Exportschlager Mensch
Brain drain – so nennen Amerikaner und Briten den Exodus gut ausgebildeter Menschen, die in einem anderen Land ihr Glück suchen. Meist sind es Akademiker aus der sogenannten Dritten Welt oder Schwellenländern, die in den Westen gehen oder den Nahen Osten.
Indische Ingenieure in Dubai; weissrussische Informatiker in Deutschland; philippinische Krankenschwestern in den USA. Bleiben wir beim Beispiel Philippinen: Wie kaum ein anderes Land ist der südostasiatische Archipel vom Brain Drain betroffen. Im Guten wie im schlechten.
Gut, weil die Überweisungen der fast zehn Millionen Auslands-Philippinos 12 bis 14 Prozent des Bruttosozialprodukts ausmachen. Ohne die 13 Milliarden Dollar wäre das Land längst pleite. Schlecht, weil der Exodus gut ausgebildeter Philippinos immer mehr Lücken reißt – nicht zuletzt im Gesundheitswesen. Viele Krankenschwestern und Ärzte verlassen die Inselkette.
Schon wieder ein neuer Patient! Ria Torres kommt einfach nicht zur Ruhe. Statt Mittagspause zu machen hetzt die junge Ärztin in die Notaufnahme – vorbei an Toiletten, deren Geruch nichts gutes vermuten lassen und dem wie immer überfüllten Wartesaal des Stadtkrankenhauses von Manila.
Konzipiert wurde der heruntergekommene graue Betonbau in den Fünfzigern für 300 Patienten. Heute – erzählt Ria Torres – durchlaufen an einem normalen Tag rund 3000 Patienten das Krankenhaus. Stationäre sind darunter und Leute, die nur zur Behandlung kommen.
Die 27-Jährige spricht kurz mit dem Krankenpfleger, der den Patienten heran gekarrt hat - in einem Rollstuhl, der gut und gerne aus den Siebzigern stammen könnte. Der junge Mann hatte einen Verkehrsunfall, äußere Verletzungen, höchstwahrscheinlich auch innere.
Torres: "Der Job ist anstrengend. Er verlangt dir einiges ab - physisch und emotional. Wenn du Dienst hast, musst du 36 Stunden am Stück arbeiten – so wie ich gerade. An Schlafen ist nicht zu denken, ich muss mich doch um meine Patienten kümmern. Ich bin jetzt zwei Jahre hier und in den zwei Jahren ist das Arbeitspensum gleich geblieben – gleich hoch. Wir haben einfach sehr viele Patienten."
15 Millionen Menschen leben in Manila, diesem Moloch, der sich einer Kraake gleich immer weiter ausbreitet. Allein 100.000 Zuzügler aus der Provinz stranden hier jährlich - in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Meist bleibt es bei der Hoffnung, die Mehrzahl reiht sich ein ins Heer der Armen. Für sie, die Armen, ist das Stadtkrankenhaus von Manila Hauptanlaufstelle, wenn sie etwas haben.
Antonio Arsega zum Beispiel. Mit seinem Verdienst als Wachmann einer Mall kommt der Mann mit dem mächtigen Schnäuzer mehr schlecht als recht über die Runden. Umgerechnet weniger als hundert Euro verdient er im Monat.
Heute hat er sich extra frei genommen: Vivienne, seine Tochter, hat Durchfall, schon seit Tagen. Gekrümmt sitzt die Zweijährige auf Arsegas Schoß, draußen im Schatten einer Platane, die die tropische Gluthitze etwas erträglicher macht.
Arsega: "Wir sind seit heute Morgen um neun da. Ich denke, wenn wir Glück haben, sind wir um drei Uhr dran. Solche Wartezeiten sind normal an staatlichen Krankenhäusern. Aber dafür kostet es nichts. In einem Privatkrankenhaus geht natürlich alles schneller, aber wer kann sich das schon leisten? Wir jedenfalls nicht, wir haben kein Geld."
Ein schwarz livrierter Klavierspieler an der Rezeption: Seine Finger gleiten elegant über die Tasten: Davon kann Antonio Arsega nur träumen. Doch im strahlend weißen Privatkrankenhaus "Asian Hospital" im Süden der Stadt gehört das zum Standardprogramm. Zwar sind es bis zum Stadtkrankenhaus von Manila Luftlinie nur gut 15 Kilometer – und doch liegen Lichtjahre zwischen beiden Krankenhäusern.
Veraltet und chronisch unter besetzt das eine, hochmodern und perfekt ausgestattet das andere. Als eines der ersten Hospitäler in ganz Asien haben sie hier gerade ein futuristisch aussehendes 4-D-Ultraschallgerät in Betrieb genommen, das in Minutenschnelle Aufnahmen von Babys im Mutterbauch auf den Bildschirm wirft, die gestochen scharf sind.
Egal ob 4-D-Ultraschalluntersuchung, Bypassoperation oder Brustvergrößerung - im "Asian Hospital" kümmern sich hoch qualifizierte Chirurgen um das Wohl ihrer gut zweihundert Patienten. Betont der Geschäftsführer des Krankenhauses, der gebürtige Schweizer Theo Seiler.
Seiler: "Im lokalen Markt ist eigentlich natürlich die A und B Klasse unser Hauptziel. Wir haben uns in den letzten sieben Jahren drauf positionieren können, dass die Leute wissen, dass Asian nicht ein günstiges Krankenhaus ist, aber dass man natürlich in Asian gute Krankenhausversorgung bekommt. Nichtsdestotrotz wissen die Leute von, sagen wir mal, der C down to E Class, dass man nicht zu Asian geht."
Umgerechnet 1500 Euro kostet im "Asian Hospital" eine Laserbehandlung der Augen, eine Bypassoperation 15.000 Euro. Leisten kann sich das nur eine Minderheit. Die Masse ist arm. Ein Viertel der Bevölkerung hält sich mit Gelegenheitsjobs wie dem Verkauf einzelner Zigaretten über Wasser, Durchschnittsverdienst: Weniger als ein Euro am Tag. Dafür bekommt man auf den Philippinen kaum mehr als eine Familienpackung Reis.
Die Durchschnittspatienten des Privatkrankenhauses kümmert das wenig. Schließlich gehören sie zur "A Klasse"; der laut Werbeprospekt "westliche Topstandards" geboten werden; und die sich ansonsten einfach nur wie zu Hause fühlen sollen.
"Das riecht nicht nach Krankenhaus. Sie werden auf den verschiedenen Stockwerken keinen Krankenhausgeruch feststellen. Das heißt nicht, dass wir uns nicht um die Hygiene kümmern. Unsere Zimmer sind im Prinzip vergleichbar mit Hotelzimmern. Und das ist natürlich etwas, was die Patienten sehr schätzen. Die Privatsphäre, wir haben praktisch nur Privatzimmer im Krankenhaus."
Die Hälfte der 94 Millionen Philippinos bekommt laut einer Studie der Philippinischen Ärztekammer in ihrem Leben nie einen Arzt zu Gesicht. Besonders schlimm ist die Situation auf dem Land. Hier haben sie noch weniger Geld als in den Städten, um einen Arzt zu besuchen. Wenn es überhaupt einen gibt. Schließlich wollen immer weniger Ärzte in der Provinz praktizieren.
Problem erkannt, wir handeln: 2005 brachte Ministerpräsidentin Gloria Arroyo vollmundig ihre "Formula One for Health" auf den Weg – die "Formel Eins fürs Gesundheitswesen". Das Gesetz sieht unter anderem vor, dass Ärzte 25 Prozent mehr Gehalt bekommen, wenn sie in besonders entlegene oder politisch instabile Gegenden wie Mindanao gehen. Soweit die Theorie.
Die Praxis sieht anders aus. Auf die versprochene Gehaltserhöhung wartet das Personal im "Governor Galliano Memorial Hospital" immer noch. Valeria Zulatra verzieht das Gesicht. Die Chefärztin des größten Krankenhauses von Bohol, einer Tropen-Insel gut eine Flugstunde von Manila entfernt, hat die Hoffnung längst aufgegeben, dass die Arroyo-Regierung ihr Versprechen einlöst. Im ohnehin schon korrupten Land hat sie sich einen Namen gemacht als eine der korruptesten Regierungen.
"So sind sie halt – die Politiker auf den Philippinen". Meint Valeria Zulatra lakonisch. Und so bleibt der resoluten Ärztin nichts anderes übrig, als das zu tun, was sie eigentlich immer schon getan hat: den Mangel verwalten.
Zulatra: "Wir sind ständig überbelegt; wirklich jeden Tag. Wir haben 200 Betten, aber viel mehr stationäre Patienten. Einige müssen im Flur auf Pritschen warten, bis sie in die Notaufnahme können. Oder unsere Geburtsstation: Da müssen sich zwei Mütter ein Bett teilen. Ganz einfach, weil wir nicht genug Platz haben. Das geht schon eine ganze Weile so."
Ihr Bett teilen muss auch Rosell Mahomoc. Die 25-Jährige wirkt erschöpft. Gestern ist ihr Sohn, Rince Cail, auf die Welt gekommen. Ein kleiner, schwarz gelockter Junge, der selig in den Armen seiner Mutter schläft.
Rosell Mahomoc kommt aus Dagohoi, einer Kleinstadt rund 70 Kilometer östlich von Tagbilaran – der Hauptstadt von Bohol. Zwei, drei Tante-Emma-Läden, eine Kirche, eine Grundschule – viel mehr ist nicht, meint die Lehrerin. Zusammen mit ihrem Mann hat sie sich vor zwei Tagen frühmorgens in ein Sammeltaxi gezwängt, das sie nach einer Drei-Stunden-Fahrt vor dem "Governor Galliano Memorial Hospital" abgesetzt hat.
Mutter: "In meiner Heimatstadt gibt es kein Krankenhaus. Oder einen Arzt. Deshalb bin ich hier. Ich habe Diabetes, da wollte ich auf Nummer sicher gehen; dass meinem Baby und mir nichts passiert. Morgen werde ich entlassen. Ich muss mir jetzt schon Gedanken machen, wie ich die 14.000 Pesos zusammen bekomme, die ich für die Impfung meines Babys zahlen muss."
14.000 Pesos – das sind etwas mehr als zweihundert Euro. Für Rosell ist das eine Menge Geld – und Grund zur Sorge. Weder sie noch ihr Mann haben gerade einen Job. Bislang leben sie von ihrem Ersparten. Noch.
Sorgen macht sich ein Stockwerk tiefer im Schwesternzimmer auch Valeria Zulatra. Heute Morgen hat ihr eine Krankenschwester gestanden, dass sie zum Ende des Monats aufhört.
Zulatra: "Die Fluktuation unter den Krankenschwestern ist enorm. Viele bleiben nur ein halbes Jahr. Das reicht ihnen als Arbeitsnachweis, um sich in den USA bewerben zu können. Es ist eine einzige Tretmühle: Du stellst jemanden ein, trainierst ihn und kein halbes Jahr später kannst du schon wieder von Vorne anfangen. Es ist wirklich schwierig für uns."
Nicht nur das Pflegepersonal geht Hospitälern wie dem in Tagbilaran verloren: Auch immer mehr Ärzte hängen ihren Job an den Nagel. Sie lassen sich lieber zum Krankenpfleger oder zur Krankenschwester umschulen, um im Ausland arbeiten zu können. 5000 sind laut Erhebungen der "Philippine Medical Association" schon weg, weitere 6000 auf dem Sprung. Jeder zehnte Arzt wandert aus.
Santos: "Wenn man die Gehälter vergleicht: Ein Arzt an einem staatlichen Krankenhaus erhält 20.000 Pesos im Monat, das sind weniger als 500 Dollar. Derselbe Arzt verdient als Krankenpfleger in den Vereinigten Staaten zwei-, dreitausend Dollar. Und die meisten philippinischen Krankenpfleger und Krankenschwestern sind sehr fleißig, viele machen Überstunden. Manche haben zwei Jobs, die kommen dann auf 5000 Dollar - vergleichen sie das mit den 500 Dollar auf den Philippinen."
Erklärt der Präsident der Philippinischen Ärztekammer, Ray Torres Santos – nur um hinzuzufügen, wenn der Exodus in dem Tempo weiter gehe, werde man früher oder später wohl den medizinischen Notstand ausrufen müssen. Dabei teilen sich jetzt schon 30.000 Philippinos einen Arzt.
Auch im "Asian Hospital" in Manila kündigen reihenweise Krankenschwestern: Kein Wunder bei einem Einstiegsgehalt von maximal 160 Euro im Monat.
Geschäftsführer Theo Seiler will den Exodus stoppen – per "special incentive" - wie er das neudeutsch formuliert; mit "speziellen Anreizen". Seine Krankenschwestern bekommen zwar nicht mehr Gehalt, dafür aber übernimmt "Asian" die Kranken- und Rentenversicherung. Auf den Philippinen ist das nicht selbstverständlich. Und: Das Pflegepersonal des Privatkrankenhauses hat jetzt die Möglichkeit, an einem Austauschprogramm mit befreundeten Krankenhäusern im Nahen Osten teilzunehmen.
Seiler: "Wir lassen unsere Krankenschwestern für zwei, drei Jahre ins Ausland gehen. Sie bleibt aber de facto im Sozialnetzwerk von Asian Hospital bestehen, kommt dann aber, wenn sie will, nach zwei, drei Jahren zurück. Und das hat sich jetzt schon soweit ausgezahlt, dass die Fluktuationsrate von 55 Prozent in 2006 auf 36 Prozent in 2008 gesenkt werden konnte."
Eine Million "Overseas Filipino Workers", kurz OFW, wie die philippinischen Gastarbeiter offiziell genannt werden, haben letztes Jahr ihre Heimat verlassen – eine Menschenmenge, die laut "New York Times" 365 Tage im Jahr sechs Boing 747 füllen würde – darunter tausende Ärzte und Krankenschwestern.
Doch vielleicht naht jetzt Abhilfe – der globalen Wirtschaftskrise sei "Dank". 12.000 OFW haben nach Erhebungen des philippinischen Arbeitsministeriums im ersten Quartal des Jahres ihren Job verloren. Schlecht für die Betroffenen, gut für die Philippinen. Meint Ärztekammerchef Ray Torres Santos.
Santos: "Es kann sich zu unserem Vorteil entwickeln. Wer verläßt denn bislang die Philippinen? Doch hauptsächlich die erfahrenen Krankenschwestern. Zurück bleiben die Neulinge. Wenn nun die Erfahrenen wegen der US-Wirtschaftskrise zurückkehren müssen, dann könnten sie ohne weiteres sofort in unseren Krankenhäusern starten. Und gleichzeitig den Anfängern auf die Sprünge helfen."
Kurz vor fünf Uhr nachmittags. Ria Torres hat es fast geschafft. Feierabend. Gut eine Stunde wird die Fahrt auf den chronisch verstopften Highways nach Hause dauern. Danach wird sie schnell Abend essen, vielleicht noch etwas Fernsehen – bevor sie todmüde ins Bett fallen wird. Wie immer in den letzten zwei Jahren. Morgen früh spätestens um acht wird sie wieder zurück sein im Stadtkrankenhaus von Manila.
Torres: "Ich spiele schon mit dem Gedanken, als Krankenschwester in die USA zu gehen. Vielleicht könnte ich dort ja sogar als Ärztin arbeiten. Aber ich weiß nicht. Meine Landsleute brauchen mich doch viel mehr als die Amerikaner. Nein, ich will hier bleiben. Und hier arbeiten."
Gut, weil die Überweisungen der fast zehn Millionen Auslands-Philippinos 12 bis 14 Prozent des Bruttosozialprodukts ausmachen. Ohne die 13 Milliarden Dollar wäre das Land längst pleite. Schlecht, weil der Exodus gut ausgebildeter Philippinos immer mehr Lücken reißt – nicht zuletzt im Gesundheitswesen. Viele Krankenschwestern und Ärzte verlassen die Inselkette.
Schon wieder ein neuer Patient! Ria Torres kommt einfach nicht zur Ruhe. Statt Mittagspause zu machen hetzt die junge Ärztin in die Notaufnahme – vorbei an Toiletten, deren Geruch nichts gutes vermuten lassen und dem wie immer überfüllten Wartesaal des Stadtkrankenhauses von Manila.
Konzipiert wurde der heruntergekommene graue Betonbau in den Fünfzigern für 300 Patienten. Heute – erzählt Ria Torres – durchlaufen an einem normalen Tag rund 3000 Patienten das Krankenhaus. Stationäre sind darunter und Leute, die nur zur Behandlung kommen.
Die 27-Jährige spricht kurz mit dem Krankenpfleger, der den Patienten heran gekarrt hat - in einem Rollstuhl, der gut und gerne aus den Siebzigern stammen könnte. Der junge Mann hatte einen Verkehrsunfall, äußere Verletzungen, höchstwahrscheinlich auch innere.
Torres: "Der Job ist anstrengend. Er verlangt dir einiges ab - physisch und emotional. Wenn du Dienst hast, musst du 36 Stunden am Stück arbeiten – so wie ich gerade. An Schlafen ist nicht zu denken, ich muss mich doch um meine Patienten kümmern. Ich bin jetzt zwei Jahre hier und in den zwei Jahren ist das Arbeitspensum gleich geblieben – gleich hoch. Wir haben einfach sehr viele Patienten."
15 Millionen Menschen leben in Manila, diesem Moloch, der sich einer Kraake gleich immer weiter ausbreitet. Allein 100.000 Zuzügler aus der Provinz stranden hier jährlich - in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Meist bleibt es bei der Hoffnung, die Mehrzahl reiht sich ein ins Heer der Armen. Für sie, die Armen, ist das Stadtkrankenhaus von Manila Hauptanlaufstelle, wenn sie etwas haben.
Antonio Arsega zum Beispiel. Mit seinem Verdienst als Wachmann einer Mall kommt der Mann mit dem mächtigen Schnäuzer mehr schlecht als recht über die Runden. Umgerechnet weniger als hundert Euro verdient er im Monat.
Heute hat er sich extra frei genommen: Vivienne, seine Tochter, hat Durchfall, schon seit Tagen. Gekrümmt sitzt die Zweijährige auf Arsegas Schoß, draußen im Schatten einer Platane, die die tropische Gluthitze etwas erträglicher macht.
Arsega: "Wir sind seit heute Morgen um neun da. Ich denke, wenn wir Glück haben, sind wir um drei Uhr dran. Solche Wartezeiten sind normal an staatlichen Krankenhäusern. Aber dafür kostet es nichts. In einem Privatkrankenhaus geht natürlich alles schneller, aber wer kann sich das schon leisten? Wir jedenfalls nicht, wir haben kein Geld."
Ein schwarz livrierter Klavierspieler an der Rezeption: Seine Finger gleiten elegant über die Tasten: Davon kann Antonio Arsega nur träumen. Doch im strahlend weißen Privatkrankenhaus "Asian Hospital" im Süden der Stadt gehört das zum Standardprogramm. Zwar sind es bis zum Stadtkrankenhaus von Manila Luftlinie nur gut 15 Kilometer – und doch liegen Lichtjahre zwischen beiden Krankenhäusern.
Veraltet und chronisch unter besetzt das eine, hochmodern und perfekt ausgestattet das andere. Als eines der ersten Hospitäler in ganz Asien haben sie hier gerade ein futuristisch aussehendes 4-D-Ultraschallgerät in Betrieb genommen, das in Minutenschnelle Aufnahmen von Babys im Mutterbauch auf den Bildschirm wirft, die gestochen scharf sind.
Egal ob 4-D-Ultraschalluntersuchung, Bypassoperation oder Brustvergrößerung - im "Asian Hospital" kümmern sich hoch qualifizierte Chirurgen um das Wohl ihrer gut zweihundert Patienten. Betont der Geschäftsführer des Krankenhauses, der gebürtige Schweizer Theo Seiler.
Seiler: "Im lokalen Markt ist eigentlich natürlich die A und B Klasse unser Hauptziel. Wir haben uns in den letzten sieben Jahren drauf positionieren können, dass die Leute wissen, dass Asian nicht ein günstiges Krankenhaus ist, aber dass man natürlich in Asian gute Krankenhausversorgung bekommt. Nichtsdestotrotz wissen die Leute von, sagen wir mal, der C down to E Class, dass man nicht zu Asian geht."
Umgerechnet 1500 Euro kostet im "Asian Hospital" eine Laserbehandlung der Augen, eine Bypassoperation 15.000 Euro. Leisten kann sich das nur eine Minderheit. Die Masse ist arm. Ein Viertel der Bevölkerung hält sich mit Gelegenheitsjobs wie dem Verkauf einzelner Zigaretten über Wasser, Durchschnittsverdienst: Weniger als ein Euro am Tag. Dafür bekommt man auf den Philippinen kaum mehr als eine Familienpackung Reis.
Die Durchschnittspatienten des Privatkrankenhauses kümmert das wenig. Schließlich gehören sie zur "A Klasse"; der laut Werbeprospekt "westliche Topstandards" geboten werden; und die sich ansonsten einfach nur wie zu Hause fühlen sollen.
"Das riecht nicht nach Krankenhaus. Sie werden auf den verschiedenen Stockwerken keinen Krankenhausgeruch feststellen. Das heißt nicht, dass wir uns nicht um die Hygiene kümmern. Unsere Zimmer sind im Prinzip vergleichbar mit Hotelzimmern. Und das ist natürlich etwas, was die Patienten sehr schätzen. Die Privatsphäre, wir haben praktisch nur Privatzimmer im Krankenhaus."
Die Hälfte der 94 Millionen Philippinos bekommt laut einer Studie der Philippinischen Ärztekammer in ihrem Leben nie einen Arzt zu Gesicht. Besonders schlimm ist die Situation auf dem Land. Hier haben sie noch weniger Geld als in den Städten, um einen Arzt zu besuchen. Wenn es überhaupt einen gibt. Schließlich wollen immer weniger Ärzte in der Provinz praktizieren.
Problem erkannt, wir handeln: 2005 brachte Ministerpräsidentin Gloria Arroyo vollmundig ihre "Formula One for Health" auf den Weg – die "Formel Eins fürs Gesundheitswesen". Das Gesetz sieht unter anderem vor, dass Ärzte 25 Prozent mehr Gehalt bekommen, wenn sie in besonders entlegene oder politisch instabile Gegenden wie Mindanao gehen. Soweit die Theorie.
Die Praxis sieht anders aus. Auf die versprochene Gehaltserhöhung wartet das Personal im "Governor Galliano Memorial Hospital" immer noch. Valeria Zulatra verzieht das Gesicht. Die Chefärztin des größten Krankenhauses von Bohol, einer Tropen-Insel gut eine Flugstunde von Manila entfernt, hat die Hoffnung längst aufgegeben, dass die Arroyo-Regierung ihr Versprechen einlöst. Im ohnehin schon korrupten Land hat sie sich einen Namen gemacht als eine der korruptesten Regierungen.
"So sind sie halt – die Politiker auf den Philippinen". Meint Valeria Zulatra lakonisch. Und so bleibt der resoluten Ärztin nichts anderes übrig, als das zu tun, was sie eigentlich immer schon getan hat: den Mangel verwalten.
Zulatra: "Wir sind ständig überbelegt; wirklich jeden Tag. Wir haben 200 Betten, aber viel mehr stationäre Patienten. Einige müssen im Flur auf Pritschen warten, bis sie in die Notaufnahme können. Oder unsere Geburtsstation: Da müssen sich zwei Mütter ein Bett teilen. Ganz einfach, weil wir nicht genug Platz haben. Das geht schon eine ganze Weile so."
Ihr Bett teilen muss auch Rosell Mahomoc. Die 25-Jährige wirkt erschöpft. Gestern ist ihr Sohn, Rince Cail, auf die Welt gekommen. Ein kleiner, schwarz gelockter Junge, der selig in den Armen seiner Mutter schläft.
Rosell Mahomoc kommt aus Dagohoi, einer Kleinstadt rund 70 Kilometer östlich von Tagbilaran – der Hauptstadt von Bohol. Zwei, drei Tante-Emma-Läden, eine Kirche, eine Grundschule – viel mehr ist nicht, meint die Lehrerin. Zusammen mit ihrem Mann hat sie sich vor zwei Tagen frühmorgens in ein Sammeltaxi gezwängt, das sie nach einer Drei-Stunden-Fahrt vor dem "Governor Galliano Memorial Hospital" abgesetzt hat.
Mutter: "In meiner Heimatstadt gibt es kein Krankenhaus. Oder einen Arzt. Deshalb bin ich hier. Ich habe Diabetes, da wollte ich auf Nummer sicher gehen; dass meinem Baby und mir nichts passiert. Morgen werde ich entlassen. Ich muss mir jetzt schon Gedanken machen, wie ich die 14.000 Pesos zusammen bekomme, die ich für die Impfung meines Babys zahlen muss."
14.000 Pesos – das sind etwas mehr als zweihundert Euro. Für Rosell ist das eine Menge Geld – und Grund zur Sorge. Weder sie noch ihr Mann haben gerade einen Job. Bislang leben sie von ihrem Ersparten. Noch.
Sorgen macht sich ein Stockwerk tiefer im Schwesternzimmer auch Valeria Zulatra. Heute Morgen hat ihr eine Krankenschwester gestanden, dass sie zum Ende des Monats aufhört.
Zulatra: "Die Fluktuation unter den Krankenschwestern ist enorm. Viele bleiben nur ein halbes Jahr. Das reicht ihnen als Arbeitsnachweis, um sich in den USA bewerben zu können. Es ist eine einzige Tretmühle: Du stellst jemanden ein, trainierst ihn und kein halbes Jahr später kannst du schon wieder von Vorne anfangen. Es ist wirklich schwierig für uns."
Nicht nur das Pflegepersonal geht Hospitälern wie dem in Tagbilaran verloren: Auch immer mehr Ärzte hängen ihren Job an den Nagel. Sie lassen sich lieber zum Krankenpfleger oder zur Krankenschwester umschulen, um im Ausland arbeiten zu können. 5000 sind laut Erhebungen der "Philippine Medical Association" schon weg, weitere 6000 auf dem Sprung. Jeder zehnte Arzt wandert aus.
Santos: "Wenn man die Gehälter vergleicht: Ein Arzt an einem staatlichen Krankenhaus erhält 20.000 Pesos im Monat, das sind weniger als 500 Dollar. Derselbe Arzt verdient als Krankenpfleger in den Vereinigten Staaten zwei-, dreitausend Dollar. Und die meisten philippinischen Krankenpfleger und Krankenschwestern sind sehr fleißig, viele machen Überstunden. Manche haben zwei Jobs, die kommen dann auf 5000 Dollar - vergleichen sie das mit den 500 Dollar auf den Philippinen."
Erklärt der Präsident der Philippinischen Ärztekammer, Ray Torres Santos – nur um hinzuzufügen, wenn der Exodus in dem Tempo weiter gehe, werde man früher oder später wohl den medizinischen Notstand ausrufen müssen. Dabei teilen sich jetzt schon 30.000 Philippinos einen Arzt.
Auch im "Asian Hospital" in Manila kündigen reihenweise Krankenschwestern: Kein Wunder bei einem Einstiegsgehalt von maximal 160 Euro im Monat.
Geschäftsführer Theo Seiler will den Exodus stoppen – per "special incentive" - wie er das neudeutsch formuliert; mit "speziellen Anreizen". Seine Krankenschwestern bekommen zwar nicht mehr Gehalt, dafür aber übernimmt "Asian" die Kranken- und Rentenversicherung. Auf den Philippinen ist das nicht selbstverständlich. Und: Das Pflegepersonal des Privatkrankenhauses hat jetzt die Möglichkeit, an einem Austauschprogramm mit befreundeten Krankenhäusern im Nahen Osten teilzunehmen.
Seiler: "Wir lassen unsere Krankenschwestern für zwei, drei Jahre ins Ausland gehen. Sie bleibt aber de facto im Sozialnetzwerk von Asian Hospital bestehen, kommt dann aber, wenn sie will, nach zwei, drei Jahren zurück. Und das hat sich jetzt schon soweit ausgezahlt, dass die Fluktuationsrate von 55 Prozent in 2006 auf 36 Prozent in 2008 gesenkt werden konnte."
Eine Million "Overseas Filipino Workers", kurz OFW, wie die philippinischen Gastarbeiter offiziell genannt werden, haben letztes Jahr ihre Heimat verlassen – eine Menschenmenge, die laut "New York Times" 365 Tage im Jahr sechs Boing 747 füllen würde – darunter tausende Ärzte und Krankenschwestern.
Doch vielleicht naht jetzt Abhilfe – der globalen Wirtschaftskrise sei "Dank". 12.000 OFW haben nach Erhebungen des philippinischen Arbeitsministeriums im ersten Quartal des Jahres ihren Job verloren. Schlecht für die Betroffenen, gut für die Philippinen. Meint Ärztekammerchef Ray Torres Santos.
Santos: "Es kann sich zu unserem Vorteil entwickeln. Wer verläßt denn bislang die Philippinen? Doch hauptsächlich die erfahrenen Krankenschwestern. Zurück bleiben die Neulinge. Wenn nun die Erfahrenen wegen der US-Wirtschaftskrise zurückkehren müssen, dann könnten sie ohne weiteres sofort in unseren Krankenhäusern starten. Und gleichzeitig den Anfängern auf die Sprünge helfen."
Kurz vor fünf Uhr nachmittags. Ria Torres hat es fast geschafft. Feierabend. Gut eine Stunde wird die Fahrt auf den chronisch verstopften Highways nach Hause dauern. Danach wird sie schnell Abend essen, vielleicht noch etwas Fernsehen – bevor sie todmüde ins Bett fallen wird. Wie immer in den letzten zwei Jahren. Morgen früh spätestens um acht wird sie wieder zurück sein im Stadtkrankenhaus von Manila.
Torres: "Ich spiele schon mit dem Gedanken, als Krankenschwester in die USA zu gehen. Vielleicht könnte ich dort ja sogar als Ärztin arbeiten. Aber ich weiß nicht. Meine Landsleute brauchen mich doch viel mehr als die Amerikaner. Nein, ich will hier bleiben. Und hier arbeiten."