"Extremistin der Mitte"

Klaus Walter im Gespräch mit Frank Meyer · 23.05.2011
An einer US-Universität kann man bereits Lady Gaga studieren, weiß der Musikjournalist Klaus Walter zu berichten. Wer heute lebt, könne sie als mediales und globales Gesamtkunstwerk schlicht nicht ignorieren, fasst er die enorme Bedeutung der Popmusikerin zusammen.
Frank Meyer: Die Popmusikerin Lady Gaga übertrumpft alle ihre Vorgänger, jedenfalls was die Produktion von Aufmerksamkeit angeht: Ob sie auf gläsernen Penissen herumstöckelt, ob sie im Fleischmantel auftritt, mit Prothesen hantiert – Lady Gaga liefert in rasendem Tempo neue Reize.

Heute erscheint ihr neues Album "Born This Way", und wir wollen über das Phänomen Lady Gaga reden mit dem Musikjournalisten Klaus Walter, der auch schon ein Symposium zu Lady Gaga organisiert hat, den Gaga-Gipfel. Herr Walter, seien Sie uns willkommen!

Klaus Walter: Ja, schönen guten Tag!

Meyer: Herr Walter, wenn Sie einen Lady-Gaga-Gipfel organisieren, dann müssen Sie dieses Phänomen ja wenigstens interessant finden. Wie stehen Sie denn selbst zu ihr? Sind Sie Fan von Lady Gaga?

Walter: Ja, mit dem Fan-Sein ist ein bisschen schwierig, dafür finde ich die Musik ein bisschen zu uninteressant, aber so als Gesamtkunstwerk, als Zeitphänomen, als sozusagen permanent performend ist es eine sehr interessante Figur. Sie produziert permanent Nachrichten, sie bricht Rekorde, man kann sie einfach nicht ignorieren, das heißt, wenn man in dieser Welt lebt, dann muss man sich mit ihr beschäftigen, und das finde ich sehr faszinierend, und man muss versuchen, sie zu verstehen.

Meyer: Können Sie uns erklären, wenn Sie ein Stück des Phänomens verstanden haben, warum Lady Gaga in so kurzer Zeit – sie ist ja erst glaube ich drei Jahre aktiv –, warum sie in dieser kurzen Zeit zum größten Popstar unserer Zeit aufgestiegen ist?

Walter: Ich glaube, so restlos klären kann man das nicht. Ich glaube, sie hat als Erste verstanden: Was ist die Clickonomy, also die Ökonomie der Klicks, die Aufmerksamkeitsökonomie des Internets? Sie kommuniziert mit ihren Fans, sie bildet sozusagen eine weltumspannende Community mit diesen Fans über Facebook, sie hat jetzt den Twitter-Rekord gebrochen, über zehn Millionen Follower, hat damit Justin Bieber, den Teeniestar, aber auch einen gewissen Barack Obama hinter sich gelassen.

Das ist glaube ich ein großer Schlüssel zu ihrem riesigen Erfolg, und dann natürlich auch eine globale Musik, eine Musik, die überall verstanden wird, die sehr schlicht ist, viele sagen "Kirmestechno", aber die Musik funktioniert eben sehr global sozusagen.

Meyer: Und was ganz typisch ist für das Phänomen Lady Gaga und auch interessant für alle, die sich mit der Ausdeutung dieses Phänomens beschäftigen: Das ist das Spiel, was sie anzettelt mit allen möglichen Bezügen und Zitaten aus der Popgeschichte und der Subkultur. Das wollen wir uns mal genauer anschauen, vielleicht mit dem Titelsong ihres neuen Albums, "Born This Way". Wenn Sie den hören, sich das Video anschauen – was für Bezüge stecken da eigentlich drin?

Walter: Das ist natürlich die große Kunst von Lady Gaga und dem House of Gaga, das hinter ihr steht, das ist sozusagen so eine Image-Produktionsfabrik, die für sie arbeitet. Diese Referenzen, die gehen quer durch die Popkulturvergangenheit, aber auch durch die Filmgeschichte, und bei "Born This Way" ist erst mal der Bezug auf eine Schwulenhymne aus den 70er-Jahren von Carl Bean. Und im "Guardian" hat der Großkritiker Jon Savage den Song bezeichnet als "LGBT-call-to-arms": Also LGBT für lesbians, gays, bi und trans, also für alle möglichen Abweichung der heterosexuellen Norm. Und "call-to-arms": Also sozusagen ein Kampflied für alle, die abweichen von der heterosexuellen Norm.

Und John Savage hat, wie gesagt, erinnert an "Born This Way", den Disco-Hit aus den 70ern, das war ein Coming-Out-Hit. Also dieser Carl Bean, ein schwarzer schwuler Sänger, der heute ein schwuler schwarzer Erzbischof ist – man kann ihn auf Youtube bewundern, das ist sehr rührend –, der hat damals gesagt, ich bin so geboren und daran ist nichts falsch. Also es ist so eine Art schwule Selbstermächtigungshymne. Und das zitiert Lady Gaga, ohne dass es jetzt eine Coverversion wäre.

Meyer: Es ist ja auch interessant, was jetzt Homosexualität und Lady Gaga angeht: Es gab ein früheres Video, "Telephone", da tritt sie als Lesbierin auf, dann hat sie aber an anderer Stelle das Gerücht gestreut, sie habe einen Penis und sei ein transsexuelles Wesen. Dieser angebliche Penis war dann auch mal zu sehen in einem Video, prima Futter für die Gerüchteküche. Anderswo wiederum tritt sie als strikt heterosexuelle Pornoqueen auf. Also das ist auch wieder so ein Spiel mit verschiedenen Sexualitäten. Wie verstehen Sie eigentlich dieses Spiel von ihr?

Walter: Ich glaube, dass das sehr zentral ist. Sie ist eine Spielerin, wie alle großen Popstars auf ihre Art Spieler oder Spielerinnen waren, Michael Jackson oder Madonna oder Grace Jones, von der sie viel hat. Und dieses Spiel mit den sexuellen Identitäten – ich glaube, dass ihr das wirklich am Herz liegt, sie hat ja auch diese Aktion gemacht, in Portland war das, wo sie sich gegen diese Don't-Ask-Don't-Tell-Regel bei der US-Army verwandt hat.

Meyer: Was bedeutet: Man kann schwul sein, darf aber nicht drüber reden.

Walter: Genau. Und dieses Spiel mit dem Penis beispielsweise, also sie hat gesagt, ja, ich habe einen kleinen Penis, ich habe eine Pussy, aber das ist doch keine große Sache. Ich habe eine interessante Sexualität. Und ich glaube, dass das gerade die jüngeren Fans extrem anspricht, die selbst mit sich nicht so zufrieden sind, die noch nicht wissen, wo will ich hin mit meinem Körper, mit meiner Sexualität, dass die in Lady Gaga dann so ein Vorbild sehen und sagen, na ja, also wenn die mit ihrer riesigen Nase, und die ist auch recht klein, und wenn die so eine Queen sein kann, so eine Königin, so eine Glamourfigur, dann kann ich das auch.

Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir sind im Gespräch mit dem Musikjournalisten Klaus Walter über das Phänomen Lady Gaga. Ich würde noch mal auf diesen Punkt der Hyperproduktivität gerne zurückkommen von Lady Gaga, dieser immer neue Ausstoß von Aktionen, von Provokationen.

Wozu dient das eigentlich alles? Dient es – außer dazu, den eigenen Ruhm, den eigenen "fame" zu vermehren –, dient es noch zu irgendwas anderem?

Walter: Ja, Sie haben das Wort gesagt, "fame" ist glaube ich der Schlüssel zu Lady Gaga, und wir müssen glaube ich bei dem englischen Wort "fame" bleiben. "Fame" war mal ein Albumtitel, heute vergessen, von Grace Jones, an die sich die Älteren vielleicht noch erinnern werden, androgyne Figur, sehr interessant, und "Fame" ist ja auch der Titel des ersten Albums von Lady Gaga. Danach kam so eine Luxusversion, die nannte sie dann "Fame Monster", weil ihre Fans weltweit sind die "little monsters", und "fame" kann man vielleicht definieren als Ruhm plus Aufmerksamkeit.

Und das produziert sie ständig, sie produziert heute die Schlagzeile, Quentin Tarantino will mit ihr einen Film drehen und war deswegen, um sie ein bisschen zu beeindrucken, mit Angelina Jolie und Brad Pitt mit ihr essen. Morgen sammelt sie innerhalb eines Tages für die Opfer der japanischen Katastrophe 250.000 Dollar, und so produziert sie ständig etwas und hält ihre follower, so kann man es glaube ich am besten nennen, in Atem, und das ist sozusagen ein mediales und globales Gesamtkunstwerk oder eine Gesamtperformance, wo die Musik dann irgendwann auch in den Hintergrund tritt.

Meyer: Wenn man jetzt gutwillig ist, kann man sagen: Ja, das ist vielleicht sogar so eine Art Parodie unseres hochdrehenden Kulturbetriebs, der ja auch davon lebt, ständig neue Aufmerksamkeitsreize zu generieren?

Walter: Ja, würde ich so sehen, also Parodie ist vielleicht zu einfach, es ist glaube ich ein Phänomen, das hat alles einen doppelten Boden bei Lady Gaga. Also auch dieses Spiel mit den Masken, da ist immer noch eine Interpretationsebene, die sozusagen heute die Kulturwissenschaftler rund um den Globus schon beschäftigt.

An einer amerikanischen Universität kann man Lady Gaga schon studieren. Und was ich meine mit dieser Doppelbödigkeit, dass da immer noch eine geheime Botschaft irgendwo lauert, die das, was man auf der Oberfläche sieht, dann auch bricht. Also gerade in ihren Videos, sie hat ja auch das Video wieder als Kunstform rehabilitiert, knüpft da an an die Pioniertaten eines Michael Jackson oder einer Madonna. Und da ist immer noch so was, wo man auch grinsen kann und irgendeine Anspielung irgendwo entdecken kann, aber es funktioniert eben auch, wenn man die Anspielungen nicht kennt.

Und das meine ich: Es funktioniert auch für Achtjährige irgendwo in der Provinz, die noch nie von Madonna gehört haben oder von Grace Jones, geschweige denn von Metropolis, von Fritz Lang oder worauf da alles angespielt wird.

Meyer: Jetzt gibt es aber nicht nur die gutwilligen Interpreten, also um noch mal auf deren Seite zu gehen: Die, die ganz weit gehen, sagen so was wie, Lady Gaga, das ist vielleicht ein Modell für die Künstlerin unserer Zeit oder sogar der Zukunft, eine Avantgardekünstlerin, gerade in dieser extremen Kombinierfähigkeit zwischen allen möglichen Bereichen, sie ist ja auch in der Mode unterwegs, in der bildenden Kunst und eben in der Popmusik – also eine Art Modell für den Künstler unserer Zeit.

Die andere Deutung ist dann, die weniger wohlmeinende: Wir haben hier eine höchstens mittelprächtige Popsängerin, die mit all diesem aktionistischen Gezappel ihren Umsatz ankurbelt, das allerdings sehr erfolgreich. Wenn ich sie richtig verstehe: Sie würden sich eher auf die Seite der Fans, der Avantgardekünstlerin Lady Gaga schlagen?

Walter: Na ja. Ja, wobei das Interessante daran ist ja, dass der Begriff Avantgarde eigentlich immer mit einem Naserümpfen von den Massen verbunden ist oder dass die Avantgarde per Definition nur eine Minderheit interessiert. Und das Tolle oder das Interessante an Lady Gaga ist, dass sie avantgardistische Elemente, dass sie ganz viele Themenmotive aus gerade auch sexuellen Subkulturen, dass sie die einspeist in diesen Massenpopkreislauf, dass das plötzlich für die Massen dieser Welt interessant wird.

Also sie ist sozusagen eine Extremistin der Mitte, also sie agiert mit extremen Elementen, mit extremer Verkleidung, mit extrem hohen Schuhen, was auch immer sie wollen, und erreicht aber damit die Mitte der Gesellschaft, zumindest die jüngere.

Und ich frage mich, ob wir da nicht so ein Comeback eines totgesagten Elements erleben, nämlich des Generationskonflikts: Ich erlebe viele Menschen, die, sagen wir mal, über 40 sind und die dann sagen, ach, Lady Gaga, das war doch alles schon mal da, Madonna hat es doch gemacht – aber das glaube ich nicht. Madonna ist groß geworden, da gab es noch kein Internet, und das Internet hat unsere Welt verändert, und deswegen ist Lady Gaga so eine einzigartige Figur.

Meyer: Es gibt auch Stimmen, die sagen: Dieses Feuerwerk, dieser Vulkan von Ideen, Lady Gaga und die Factory dahinter – das wird auch bald wieder vorbei sein, das wird bald ausgebrannt sein. Wie lange geben sie ihr noch?

Walter: Es wird darauf ankommen, ob sie sich neu erfinden kann, wie sie mit einem Phänomen wie Altern klarkommen wird, wie sie damit klarkommen wird, wenn etwas nach ihr kommt. Das ist schwer, schwer, schwer zu sagen. Also ich glaube, so lange Karrieren kann man im jetzigen Pop kaum noch so erwarten.

Meyer: Das Gesamtkunstwerk Lady Gaga haben wir besprochen mit dem Musikjournalisten Klaus Walter. Herzlichen Dank für das Gespräch!

Walter: Sehr gerne!
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