Ex-Prediger Torsten Hebel

"Zweifel gehört in den Glauben"

Torsten Hebel auf dem Cover seines Buches "Freischwimmer"
Torsten Hebel auf dem Cover seines Buches "Freischwimmer" © Verlag SCM Hännsler
Torsten Hebel im Gespräch mit Philipp Gessler · 28.02.2016
Er war als charismatischer Prediger ein Star der evangelikalen Szene, doch jetzt gehört er zu den Aussteigern: der Theologe und Schauspieler Torsten Hebel. Er kritisiert den engen dogmatischen Rahmen der Evangelikalen und wird dafür als "Verräter" oder "Nestbeschmutzer" beschimpft.
Philipp Gessler: Die tendenziell fundamentalistische, sehr fromme und ausgesprochen bibeltreue evangelikale Szene ist sehr stark, in den USA beispielsweise. Aber auch in Deutschland haben sich die evangelikalen Christinnen und Christen etabliert, nicht zuletzt dank einiger charismatischer Prediger, die fast wie Popstars gerade von der Jugend verehrt werden. Einer von ihnen war Torsten Hebel. Ein Theologe, Moderator und Schauspieler.
Doch dann stellte der 50-jährige Berliner fest, dass ihm auf einmal der Glaube an Gott flöten gegangen war – und Hebel schrieb ein Buch darüber. Das war ein Affront in der evangelikalen Szene: ein Buch über Glaubenszweifel! Torsten Hebel hat eine Art von Glauben zwar wieder gefunden, aber auch einige frühere evangelikale Fans verloren.
Ich habe mit Torsten Hebel über seine Glaubenszweifel und die Reaktionen darauf unter den Evangelikalen gesprochen, und zwar in den Räumen seines Hilfsprojekts für Kinder und Jugendliche: blu:boks in Berlin-Lichtenberg. Meine erste Frage an Torsten Hebel war, ob er sich als ein Aussteiger aus der evangelikalen Szene sieht?
Torsten Hebel: Das würde ich so eigentlich nicht sagen, aber viele andere würden das sagen. Zum Aussteigen braucht man klar definierte Grenzen, man muss genau wissen, woraus man aussteigt und worein man hineinsteigt, wenn man so was tut. Diese Prozesse erfordern natürlich auch eine sehr starke Reflexion. Und ich habe einfach das gemacht, was ich fühle. Und mir wurde ein bestimmter Bezugsrahmen innerhalb der evangelikal-christlichen Szene zu eng, das passte alles nicht mehr, auch nicht mehr mit meinen inneren Überzeugungen. Und dann war es doch an der Zeit, einen Schritt zu tun raus aus diesem Bezugsrahmen. Und das habe ich in der Tat gemacht.
Gessler: Was meinen Sie mit Bezugsrahmen?
Hebel: Na ja, Theologie ist ja zu 80 Prozent Biografie. Das bedeutet: Fragen Sie fünf Theologen nach Abendmahlsverständnis oder Taufverständnis, oder diese ganzen kirchlichen Fragen, und Sie bekommen 19 unterschiedliche Antworten. Und jeder nimmt aber die Wahrheit für sich in Anspruch. Und mit diesem Spiel kann ich nichts mehr anfangen. Ich glaube auch, dass der Begriff der Wahrheitsfindung oder Wahrheit an sich eigentlich kein Begriff ist, der einem Menschen gehört, schon gar keinem Theologen gehört. Wenn es jemand von sich behaupten kann, dann ist es Gott selbst. Aber diesen können wir eben auch nicht vereinnahmen. Und deshalb muss man sich sehr vorsichtig und mit sehr viel Demut dieser Wahrheit nähern und das habe ich gemacht, da bin ich jetzt gerade noch dran und das ist ein Weg, den man geht. Und da kommt dann tatsächlich so dieses geflügelte Wort "Der Weg ist das Ziel" wirklich zum Tragen. Ich habe heute viel weniger Antworten als damals, aber viel mehr Fragen übers Leben, über den Glauben, über das, was oder wer Gott ist. Und diese Fragen sind unbequem und damit kommen viele andere Menschen nicht so zurecht. Aber ich eben auch nicht und deshalb muss man sich die stellen und die abarbeiten.
Gessler: Glauben Sie noch an Gott?
Hebel: Sehr gute Frage. Ja, ich glaube an Gott, aber nicht mehr so, wie ich an Gott geglaubt habe.
Gessler: Sie beschreiben ja so etwas in Ihrem Buch, es ist eine Art … Gott ist nicht personal, sondern er ist außer mir und in mir. Und ich bin sozusagen immer umfangen durch ihn und er ist in mir.
Hebel: Ja, das ist ja fast schon eine philosophische Frage. Zunächst einmal glaube ich, dass wir uns allen keinen Gefallen tun, wenn wir die Frage mit so einem dualistischen System beantworten. Das heißt, entweder es gibt Gott oder es gibt ihn nicht, entweder Gott ist soundso oder er ist soundso. Das mag vielleicht auf uns Menschen zutreffen, aber ob das auf Gott zutrifft, das wage ich wirklich zu bezweifeln. Diese Dialektik sehen wir in der gesamten Theologie, wenn Jesus von sich behauptet, ich bin 100 Prozent Mensch und 100 Prozent Gott, dann schließt sich das rein mathematisch aus, mit logischem Denken nicht zu erfassen. Und ich glaube, so müssen wir an den Begriff Gott herangehen. Weil, Gott heißt ja auch nicht Gott, das ist ja ein Kunstbegriff, den wir Menschen erfunden haben, um etwas Unfassbares und Unbegreifliches irgendwie begreifbar zu machen. Das ist ja nicht der Vorname oder Nachname von dem, an den wir glauben.

"Gott ist uns näher, als wir glauben"

Und das sind alles so Parameter, die ich in dem Denken von Menschen, die glauben, oft vermisst habe: Ich glaube, dass wir viel zu viele Aussagen machen über etwas, was ohne Aussage leben muss, was einfach da ist. Und ja, ich glaube, dass Gott um uns herum ist, dass Gott in uns ist. Aber ich glaube nicht mehr daran, dass da der Mensch ist und da ist Gott und der Mensch jetzt irgendwie durch eine moralische und ethische oder eine Werkgerechtigkeit, eine bestimmte Lebensführung zu diesem Gott gelangen muss. Das glaube ich nicht, sondern ich glaube, Gott ist uns näher, als wir glauben.
Gessler: Ist nicht Ihr vorsichtiger, auch zweifelnder Glaube, den Sie jetzt äußern, ein gewisses Unding in den evangelikalen Kreisen?
Hebel: Ja, nicht nur in den evangelikalen Kreisen. Ich glaube, dass der Mensch nicht wirklich mit Freiheit umgehen kann, und wenn, dann nur sehr schwer. Freiheit bedeutet auch immer Abwesenheit von vielleicht Grenzen, von bestimmten Abgrenzungen. Und wenn ich plötzlich auf einem weiten Feld stehe und auf mich selbst zurückgeworfen bin, wie lebe ich denn mein Leben, was entscheide ich denn … Ja, nach welchen Kriterien mache ich das dann? Neulich schrieb mir jemand, der das Buch gelesen hatte, ein paar unschöne Sachen, aber unter anderem eben auch, dass er glaubt, dass ich mein Heil verloren hätte, weil ich jetzt diese Fragen stelle. Da habe ich einen Menschen erkannt, der aus Angst vor Freiheit sich flüchtet in einen ganz engen dogmatischen Bezugsrahmen. Ich kann das nachvollziehen, denn da stand ich auch. Aber das ist für mich eben keine Freiheit. Das ist nicht das Leben. Das Leben bildet sich in Hunderten, Tausenden von Schattierungen ab, und da durchzukommen ist in der Tat schwer. Es ist ein Abenteuer. Aber wir können dieses Leben nur in dieser Freiheit begreifen, auch als Evangelikaler. Und da würde ich mir wünschen, dass man darüber neu eine Diskussion entbrennen lässt.
Gessler: Manche Angriffe von Evangelikalen scheinen ja auch relativ hart zu sein, "du Verräter" und Ähnliches. Was waren das so für Worte? Haben die weh getan?
Hebel: Also, es fielen die Worte "Nestbeschmutzer", es fielen die Worte "Verräter". Ich habe eine Postkarte oder einen Brief bekommen mit einer schwarzen Umrandung, da stand drauf: Christen in Karlsruhe sind sehr besorgt über Ihre Entwicklung und es wäre besser, dass ein Mühlstein um ihren Hals gehängt würde und Sie im See versenkt würden. Ganz ehrlich: Vor ein paar Jahren hätte mich so was getroffen. Ich kann das nicht ernst nehmen. Ich kann das auch nicht mehr ernst nehmen, wenn Leute mir absprechen, dass ich mein Heil verloren hätte, dass ich womöglich in die Hölle komme dafür. Da bin ich immer sehr froh, dass Gott viel gnädiger ist als wir Menschen.
Gessler: Haben Sie denn, seitdem Sie sozusagen sich geoutet haben mit Ihren Glaubenszweifeln in diesem Buch, noch einmal gepredigt? Sie waren ja ein gewisser Star in dieser Szene.
Hebel: Ja, ich habe oft gepredigt. Das erste Mal, weiß ich noch, da hatte ich wirklich Angst, weil ich gedacht habe, jetzt steigst du hier auf eine Kanzel, was hast du denn zu geben? Du kannst diese vorgefertigten Antworten nicht mehr geben, du kannst auch keine Dogmatik geben, die wasserdicht ist und in sich ein geschlossenes System bildet. Das Einzige, was ich geben konnte, war ich selbst. Und so habe ich gesprochen. Die Reaktion meiner Zuhörer war tatsächlich spektakulär. Damit hatte ich auch nicht gerechnet. Menschen fingen an zu weinen, Menschen fühlten sich, so wie sie es mir gespiegelt haben, sehr berührt durch diese Worte, weil sie, glaube ich, sehr liebend waren und sehr integrativ waren, und nicht ausgrenzend waren. Und ich habe gemerkt, dass meine Predigten tatsächlich an Qualität gewonnen haben. Ja, vielleicht ist weniger manchmal tatsächlich mehr.

"Das grenzte an Manipulation"

Gessler: Gibt es eigentlich in der evangelikalen Szene zu wenig Zweifel oder zu wenig Raum, den Zweifel, den man hat, zu äußern?
Hebel: Bei den Funktionären gibt es glaube ich in der Tat zu wenig Raum für Zweifel. Ich habe mit einigen gesprochen, auch aufgrund meines Buches, die mir unter der Hand gesagt haben: "Torsten, ich kann mir gar keine Zweifel erlauben in meinem Job, wenn ich mir die erlauben würde, würden die Spender abspringen, und davon leben wir nun mal." Privat habe ich eine ganz andere Meinung, zum Beispiel zum Thema Homosexualität habe ich eine ganz andere Meinung, zum Beispiel zum Thema Bekehrung und Aufrufen nach vorne und so weiter und so fort.
Gessler: Das müssen Sie erklären, "Aufrufen nach vorne" heißt?
Hebel: Ja, das habe ich ja auch lange Zeit gemacht. Das heißt, man macht eine Veranstaltung, man verhandelt ein bestimmtes Thema, Sinn des Lebens oder Vergebung, Versöhnung. Und zum Schluss landet man bei Jesus Christus am Kreuz und sagt: Jesus Christus – was theologisch ja auch richtig ist – hat die Schuld der ganzen Welt vergeben und jetzt kannst du den Schritt auf Christus hin machen und jetzt leihe ich dir meine Worte mit einem Übergabegebet. Das heißt: Jesus, ich lade dich jetzt ein, in mein Leben zu kommen, ich bitte dich, dass du meine Schuld und Sünde vergibst und so weiter, et cetera. Und ab dann ist das so der Marker, am der man Christ ist.
Das mag theoretisch so sein, da halte ich mich zurück. Die Veranstaltungen, die ich meine, sind aus meiner Sicht, vor allen Dingen wenn ich sie gemacht habe, grenzte das für mich an Manipulation. Und das muss jeder Mensch, der da vorne predigt, für sich selber entscheiden. Ich habe mich entschieden, das nicht mehr zu machen, zumindest nicht mehr so. Ich möchte damit aber keinen anderen verurteilen. Ja, das sind natürlich so Marker, da sind keine Zweifler erlaubt, null. Also, wenn Sie daran zweifeln, dass Jesus Christus Ihre Schuld und Sünde vergeben, dann haben Sie innerhalb der evangelikalen Szene natürlich ein Problem.

"Endlich sagt mal einer seine Zweifel!"

Und noch mal: Ich hänge nicht an den Worten, sondern was hinterlegt ist, der sogenannte Subtext der Worte. Also, das habe ich jetzt gelernt: Viele Menschen haben mir geschrieben aus der evangelikalen Szene und haben gesagt: Endlich, endlich sagt mal einer seine Zweifel! Diese Fragen, die Sie, Herr Hebel, in Ihrem Buch bewegen, die bewegen mich schon so lange, aber ich durfte sie nie äußern! Ja, das ist doch schlimm! Wenn wir nicht mehr fragen dürfen, ob es Gott gibt oder nicht, was haben wir denn in der Hand bitte schön? Wo ist denn Gott? Natürlich darf man an Gott zweifeln! Und im Judentum ist Zweifeln ein zentrales Element, dass man zweifeln darf. Man darf Gott sogar anschreien!
Gucken Sie sich die Rachepsalmen an oder die Psalmen, die Gebete, wo … Gott, wo bist du, ich kann nicht mehr weiter und so weiter! Natürlich hat Zweifel Platz im Glauben. Ein Thomas, der sich – also, in den Evangelien –, der sagt, ich kann nicht daran glauben … Und Jesus macht ihm keine Vorhaltungen, sondern er beweist sich ihm. Ja, aber nur aufgrund seiner Zweifel! Ich würde mir wünschen, dass wir viel mehr zweifeln, als diesen teilweise phrasenhaften Glauben vor uns hertragen. Glauben muss immer frisch auf den Tisch, jeden Tag neu müssen wir erleben und er muss was mit uns machen und der muss uns tragen. Aber wir müssen unseren Glauben nicht ertragen und so tun, als wären wir hier die Märtyrer und halten hier die letzte Bastion der evangelikalen Glaubensszene. Darum geht es doch gar nicht. Zweifel gehört da rein, in den Glauben.

Torsten Hebel / Daniel Schneider: Freischwimmer. Meine Geschichte von Sehnsucht, Glauben und vom großen, weiten Mehr
Verlag SCM Hännsler, Holzgerlingen 2015
256 Seiten, 19,95 Euro

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.