Experimentierfreude und Innovation

Marietta Schwarz |
Die jüngsten Unruhen in den französischen Banlieus spielten sich nicht zufällig in den Hochhaushöllen der 60er und 70er Jahre ab. Da war sie plötzlich wieder da, die Frage, welche soziale Verantwortung die Stadtplanung trägt. Dass sich Architekten aber schon viel früher als die Presse damit auseinandersetzen, zeigt der Architekturwettbewerb "Europan".
Schon wieder wird sie diskutiert, die so genannte Europäische Stadt, in der das öffentliche Leben pulsiert, in der man wohnen und gleichzeitig arbeiten kann. Mehr noch: am politischen und kulturellen Leben teilnimmt. Es ist ein schönes, ein kultiviertes, unangreifbares Bild, diese Vorstellung von der Europäischen Stadt. Dabei sieht doch die Realität ganz anders aus. An die Stelle der "agora" ist die privatisierte Shopping Mall getreten, der soziale Wohnungsbau wird an Investmentfonds verhökert, und die öffentlichen Restflächen fallen dem Stadtmarketing zum Opfer, während das Quartier nebenan in ruinösem Zustand ist. Was wir in unseren Städten sehen, meint der Staatssekretär im Bundesbauministerium, Engelbert Lütke Daldrup, sei die Gleichzeitigkeit von Wachstum und Verfall:

"Wir haben Bereiche in der Stadt, wo Menschen weggehen, wo Industriebetriebe brach fallen, und wir haben andere Teile der Stadt, wo neue Wohngebiete entstehen, wo saniert wird, wo neue Arbeitsplätze entstehen. Das heißt, es gibt eine neue Spannung in der städtischen Entwicklung, die nicht mehr primär wachstumsgeprägt ist, sondern von einem vielschichtigen Prozess, den wir vielleicht als Transformation bezeichnen können, das heißt Wachstum und Schrumpfung stehen häufig nahe beieinander."
Es sind Entwicklungen, vor denen man gerne die Augen verschließt. Der "Europan-Wettbewerb" dagegen wühlt seit fast 20 Jahren in den entzündeten Wunden der Städte und fordert junge Architekten zu ihren Lösungen auf: für innerstädtische Verkehrsknotenpunkte, ausfransende Stadtränder, leer stehende Plattenbausiedlungen, soziale Brennpunkte, kontaminierte Industrieareale. Europan, erklärt der Architekturkritiker und Jury-Mitglied Kaye Geipel, hat sich immer um Orte in der Stadt gekümmert, die für die "normale" Planung, wie er es nennt, nicht mehr brauchbar waren:


"Es gibt etwas Interessantes zu beobachten: Wenn wir uns heute die Situation, vor der viele Kommunen stehen, betrachten, dann stellen wir fest, es sind immer mehr genau die Orte, die sich eignen als Initiativpunkte für die Transformation. Und auf einmal rücken Randphänomene der Stadtentwicklung selber in den Mittelpunkt."

Mehr als 1600 Architektenteams haben an diesem 8. Europan teilgenommen. Preise wurden für jeden der 74 vorgegebenen Standorte bearbeitet. In Deutschland gehörten dazu Städte wie Hamburg, Halle, Leinefelde, Erfurt oder Neu-Ulm. Dabei geht es nicht darum, das Rad der Zeit zurückzudrehen und das alte Bild der Stadt zu verklären. Im Gegenteil. Experimentierfreude und Innovation sind ausdrücklich erwünscht, das macht den Unterschied zum konventionellen Wettbewerb aus.

Christian Hertweck: "Es geht darum, dabei zu sein, sich mit Spaß den Aufgaben zu stellen."

Jon Lau: "Wenn man sich professionelle Wettbewerbe anguckt, die sind schon in einem sehr engen Rahmen, mit sehr engem Raumprogramm, Vorgaben, da ist Europan doch sehr viel freier. Man hat eben gerade als junger Architekt die Möglichkeit zu zeigen, dass es auch andere Lösungsansätze gibt."

V=0 heißt der Beitrag der Preisträger Jon Lau und Christian Hertweck für den vom Autoverkehr stark beeinträchtigten Riebeckplatz am Stadteingang von Halle. Bewegung ist gleich Stillstand. Die Architekten haben den Verkehrskreisel in einen "wormdrive", eine sich nach oben schraubende Verkehrs"landschaft" verwandelt, in der plötzlich nicht mehr das Fortbewegen, sondern das Anhalten zum zentralen Element wird. Die Verkehrsinfrastruktur, lobte die Jury, werde nicht verleugnet, sondern zu einer Ikone überhöht.

Für ein spanisches Architektenteam ist der in den 60er Jahren gebaute Kreisel dagegen der perfekte Ort für einen Willkommenswald - es legt über den Verkehrsknotenpunkt ein strenges Raster an Bäumen - bauliche Verdichtung sei in einer Stadt wie Halle sowieso keine realistische Option mehr, meinen sie. Irgendwie macht die kollabierende Stadt auch frei, könnte man meinen, denn die Lust am Entwerfen schlägt einem fast auf jeder Zeichnung entgegen. Doch mit Feierabendspinnereien beim örtlichen Italiener auf der Papierserviette haben die Europan-Beiträge nichts zu tun. Die Ernsthaftigkeit hinter dem Augenzwinkern ist eben doch nicht zu übersehen. Schließlich ist der Europan auch eine große Chance: als Ideenwettbewerb, der ausdrücklich auf Realisierung abzielt.

Geipel: "Die Realisierungsfrage stellt sich immer wieder. Inwieweit sind die Städte bereit, diese provozierenden Ansätze zu realisieren? Aber durch solche Vorschläge wird eine Diskussion in Gang gebracht, die vorher nicht absehbar war."

In den 70er Jahren reagierten französische Architekten erstmals mit innovativen Wettbewerben auf die sich abzeichnenden Probleme in den Banlieus. Heute steht der Europan nicht nur mit seinem Namen ganz im Zeichen eines zusammenwachsenden Europas: Denn jeder Teilnehmer kann sich jeden europäischen Standort auswählen, die Beiträge werden europaweit wissenschaftlich analysiert und schließlich sollen auch alle Beteiligten vernetzt werden - Veranstalter, Kommunen, Investoren, Wohnungsbaugesellschaften und Architekten. In Fachkreisen gilt Europan als Stimmungsbarometer, oder, wie Jurymitglied Kaye Geipel, sagt, als Pisa-Test unter den europäischen Architekten, bei dem übrigens die Spanier zurzeit ziemlich weit vorne liegen. Helmut Mildner, Geschäftsführer der städtischen Wohnungsbaugesellschaft in Neu-Ulm, freut sich über die mutigen Ansätze der Preisträger.

"Der europaweite Wettbewerb weitet den Blick. Das befruchtet insgesamt und gibt sozusagen auch den Sprit, Phantasien zu entwickeln, wie man zu neuen Ufern kommt."