Existentialismus à la Suisse

Rezensiert von Wolfgang Schneider · 20.01.2006
Die Hauptfigur in Max Frischs Roman "Stiller" will mit seinem alten Leben nichts mehr zu tun haben. Trotz seiner Flucht kann er aber die Konfrontation mit seiner Vergangenheit nicht vermeiden. Frisch geht es in seinem Roman um Fragen der Selbstfindung und der Selbstdistanzierung. Nun ist der vor gut 50 Jahren erschienene Roman auch als Hörbuch erhältlich.
Bei der Durchreise durch die Schweiz wird Mr. White verhaftet. Es besteht der dringende Verdacht, er sei der Bildhauer Anatol Stiller, der seit sechs Jahren - genauer: seit Januar 1946 - verschollen ist und dem staatsbürgerliche Versäumnisse diverser Art vorgeworfen werden.

""Es tut mir leid, Herr Stiller, aber wenn Sie sich weiterhin weigern, Ihren richtigen Pass zu zeigen, muss ich Sie an die Kriminalpolizei überweisen. Darüber müssen Sie sich klar sein."

Dazu streifte er die Asche von seinem Stumpen.

"Ich bin nicht Stiller!" wiederholte ich, als er anfing, das umfängliche Formular gewissenhaft auszufüllen, und es war, als hörte er mich überhaupt nicht mehr. Ich versuchte es in allen Tonarten. Ich sagte es ebenso feierlich wie nüchtern.

"Herr Kommissär, ich habe keinen anderen Pass."
Oder mit Lachen:
"Das ist doch Unsinn!"
Wobei ich trotz meiner Betrunkenheit sehr genau spürte, dass er mich immer weniger hörte, je öfter ich es wiederholte. Schließlich schrie ich:
"Ich heiße nicht Stiller, zum Teufel noch Mal!"
Ich schrie es, und schlug mit der Faust auf den Tisch. "

Der größte Teil des Romans besteht in Konfrontationen jenes Mannes, der die abenteuerliche Vita des Mr. White für sich reklamiert, mit der Stiller-Vergangenheit, mit Menschen, Räumen, Dingen des Stiller-Lebens. Durch solche Gegenüberstellungen soll er zum Selbstbekenntnis getrieben werden. Aber Stiller will mit seiner eigenen Geschichte nichts mehr zu tun haben. Er ist sich selbst zum Klischee geworden, leidet unter der gespenstischen "Mechanik in den menschlichen Beziehungen" und will Vorurteilen über seine Person und überhaupt den Stereotypen des Schweizerlebens entkommen. Wie er sein eigenes früheres Verhalten mit distanziertem Spott beschreibt, als wüsste er tatsächlich nur aus den Berichten anderer darüber, wie er gewitzt gegen sich selbst Partei nimmt – das ist eine grandiose Erzählidee, ein Verfremdungseffekt, auf den Brecht hätte neidisch sein müssen.

Frisch gibt diese Konstellation viel Gelegenheit zu vitalen und sehr hörbuchtauglichen Szenen. Auch an großen Dialogen, an Tragik, Komik und klugen Reflexionen mangelt es nicht in diesem gerade fünfzig Jahre alten Klassiker, der als erstes Suhrkamp-Buch die Millionenauflage erreichte. Es ist ein Roman, bei dem der Premium-Vorleser Ulrich Matthes sein Können ausspielen kann. Etwa in der moralisierenden Schlussrede des Anwalts Bohnenblust: eine fulminante Suada in Schweizer Wohlanständigkeit, bei der Frisch mit raffinierten sprachlichen Verkürzungen arbeitet.

Vor allem ist "Stiller" einer der besten Eheromane der deutschen Literatur. Das tragikomische Aneinander-Vorbeifühlen von Männern und Frauen ist selten mit einer solchen psychologischen Detailkunst beschrieben worden. Stillers Frau ist die Ballett-Tänzerin Julika, eine mustergültige "femme fragile". Auf der Stadttheater-Bühne spielt sie die "Bacchantin", zuhause ist sie eine unterkühlte Migräne-Simulantin. Wechselseitig fesseln sich die beiden durch ihre spezifischen Schwächen und Versagensängste. Und bald geht Stiller ein Verhältnis mit der Frau des Staatsanwalts Rolf ein, was diesen, die zweite Hauptfigur, in die Mühlen der Eifersucht treibt. Zunächst verdächtig er den dynamischen Architekten Sturzenegger. Bei einer gemeinsamen Autofahrt sucht Rolf vor einer Bahnschranke die Aussprache:

" "Ich verstehe Ihre Verlegenheit durchaus", sagte Rolf. "An Ihrer Stelle habe ich solche Gespräche auch immer gemieden. Was kommt schon dabei heraus? Nur finde ich, wenn man schon so nebeneinander in einem Wagen sitzt … Wissen Sie, ganz einfach, ich möchte nicht, Herr Sturzenegger, dass Sie mich für den Dummen halten."

Endlich dröhnte der Zug vorbei.

"Sie lieben nun einmal meine Frau!", sagte Rolf, in einem unerschütterlichen Wahn und dabei in achtenswerter Haltung. "Das kann ich verstehen. Und meine Frau liebt Sie, das ist nun einmal so. Und daran wird sich auch nichts Wesentliches ändern, wenn Sie nächste oder übernächste Woche nach Kanada fliegen."
"Nach Kalifornien", verbesserte Sturzenegger. (...)"

Bei der Entfaltung der Eheproblematik entwickelt der Roman hohe theatralische Qualitäten, und Ulrich Matthes modulationsreiche Stimme ersetzt eine ganze Schaubühne.

Während der Dramatiker Frisch Ideen in Theaterparabeln goss, war die Reihenfolge beim "Stiller" umgekehrt: "Es gab eigentlich nur Material ohne den Sinn des Buches", meinte der Autor später. Der "Sinn", also das Problem der "Identität", kam nachträglich hinzu. Deshalb hat der Roman diesen wunderbaren Überschuss an Erzählkraft. Fürs Hörbuch wurde er deutlich gekürzt, und, keine Frage, das nimmt dem Buch etwas von seiner epischen Kraft. Ungeschmälert bleiben vor allem die Schlüsselsituationen der Haupthandlung, in denen es um die Fragen der Selbstfindung, Selbstdistanzierung und des Sich-Annehmens geht. Existentialismus à la Suisse, der heute nicht mehr ganz frisch wirkt.

Ehrenwert, dass Matthes der Versuchung zu billiger Distanzierung widersteht. Andererseits ist Frischs Roman auch hier nicht auf einen glattgebügelten Herzenston gestimmt, und man wünscht sich, dass Matthes die Stiller-Reflexionen passagenweise nicht so gelesen hätte, als kämen sie von Hermann Hesse. Frischs Poetik der Ich-Entwürfe und Rollenspiele, seine Fiktion im Modus des Fingierten gehören zum Kühnsten, was die Literatur der fünfziger Jahre zu bieten hat, und sie hätten auch im Vortrag etwas mehr Kühnheit verdient. Aber keine Frage: Auch mit kleinen Einschränkungen bietet diese "Stiller"-Lesung großen Hörgenuss.

Max Frisch: Stiller
Roman. Gekürzte Fassung
Gelesen von Ulrich Matthes
Hoffmann und Campe 2005
Acht CDs, 572 min, 35 Euro