen Dank!
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