Experimente freier Abstraktion

Von Björn Stüben · 24.04.2006
Die Lyrische Abstraktion ist zwischen 1945 und 1956 eine populäre Spielart des Abstrakten Expressionismus. Als impulsive, von Kompositionsregeln befreite expressive Ausdrucksform sah sie sich im Gegensatz zur geometrischen Abstraktion, die auf konstruktivistischen Regeln beruhte. Das Musée du Luxembourg gibt in einer Ausstellung einen Überblick über diese Kunstrichtung.
In den legendären Jazz-Kellern im Pariser Saint-Germain-des-Prés-Viertel ließen sich 1945 die Schrecken des gerade zu ende gegangenen Weltkriegs sicher am besten vergessen. Neben der existenzialistischen Literaten-Bohème um Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir werden auch viele der Maler zu den Stammgästen gehört haben, deren abstrakte Kunstwerke jetzt im Musée du Luxembourg in Paris zu sehen sind. Entstanden in den harten Nachkriegsjahren zwischen 1945 und 1956, verbildlichen die Gemälde ein "lyrisches Entschweben", so der poetische Titel, den der Kunstkritiker Patrick-Gilles Persin für die von ihm mit knapp über einhundert Werken von achtundfünfzig Künstlern bestückte Ausstellung gewählt hat.

"Die Maler trafen sich nach Kriegsende wieder, um ihre Kunst weiterzuentwickeln. Sie begaben sich auf die Suche nach neuen künstlerischen Lösungen. Diesen Prozess des Aufbruchs wollte ich mit dem Begriff "Entschweben" umschreiben. Das Experimentieren mit der freien Abstraktion spielte sich in Paris ab. Hier trafen Künstler aus aller Welt zusammen. Einige entschieden sich für die geometrische Abstraktion, andere wiederum für die lyrische Abstraktion. Zwischen diesen beiden Lagern herrschte ein regelrechter Kleinkrieg. Gemeinsam war jedoch allen, dass sie in absoluter Freiheit und Unabhängigkeit arbeiten konnten. Die Maler der lyrischen Abstraktion entschieden sich für die Verwendung von Zeichen. Auch der Malakt sollte sichtbar sein. Farben und Licht spielten eine große Rolle. In der geometrischen Abstraktion war so viel Freiheit nicht möglich."

Der Maler Oscar Gauthier ist einer der Vertreter der lyrischen Abstraktion. In einem Gespräch mit Gilles Persin blickt er zurück auf die Zeit nach Kriegsende, von der viele sich auch einen Neuanfang in der Kunst erhofften.

"Die Kunst, die wir nach dem Krieg machen wollten, sollte sich gegen die damals vorherrschende Strömung wenden, die sich uneingeschränkt an den Werken Picassos orientierte. Seine Kunst bestimmte damals alle Ausstellungen. Darüber hinaus lehnten wir auch die von uns so genannte "kalte Kunst" ab, d.h. die blutleere geometrische Abstraktion, die auf dem Werk Mondrians basierte und aus dem Kubismus hervorgegangen war."

Dass die Maler der lyrischen Abstraktion sich weder als Künstlergruppe verstanden noch sich an einem Programm orientierten, zeigen ihre Werke, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Während Maurice Estève 1949 auf seinem Bild eine malerische Farbenorgie veranstaltet, begräbt Pierre Soulages sieben Jahre später seinen Malgrund unter dicken Balken aus schwarzer Ölfarbe. Gérard Schneiders großformatiges Bild "Opus OP-92-B" bleibt inhaltlich so rätselhaft wie sein Titel. Der Akt des Malens mit dickem Pinsel soll ablesbar bleiben. Jean-Michel Atlan entwirft 1956 seinen "Feuervogel", der an Mirò erinnert und die strahlenden Farbflächen vor schwarzem Hintergrund in Roger Bissières "großer Komposition" von 1947 entfalten die Wirkung eines mittelalterlichen Kirchenfensters. Bei Hans Hartung bestimmen filigrane, mit Bleistift oder Kohle gezogene Linien das Bild, während Serge Poliakoff harmonische Farbflächen komponiert. Der Weg zur Abstraktion in der Kunst wurde jedoch bereits Jahrzehnte zuvor geebnet, wie Patrick-Gilles Persin betont.

"Die ersten abstrakten Kunstwerke wurden von Kandinsky geschaffen. 1910 hat er seinem berühmten Aquarell selbst den Titel "erstes abstraktes Kunstwerk" gegeben. In das Jahr 1912 datiert sein großformatiges Werk "Mit großem schwarzem Bogen", das heute im Centre Pompidou aufbewahrt wird. Dieses Bild sollte für die Generation von Künstlern, die wir jetzt in der Ausstellung zeigen, zu einem Schlüsselwerk werden, denn es wurde 1937 in einer großen Schau in Paris gezeigt. All diejenigen jungen Maler, die bis dahin noch figurative Bilder schufen, bereits mit der Abstraktion experimentierten oder schlicht auf der Suche nach künstlerischem Neuland waren, entdeckten dieses Werk und Kandinsky für ihre Arbeit. Sie waren begeistert und beschlossen ihre Kunst an diesem Schlüsselbild auszurichten."

Es entstehen Werke, die oft spontan und schnell ausgeführt scheinen. Das Experimentieren wird großgeschrieben, etwa wenn Georges Mathieu seine Farbe direkt aus der Tube auf die Leinwand presst. Der französische Staat zeigt zunächst wenig Interesse an einer jungen abstrakten Kunst, die im Nachkriegs-Paris entsteht. Es sind vor allem private Galerien und ausländische Sammler, die sich von der lyrischen Abstraktion verführen lassen.

"Zunächst wurden die Werke der lyrischen Abstraktion in Brüssel und in Düsseldorfer und Kölner Museen gezeigt. In unserem Katalog findet sich ein zeitgenössisches Foto von einer Werkschau Gérard Schneiders in einer Kölner Galerie. Hierauf sieht man seine Werke im Hintergrund und in der Schaufensterscheibe spiegelt sich eine in Trümmern liegende Kirche, die im Krieg von den Amerikanern bombardiert wurde. Dieses erstaunliche Dokument beweist, dass man sich bereits sehr früh im noch verwüsteten Nachkriegsdeutschland für diese junge Kunst aus Paris interessierte."

Ob sich die angestammten Besucher des Musée du Luxembourg für eine Schau abstrakter Kunst interessieren werden, bleibt abzuwarten, sind sie doch klassische Ausstellungen zu Meistern wie Botticelli oder Veronese gewohnt. Diesen beiden großen Malern der Vergangenheit gefiele sie aber sicher.