Versöhnung mit Frankreich als Auftrag
Expressionismus auch in Darmstadt? Bisher ein blinder Fleck, den nun eine umfassende Ausstellung im dortigen Kunstarchiv aufhellt. Nach dem Ersten Weltkrieg war die Versöhnung mit Frankreich das Ziel der Expressionisten im deutschen Südwesten, zu denen auch der Darmstädter Schriftsteller Kasimir Edschmid gehörte.
Das erste Buch der Darmstädter Literaten- und Künstlergruppe "Dachstube" erschien 1916: eine expressionistische Novelle mit dem Titel "Der Gnom". Geschrieben vom damals gerade 20 Jahre alten Carlo Mierendorff, der für Germanisten zu den bemerkenswerten deutschen Expressionisten dieser Jahre zählt.
Allgemein bekannt ist Mierendorff heute eher als jüngster SPD-Reichstagsabgeordneter der Weimarer Republik, der 1933 von den Nazis in das KZ Osthofen und später nach Buchenwald transportiert wird. Mierendorff überlebt, geht in den Widerstand und wird Mitglied des Kreisauer Kreises, bevor er 1943 bei einem Bombenangriff ums Leben kommt.
In Darmstadt wird nun erstmals umfassend die frühe künstlerische Seite des späteren Widerstandskämpfers Carlo Mierendorff in einer Ausstellung aufgearbeitet. Mit rund 300 Exponaten wird das künstlerische Milieu ausgeleuchtet, in dem sich Mierendorff noch während des Ersten Weltkrieges und anschließend in den frühen Jahren der Weimarer Republik als Schriftsteller entwickelte.
"Die Dachstube" und "Das Tribunal"
Kurator der Ausstellung zum "Expressionismus in Darmstadt" ist der Kunsthistoriker und Galerist Claus Netuschil:
"Der Darmstädter Expressionismus hat noch nie im Zentrum der Expressionismus-Forschung gestanden. Der Expressionismus bekanntermaßen mit den Begriffen 'Blauer Reiter' und 'Brücke' markiert und die haben ja nun 1905 und 19097 stattgefunden. Und 1915 gründet ein Kreis, fünf Leute, Schüler eine Vereinigung, die sich eine Satzung geben und die das hoch professionell und ernsthaft betreiben."
"Die Dachstube" nennt sich dieser expressionistische Verein. Bis zum Kriegsende druckt er literarische Flugblätter und kleine, immer mit Illustrationen versehene Bücher wie Mierendorfs "Gnom".
Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wird Carlo Mierendorff zum Kopf der Darmstädter Künstlergruppe. "Das Tribunal. Hessische radikale Blätter" nennt er die auf die Versöhnung mit Frankreich ausgerichtete Zeitschrift, die er in Anlehnung an Georg Büchners "Hessischen Landboten" herausgibt. Claus Netuschil:
"Und das Tribunal wurde dann zum offiziellen Organ der Clarté-Bewegung. Was ist die Clarté-Bewegung? Henri Barbusse hat einen Roman geschrieben 'Clarté – Klarheit'. Und auch das tolle Buch der Kameradschaft 'Le Feu'. Das sind Weltkriegsromane des Ersten Weltkriegs. Und dieser Roman hatte eben eine Zeitschriftengründung zur Folge – 'Clarté'. Und die deutsche Sektion wurde vertreten von den Künstlern und Schriftstellern des Tribunals."
Die Tribunalmitglieder gehören 1919 auch fast alle zu den Mitbegründern der "Darmstädter Sezession", einer Künstlergruppe, die nach dem Ersten Weltkrieg in deutschen Südwesten zum Sammelpunkt progressiver Kräfte wurde.
"Das 20. Jahrhundert fängt in Darmstadt an"
Ausstellungskurator Claus Netuschil betont, wie stark auch dieser Zusammenschluss noch vom Geist der Künstlerkolonie Mathildenhöhe lebt, die einige Jahrzehnte zuvor in Darmstadt gegründet wurde und vor Kriegsbeginn aufgelöst worden war:
"Ein Theodor Heuss kommt nach Darmstadt als Sekretär von Friedrich Naumann und der beginnende Werkbund ... Heuss war Generalsekretär und da gehört ein Olbrich und ein Peter Behrends dazu und schreibt in seiner wichtigen Schrift eben über den Beginn des Werkbundes. Das 20. Jahrhundert fängt recht eigentlich in Darmstadt an."
Dies reklamiert die Stadt aktuell bei ihrer Bewerbung für das UNESCO-Weltkulturerbe, bei der die Künstlerkolonie Mathildenhöhe im Mittelpunkt steht. Die gelungene Ausstellung zum Spät-Expressionismus in Darmstadt macht jedoch deutlich, dass der Geist der Moderne der Jahrhundertwende zumindest in Nischen auch während des Ersten Weltkrieges in der Stadt überdauert.
Wie wir wissen, war Mierendorffs große Hoffnung zum Scheitern verurteilt. Die Vision des Zusammengehens mit Frankreich wurde wirklich – doch für ihn und die Darmstädter Expressionisten viel, viel zu spät.
Informationen des Kunstarchivs Darmstadt zur Ausstellung Spätexpressionismus in Darmstadt