Ex und Post

Von Hans Christoph Buch |
"Ich bin der ehemalige Berater des ehemaligen Präsidenten der ehemaligen Sowjetunion": Mit diesen Worten stellte sich Alexander Jakowlew, die rechte Hand von Michail Gorbatschow, auf einem Pariser Kongress zum Krieg im ehemaligen Jugoslawien vor.
Das war 1992, und damals hielt ich die seltsame Häufung des Adjektivs "ehemalig" noch für eine sprachliche Mode, die durch den Untergang des sowjetischen Imperiums auf die Tagesordnung gesetzt worden war und bald wieder verschwinden würde. Weit gefehlt! Sechzehn Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer ist niemandem mehr klar, ob und wann von der ehemaligen DDR, der früheren DDR, der damaligen DDR oder einfach nur von der DDR die Rede sein muss: Eine knifflige Frage, deren Beantwortung ebenso vom Standpunkt des Sprechers abhängt wie vom Zeitpunkt, auf den er oder sie sich bezieht – abgesehen davon, dass der Unterschied zwischen Perfekt, Imperfekt und Plusquamperfekt langsam in Vergessenheit gerät.

Das Adjektiv "ehemalig" wird heute dermaßen inflationär gebraucht, dass die Gesellschaft für deutsche Sprache es zum Unwort der Jahrtausendwende hätte küren können, speziell in der Kurzform "Ex": Um Zeit oder um Platz zu sparen, ist in den Medien neuerdings von Ex-Jugoslawien oder der Ex-DDR die Rede, so wie man im Privatleben nicht mehr von seinem Ex-Mann, seiner Ex-Frau oder Ex-Geliebten spricht, sondern nur noch von seinem oder seiner "Ex". Seit Einführung des grünen Punkts ist der Slogan "Ex und hopp", der sich früher auf Einwegflaschen bezog, aus dem Altglascontainer in die Beziehungskiste abgewandert - Jürgen Trittin sei Dank.

Und da stabile Beziehungen heute Ausnahmen und längst nicht mehr die Regel sind, hat sich ein Begriff eingebürgert, der die neue Liebesunordnung adäquater beschreibt als altmodische Bezeichnungen wie Mann oder Frau: Der "Lebensabschnittspartner", auch so ein Unwort, das im Unterschied zum "Kollateralschaden" der Aufmerksamkeit unserer sprachlichen Tugendwächter entgangen ist.

Nicht überall, wo X draufsteht, ist auch X drin, heißt es, und weil der leicht verderbliche Inhalt oder, besser gesagt, die negative Bedeutung eines Begriffs dessen sprachliche Form kontaminiert, hat man den Kolonialismus in Neokolonialismus und später in Postkolonialismus umgetauft, während die Ex-Kommunisten sich jetzt Post-Kommunisten nennen, die Neonazis aber zum Zeichen, dass sie nichts dazugelernt haben, wieder als Nazis bezeichnet werden dürfen.

Das von Francis Fukuyama – oder war es Samuel Huntington? – proklamierte Ende der Geschichte war zugleich der Beginn des Posthistorie, das wiederum mit der Postmoderne zusammenfiel - was auch immer sich hinter derart wolkigen Wörtern verbirgt. Oder handelt es sich um sprachliche Seifenblasen, deren Sinn darin besteht, sich so lange aufzublähen, bis ihre bunt schillernde Haut zerplatzt, in deren Wölbungen der Betrachter sich selbst gespiegelt sieht? Damit bin ich zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen zurückgekehrt, zur Explosion oder Implosion eines politischen Systems – beides läuft auf dasselbe hinaus.

Das Ende eines alten und den Anbruch eines neuen Jahrs feiern wir mit knallenden Sektkorken und Gläsern, die "ex" getrunken werden. Weil der Zeitpfeil nur in eine Richtung fliegt, kehrt der Korken nicht wieder in die Flasche zurück, aber seit Einstein und Freud wissen wir, dass Energie gleich Masse mal Geschwindigkeit ist und dass aus dem Bewusstsein Verdrängtes sich irgendwann zurückmeldet – und zwar in aggressiver Form.

"Wer die Vergangenheit nicht versteht, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen." Diese Einsicht stammt nicht von Karl Marx, sondern von dem amerikanischen Kulturphilosophen George Santayana, und sie gilt für Ex-Ehemänner genauso wie für Post-Feministinnen, Neoliberale und Alt-Achtundsechziger. So besehen, sind wir alle Ehemalige und sitzen, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht, im gleichen Boot.

Hans Christoph Buch, 1944 in Wetzlar geboren, wuchs in Wiesbaden und Marseille auf und las im Jahr seines Abiturs (1963) bereits vor der Gruppe 47. Mit 22 Jahren veröffentlichte er seine Geschichtensammlung "Unerhörte Begebenheiten". Ende der 60er Jahre verschaffte er sich Gehör als Herausgeber theoretischer Schriften, von Dokumentationen und Anthologien. Auch mit seinen Essays versuchte er, politisches und ästhetisches Engagement miteinander zu versöhnen. Erst 1984 erschien sein lang erwartetes Romandebüt: "Die Hochzeit von Port au Prince". Aus seinen Veröffentlichungen: "In Kafkas Schloß", "Wie Karl May Adolf Hitler traf", "Blut im Schuh". 2004 erschien "Tanzende Schatten".