Ex-DLV-Präsident: Argumente für Antidopingkampf werden schwächer
Der ehemalige Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, Helmut Digel, sieht den Antidopingkampf angesichts allgemeiner gesellschaftlicher Entwicklungen gefährdet. Trotzdem müsse das "Fair-Play-Prinzip im Sport" erhalten werden, betonte Digel.
Deutschlandradio Kultur: Heute, in 33 Tagen beginnt in Südafrika die Fußballweltmeisterschaft, das größte Sportereignis in diesem Jahr. Herr Prof. Digel, nach der Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland haben Sie gesagt: "Diese WM sei ein Glücksfall für die Entwicklung des deutschen Sports gewesen." Wie haben Sie das gemeint und sehen Sie das auch heute noch so?
Helmut Digel: Ja, ich denke schon, dass diese Weltmeisterschaft in Deutschland etwas ganz Besonderes gewesen ist. Sicher hat es auch schon zuvor Ereignisse in Deutschland gegeben, die sich durch Weltoffenheit ausgezeichnet haben, die dann auch in der Welt Anerkennung finden konnten. Aber der Fußball ist nun mal jene globale Sportart, die in der ganzen Welt beachtet wird. Und auf diese Weise ist für Deutschland bei dieser Weltmeisterschaft etwas möglich gewesen, was so in dieser Dominanz, auch in dieser Reichweite zuvor noch nie gegeben war.
Dabei war nicht nur wichtig, dass man in Deutschland einen guten Fußball spielen konnte und auch die Weltmeisterschaft unter dem Aspekt des Sports, der dabei geboten wurde, etwas Schönes und Bedeutsames war, sondern es war in der Tat der Sachverhalt, dass die deutsche Bevölkerung sich selbst dabei präsentieren wollte gegenüber der Welt als ein guter Gastgeber. Und das ist der deutschen Gesellschaft gut gelungen.
Deutschlandradio Kultur: Kann denn umgekehrt die Weltmeisterschaft in Südafrika auch ein Glücksfall für die Entwicklung des südafrikanischen Sports und auch des gesellschaftlichen Lebens dort werden? Was glauben Sie?
Helmut Digel: Ich glaube, dass die Weltmeisterschaft in Südafrika unter dem Aspekt des Weltsports eine sehr viel wichtigere Bedeutung hat als die letzte Weltmeisterschaft in Europa. Dass Deutschland Weltmeisterschaften ausrichtet, das ist in vieler Hinsicht eine Selbstverständlichkeit. Aber mit der Entscheidung der FIFA, die Weltmeisterschaft nach Afrika zu vergeben, hat sich die Geographie des Weltsports entscheidend verändert.
Es ist nun zum ersten Mal gelungen, die Weltmeisterschaften in einen Kontinent zu vergeben, der als unterentwickelt gilt. Und dieser unterentwickelte Kontinent möchte zeigen, dass er es verdient, diese Weltmeisterschaften auszurichten, dass er durchaus in der Lage ist, auch mit der ersten Welt mitzuhalten.
Das gilt nicht nur für das sportliche Tun, also für das Fußballspielen selbst. Das haben die Afrikaner schon sehr lange bewiesen, dass sie sehr gut Fußballspielen können. Nein, sie möchten zeigen, dass in Afrika ein Großereignis, das ja auch organisatorisch eine Herausforderung darstellt, möglich ist.
Deutschlandradio Kultur: Heißt das für Sie, dass die WM in Südafrika auch einen Beitrag zum Nation Building leisten kann? Das heißt, könnte die WM identitätsstiftend wirken für die Staaten und Gesellschaften in Afrika?
Helmut Digel: Also, ich denke, die Problematik des Nation Building darf man nicht überschätzen. Sicher haben sportliche Erfolge – so wie sie auch bei uns Stolz hervorrufen – integrative Wirkungen in Afrika gehabt, aber diese Wirkungen sind nur kurzfristig. Wenn diese Wirkungen nicht mit ökonomischen Entwicklungen einhergehen, mit einer Verbesserung der Lebensqualität der Bürger, dann wird das Ganze Nation Building am Ende sehr brüchig sein.
Die Stammeskulturen haben nach wie vor eine herausragende Bedeutung in den jungen Nationen. Das gilt auch für Südafrika. Insofern, denke ich, darf man hier nicht allzu hohe Hoffnungen an diese Weltmeisterschaften herantragen.
Deutschlandradio Kultur: Prof. Digel, Fußball ist quasi weltweit ein Massensport. Der Weltfußballverband FIFA sieht sich deshalb ja auch in einer sozialen Verantwortung. Ist dieses Engagement, das ja zum Beispiel auch in der Football-for-Hope-Bewegung zum Ausdruck kommt, nach Ihrem Dafürhalten glaubhaft, wenn man dem gegenüberstellt, dass Fußball doch in erster Linie ein Millionen-, wenn nicht ein Milliardengeschäft ist, an dem die FIFA im Übrigen ja auch kräftig mitverdient?
Helmut Digel: Also, ich denke, Fußball ist beides. Fußball ist nun mal nahezu ein Religionsersatz für viele junge Menschen geworden. Wenn man sieht, wie leidenschaftlich der Fußball in den Nationen der Welt verfolgt wird und wie er unterstützt wird und wie er gelebt wird, dann sind die Entwicklungsprogramme, die die FIFA finanziert, die ja zum Ziel haben, dass diese jungen Nationen den Anschluss finden über ihre Fußballmannschaften zum Fußball der großen Welt, dann sind diese Entwicklungsprogramme durchaus glaubwürdig. Und sie haben auch durchaus sozial integrative Wirkung in den jeweiligen Ländern, in denen die Projekte durchgeführt werden. Man kann durchaus dem Fußball eine sozialpolitisch bedeutsame Rolle zusprechen, insbesondere wenn es um die Jugendarbeit geht.
Deutschlandradio Kultur: Bleiben wir doch kurz bei der Kombination von Sport und Kommerz. Handelt und verhält sich da das IOC, das Internationale Olympische Komitee, eigentlich anders als die FIFA?
Helmut Digel: Zunächst einmal gibt es einen gravierenden Unterschied in der Vermarktung. Ich denke, da ist schon das IOC etwas ganz besonderes. Denn das IOC legt Wert darauf, dass es als einzige Weltsportveranstaltung werbefrei bei den Wettkämpfen sich öffentlich zeigt. Das heißt, man hat dort keine verkauften Banden, man hat keine Werbebanner in den Stadien. Und auch für die Sponsoren des IOC sind die Werbeauftritte limitiert.
Deutschlandradio Kultur: Aber die Gewinnmaximierung als Ziel, das immer mit dabei steht, das ist doch beim IOC nicht anders als bei der FIFA.
Helmut Digel: Ich denke, das gilt für den gesamten Weltsport. Er tritt an, um Gewinne zu maximieren und zu optimieren. Das heißt, man möchte – so wie es für eine kapitalistische Wirtschaft üblich ist – seine Gewinne steigern. Man ist aus auf Wachstum, das heißt, Wachstumsraten sind gleichsam die Aushängeschilder für erfolgreiche Verbandsarbeit. Insofern verhalten sich das IOC und die FIFA genauso wie die Wirtschaft. Und das kann man nun auch, wenn man die letzten Jahrzehnte genauer betrachtet, sehr genau verfolgen.
Das IOC konnte von einer Olympiade, das heißt, in den Zwischenräumen von vier Jahren, jeweils die Einnahmen steigern durch den Verkauf der Marketingrechte, über die dieses IOC verfügt, und durch den Verkauf der Fernsehrechte. Auf diese Weise konnten die Milliardeneinnahmen des IOC exponential gesteigert werden. Es stellt sich vielleicht allenfalls die Frage, ob man nun mittlerweile ein gewisses Limit erreicht hat.
Deutschlandradio Kultur: Hat man es erreicht?
Helmut Digel: Aber im Fußball ist es nicht abzusehen. Im Fußball sind weitere Steigerungsraten zu beobachten. Es werden selbst bei dieser Weltmeisterschaft in Südafrika, die man als sehr kritisch unter diesem Gesichtspunkt betrachtet hat, unter Vermarktungsgesichtspunkten neue Erfolge erzielt. Also, es werden noch Steigerungen erreicht, wie man eigentlich vor vier Jahren nicht erwartet hätte – und dies trotz einer Weltwirtschaftskrise.
Deutschlandradio Kultur: Sehen Sie in der immer weiter voranschreitenden Kommerzialisierung letztendlich auch eine Gefahr für das Überleben des Hochleistungssports?
Helmut Digel: Also, ich sehe durchaus Selbstzerstörungsgefahren. Wenn man glaubt, dass man Sportarten immer größer machen kann, wenn man immer noch mehr Events hinzufügt, aber gleichzeitig der Kuchen, der zu verteilen ist, nicht größer wird, dann wird die Konkurrenz der Verbände untereinander immer schärfer werden. Und das zeichnet sich schon seit längerer Zeit immer deutlicher ab. Es wird dabei nur wenige Sieger geben und es wird viele Verlierer geben. Auch heute schon gibt es große Verlierer, wenn es um die Verteilung der großen Töpfe geht, die zur Verfügung stehen, aus denen die Sportverbände ihre Gewinne erzielen können.
Deutschlandradio Kultur: Deutsche Sportler haben bei den Olympischen Winterspielen im Februar die Skeptiker überrascht und Platz 2 der Nationenwertung hinter Gastgeber Kanada belegt. Und bei den Sommerspielen in Peking 2008 war es ein respektabler 5. Rang. Wo sehen Sie die aktuellen Stärken der Sportförderung hierzulande? Und wo sehen Sie mögliche Defizite?
Helmut Digel: Also, ich denke, der deutsche Hochleistungssport wird wie kaum ein anderer Sport gesellschaftlich getragen. Und er wird vor allem auch politisch unterstützt. Und die Erfolge, die man im deutschen Hochleistungssport erzielt, die sind ganz wesentlich auf die Unterstützung des Bundesministers des Innern, das heißt, auf dessen Sportförderung zurückzuführen. Diese Sportförderung ist vorbildlich. Das hat sich auch bei den Winterspielen einmal mehr gezeigt.
Allerdings hat Vancouver gezeigt, dass wir besonders stark sind in jenen Disziplinen, die von Technologien geprägt sind, in denen es ein intensives Trainer-Know-how geben muss und in denen auch die Ingenieure eine wichtige Rolle spielen. In jungen Disziplinen, die hinzugefügt wurden, da fehlt es in Deutschland derzeit noch an der Basis. Das heißt, wir haben nur wenige junge Talente, die sich in diesen neuen Wintersportarten engagieren. Insofern kann man von einer gewissen Spaltung sprechen.
Bei den Sommerspielen ist die Situation sehr viel schwieriger. Die Konkurrenzlage hat sich verschärft. Da wird man zufrieden sein müssen, wenn man auf Dauer den 5. Platz in der Nationenwertung halten kann.
Deutschlandradio Kultur: Gehen wir noch Mal etwas ausführlicher auf die Talentsuche ein. Hat Deutschland da im Vergleich zu anderen Sportnationen Nachholbedarf?
Helmut Digel: Also, ich denke, wir müssen uns mit westeuropäischen Nationen vergleichen und nicht mit Diktaturen, die es ja nach wie vor gibt. Diktaturen hatten immer den Vorteil, dass sie sehr viel direkter ihre Talente finden konnten und sie auch sehr viel intensiver fördern konnten. Dies gilt beispielsweise für China, die es auch heute noch können. Wenn ich aber Westeuropa betrachte, so haben alle westeuropäischen Nationen dasselbe Problem. Die jungen Menschen befinden sich in Konsumgesellschaften. Sie haben vielfältige Anreize in ihrem Alltag.
Und es ist eher eine Ausnahme, wenn junge Menschen den Weg in den Hochleistungssport finden. Das heißt, man wird nicht mehr aus einem großen Talentreservoir in der weiteren Zukunft schöpfen können, sondern es wird darauf ankommen, dass man jene Talente, die bereit sind, den schwierigen Weg des Hochleistungssports zu gehen, dass man denen eine optimale Förderung an die Hand gibt und sie gleichzeitig sozial absichert, dass die Risiken, die sie eingehen, verantwortet werden können.
Hier haben wir Defizite in Deutschland, aber auch in den übrigen europäischen Nationen. Im Moment liegt das Problem des Hochleistungssports in Westeuropa vorrangig in der problematischen Fluktuation begründet, die nahe liegend ist, wenn die Karrieren so unabgesichert sich ereignen, wie sie heute in der Regel zu beobachten sind.
Deutschlandradio Kultur: Die Leichtathletik-WM im vergangenen Sommer in Berlin war sicherlich in jeder Hinsicht ein großer Erfolg. Und trotzdem, steckt die deutsche Leichtathletik nicht in der Krise, auch wenn es einige Spitzensportler - Sie sagten das - vor allem in technischen Disziplinen gibt? Aber außer bei der WM erleben wir immer halb volle Stadien. Es gibt wenig TV-Präsenz usw., usf.
Helmut Digel: Ich denke, das, was in der Leichtathletik passiert, ist symptomatisch für den gesamten olympischen Hochleistungssport. Viele dieser Sportarten werden eigentlich nur noch wahrgenommen während der Olympischen Spiele und während ihrer Weltmeisterschaften. Alle niedrigeren Leistungsniveaus werden angesichts der Überflutung, die ja in den Massenmedien auch zu einer Überreizung des Publikums geführt hat, nicht mehr wahrgenommen.
Früher konnte man noch deutsche Meisterschaften der Leichtathletik zwei Tage live übertragen. Und das fand das Zuschauerinteresse. Heute sind solche Live-Übertragungen undenkbar geworden angesichts der Medienlandschaft, so wie sie sich uns heute darstellt, und angesichts der Sehgewohnheiten der Zuschauer. Die haben sich entscheidend verändert.
Nun versuchen alle Verbände moderner zu werden Sie möchten ihre Veranstaltungen zu sogenannten Events umstrukturieren. Man möchte die Zuschauer im Stadion mit neuen interessanten Themen an sich binden und mit neuen Präsentationsformen. Aber das wird auf Dauer nicht gelingen, denn das Problem ist die Vervielfältigung der Angebote, die Vervielfältigung der Sportarten und die gleichzeitig verschärfte Konkurrenz innerhalb der Unterhaltungsindustrie.
Deutschlandradio Kultur: Der Superstar der Leichtathletik ist momentan der Sprinter Usain Bolt aus Jamaika. Er rannte und rennt seine Konkurrenz derzeit in Grund und Boden. Können Sie als ehemaliger Leistungssportler und auch langjähriger Präsident des Deutschen Leichtathletikverbandes Fabelweltrekorde, wie die von Bolt, mit unbefangener Freude genießen oder denken Sie dabei auch an Doping?
Helmut Digel: Das Dopingproblem hat sich vergrößert. Immer mehr Sportarten sind von diesem Dopingproblem belastet. Und natürlich muss auch ein Usain Bolt damit leben, dass seine Leistungen für manche Experten unter Dopingverdacht stehen.
Deutschlandradio Kultur: Auch für Sie?
Helmut Digel: Ich habe mir in meiner Tätigkeit als Funktionär eine Haltung zu Eigen gemacht, die mir wichtig ist. Usain Bolt muss als fairer und sauberer Athlet gelten, solange nicht das Gegenteil bewiesen ist. Denn auch unsere deutschen Athleten haben spektakuläre Leistungssteigerungen aufzuweisen. Und Leistungssteigerungen hat es immer gegeben. Und außergewöhnliche Talente hat es in der Geschichte des Hochleistungssports ebenfalls immer gegeben.
Da uns die Wissenschaften keine verantwortungsvolle Antwort geben, ob diese Zeiten, die Usain Bolt läuft, menschenmöglich sind, müssen wir zunächst einmal die Leistungen so nehmen, wie sie erbracht werden. Aber wir müssen gleichzeitig immer wissen, dass im Männersprint viele der großen Stars sehr schnell verbrannt sind aufgrund nachgewiesener Dopingverstöße. Das ist das Problem des modernen Hochleistungssports, dass der Verdacht mittlerweile immer mitläuft. Und dieser Verdacht schadet diesem Hochleistungssport. Er hat deshalb immer weniger Vorbildcharakter. Er ist immer weniger nachahmenswert für junge Menschen. Und deswegen ist es so wichtig, dass man engagiert den Dopingbetrug bekämpft.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben im vergangenen Jahr gesagt, Deutschland habe von allen führenden Hochleistungssportnationen nahezu das, man höre und staune, "größte Dopingproblem". Wie begründen Sie diese These?
Helmut Digel: Ich habe mich geärgert, dass wir immer mit dem Finger auf andere zeigen. Bei der Tour de France haben wir das gemacht. Wir haben dies in der Leichtathletik gemacht. Die Chinesen, die werden pauschal unter Verdacht gestellt. Und auch die Amerikaner haben wir natürlich immer des Dopings verdächtigt oder die Griechen. Ich könnte viele Beispiele benennen.
Wenn ich nun einmal die spektakulären Fälle in der Vergangenheit betrachte, so waren es überwiegend Deutsche. Es war der Krabbe-Fall, der ein Weltskandal war, der aufgezeigt hat, mit welchen sehr kriminellen Methoden hier die Kontrollen unterlaufen werden.
Es waren deutsche Trainer, die anstelle ihrer Athleten den Urin ausgetauscht haben. Ich könnte die Serie der deutschen Delikte fortsetzen. Vor dem Hintergrund, was alles in Deutschland zum ersten Mal im Sinne eines Betrugdelikts aufgedeckt wurde, müssen wir davon ausgehen, dass wir ein erhebliches Dopingproblem im deutschen Hochleistungssport haben. Wir müssen dabei begreifen, dass der Kampf gegen Doping mit dem Problem konfrontiert ist, dass immer wieder neue Substanzen hinzukommen und es damit ein unendliches Kämpfen sein wird, bei dem es nicht einen Punkt gibt, bei dem man sagen kann, man hat die Schlacht gewonnen.
Deutschlandradio Kultur: Im Antidopingkampf ist ja oft die Rede vom "mündigen Athleten". Was können die Sportler denn tun, einmal abgesehen davon, dass sie selbst natürlich auf illegale leistungssteigernde Substanzen verzichten müssen?
Helmut Digel: Also, ich sehe die Athleten längst gefordert. Wenn sie ihren Sport als Berufsathleten, als eine Profession betrachten, dann müssten sie den entscheidenden Beitrag bringen, damit ihr Beruf geschützt wird. Und dazu wird heute von den Athleten viel zu wenig unternommen. Die Athleten, sie müssten artikulieren, dass sie selbst den sauberen Hochleistungssport wollen und dazu beispielsweise auch einen finanziellen Beitrag leisten.
Bislang haben sich die Athleten mit ihren Gewinnprämien noch nicht beteiligt am Schutz eines sauberen Sports. Und das ist aus meiner Sicht zwingend geboten. Die Athleten könnten längst, und zwar die erfolgreichen Athleten, eine Stiftung gründen, um damit nach außen hin aufzuzeigen, wie ernst sie es meinen im Antidopingkampf. Und mit dieser Stiftung könnten sie beispielsweise die Forschung unterstützen.
Sie könnten auch die Frage diskutieren: Wie geht es weiter, wenn das Gen-Doping auf uns zukommt? Hier wären viele Initiativen denkbar und wünschenswert, die man von Seiten der Athleten selbst ergreifen könnte. Aber die Athleten haben diesbezüglich nur eine schwache Organisation aufzuweisen. Und schon gar nicht ist zu erkennen, dass sie sich wirklich glaubhaft im Antidopingkampf engagieren.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben ja Kontakt zu Athleten, unterstelle ich einmal. Und wenn Sie denen dieses vorschlagen, wie reagieren die? Warum passiert da nichts?
Helmut Digel: Es gab ja schon Zeiten, wo die Athleten sehr viel entschiedener ihren Kampf gegen Doping geführt haben. Ich denke an Heike Henkel und an Athleten, die diese Demonstration gegen Doping auch öffentlich durchgeführt haben. Diese Zeit ist leider Geschichte.
Und ich frage mich, warum ist nicht heute ein vergleichbares öffentliches Engagement einer organisierten Athletenschaft möglich? Die Athletensprecher, die gewählt sind, auch die Athletenkommission innerhalb des IOC und die Athletenkommission innerhalb der olympischen Fachverbände, die hätten hier den entscheidenden Auftrag, dass sie nach außen hin sehr viel deutlicher dies zum Ausdruck bringen. Wenn sie dies nicht tun, dürfen sie sich nicht wundern, dass die Verdachtsmomente immer weiter zunehmen werden.
Deutschlandradio Kultur: Sind bestimmte Sportarten möglicherweise so populär, dass ihre Beliebtheit mehr oder weniger immun ist gegen Betrugsvorwürfe, wie etwa Doping? Ich denke da zum Beispiel an den Fußball oder auch an Radfahren in einigen, vor allem südeuropäischen, Ländern.
Helmut Digel: Nun, das Problem ist in der Tat das Publikum. Das Publikum ist ja bereit, auch sofort wieder zur nächsten Sensation und zum nächsten großen Ereignis überzuwechseln und es als Publikum zu unterstützen, ohne dass der Dopingverdacht ausgeräumt wäre. Solange das Publikum in dieser Weise reagiert als Masse, das am spektakulären Ereignis interessiert ist, und für die große Mehrheit des Publikums scheint es ja so zu sein, dass es diesen Menschen egal ist, ob nun diese Athleten gedopt sind oder nicht, ob sie ihre Gesundheit gefährden oder nicht, sie sind am Spektakel interessiert, und solange diese Art von Unterhaltung funktioniert, wird dieser Antidopingkampf immer auf Probleme stoßen.
Das kann man erkennen, wenn man die Berichterstattung in den öffentlichen Medien diesbezüglich verfolgt. Es wird kurzfristig skandalisiert. Dann ist der Skandal selbst ein interessantes Thema. Dann geht man wieder zur Tagesordnung über und man wird dann wieder vom nächsten Skandal eingeholt, wenn ein Top-Star des Dopings überführt wurde. Aber eine konsequente Begleitung im Sinne einer engagierten kritischen Dopingberichterstattung ist den Massenmedien, insbesondere dem Fernsehen, bis heute nicht gelungen.
Deutschlandradio Kultur: Bleiben wir noch vielleicht einen Moment bei den Zuschauern. Was würden Sie Menschen sagen, und das sind ja immer mehr, die meinen, wenn man Doping völlig frei gäbe, dann wäre doch sozusagen die Gleichheit der Waffen wieder hergestellt? Was sagen Sie denen?
Helmut Digel: Ich denke, die Argumente für einen engagierten Antidopingkampf, die werden zukünftig immer schwächer werden. Und das ist die eigentliche Herausforderung, mit der sich die Verantwortlichen im Sport auseinandersetzen müssen. Wenn um den Sport herum, also in unserem Alltag, die Manipulation des menschlichen Körpers zur Alltäglichkeit wird, wenn Menschen sich alles Mögliche transplantieren lassen, es wird ja bereits schon Lebendtransplantation durchgeführt, bezogen auf menschliche Organe, wenn man seine Schönheit manipuliert, wenn die Geburt manipuliert wird, wenn alles manipuliert wird, wenn "Enhancement", so sagt man im Englischen, das große Thema wird, wie kann ich mein Gehirn noch steigern, dass ich noch perfekter denke, und welche Drogen tragen dazu bei, dass ich diese gesteigerten Leistungen erbringen kann, wenn das die Umwelt ist, in der wir uns bewegen, dann stellt sich die Frage: Und warum soll man den Sport in ein Museum hineinstellen, im Sport etwas kultivieren, was eigentlich um den Sport herum unter ethisch-moralischen Gesichtspunkten gar keinen Stellenwert mehr hat?
Der Sport konnte sich als eine kulturell bedeutsame Welt, als ein Zeigesystem für unsere Gesellschaft, über seinen Wettbewerb und sein Fair Play und seine Leistung durchaus als etwas Wichtiges im 19. und 20. Jahrhundert darstellen. Aber mit dieser veränderten Umwelt wird dies immer schwieriger möglich sein. Und deswegen werden die Argumente für den Antidopingkampf auch immer schwieriger werden. Und diejenigen, die für Freigabe plädieren, werden immer bessere Argumente erhalten. Das ist die schwierigste Herausforderung, der sich die Sportfunktionäre heute zu stellen haben.
Deutschlandradio Kultur: Das heißt, unter den angesprochenen gesellschaftlichen Umständen: Ist der Kampf gegen Doping überhaupt zu gewinnen?
Helmut Digel: Also, grundsätzlich glaube ich, dass wir den Begriff "gewinnen" hier nicht verwenden sollten. Denn wir haben im Sport Regeln, die wir miteinander vereinbart haben. Und diese Regeln, gegen die kann verstoßen werden, aber wünschenswert ist, dass die vereinbarten Regeln befolgt werden. Das ist die Idee des Sports. Und deswegen gibt es aber per se im Sport immer den Regelverstoß.
Es wird also einen dopingfreien Sport von der Logik des Sports her gesehen, nicht geben können. Aber wir können glaubwürdig gegen diejenigen vorgehen, die gegen die Regeln verstoßen. Das ist die Idee, immer wieder das Fair-Play-Prinzip im Sport zu erhalten, es als bedeutsam für die Weiterentwicklung des Sports zu kultivieren.
Und Doping muss sich genau dieser Maxime unterwerfen. Wir müssen konsequent Doping bestrafen. Und wir müssen alles tun, dass Athleten bereit sind, den Weg zum fairen Sport zurückzugehen oder ihn, wenn sie ihn betreiben, zu erhalten. Hier sind wir gefordert. Aber der Dopingverstoß als solcher wird wahrscheinlich niemals aus der Welt zu schaffen sein.
Deutschlandradio Kultur: Herr Prof. Digel, wir bedanken uns ganz herzlich für das Gespräch.
Helmut Digel: Ja, ich denke schon, dass diese Weltmeisterschaft in Deutschland etwas ganz Besonderes gewesen ist. Sicher hat es auch schon zuvor Ereignisse in Deutschland gegeben, die sich durch Weltoffenheit ausgezeichnet haben, die dann auch in der Welt Anerkennung finden konnten. Aber der Fußball ist nun mal jene globale Sportart, die in der ganzen Welt beachtet wird. Und auf diese Weise ist für Deutschland bei dieser Weltmeisterschaft etwas möglich gewesen, was so in dieser Dominanz, auch in dieser Reichweite zuvor noch nie gegeben war.
Dabei war nicht nur wichtig, dass man in Deutschland einen guten Fußball spielen konnte und auch die Weltmeisterschaft unter dem Aspekt des Sports, der dabei geboten wurde, etwas Schönes und Bedeutsames war, sondern es war in der Tat der Sachverhalt, dass die deutsche Bevölkerung sich selbst dabei präsentieren wollte gegenüber der Welt als ein guter Gastgeber. Und das ist der deutschen Gesellschaft gut gelungen.
Deutschlandradio Kultur: Kann denn umgekehrt die Weltmeisterschaft in Südafrika auch ein Glücksfall für die Entwicklung des südafrikanischen Sports und auch des gesellschaftlichen Lebens dort werden? Was glauben Sie?
Helmut Digel: Ich glaube, dass die Weltmeisterschaft in Südafrika unter dem Aspekt des Weltsports eine sehr viel wichtigere Bedeutung hat als die letzte Weltmeisterschaft in Europa. Dass Deutschland Weltmeisterschaften ausrichtet, das ist in vieler Hinsicht eine Selbstverständlichkeit. Aber mit der Entscheidung der FIFA, die Weltmeisterschaft nach Afrika zu vergeben, hat sich die Geographie des Weltsports entscheidend verändert.
Es ist nun zum ersten Mal gelungen, die Weltmeisterschaften in einen Kontinent zu vergeben, der als unterentwickelt gilt. Und dieser unterentwickelte Kontinent möchte zeigen, dass er es verdient, diese Weltmeisterschaften auszurichten, dass er durchaus in der Lage ist, auch mit der ersten Welt mitzuhalten.
Das gilt nicht nur für das sportliche Tun, also für das Fußballspielen selbst. Das haben die Afrikaner schon sehr lange bewiesen, dass sie sehr gut Fußballspielen können. Nein, sie möchten zeigen, dass in Afrika ein Großereignis, das ja auch organisatorisch eine Herausforderung darstellt, möglich ist.
Deutschlandradio Kultur: Heißt das für Sie, dass die WM in Südafrika auch einen Beitrag zum Nation Building leisten kann? Das heißt, könnte die WM identitätsstiftend wirken für die Staaten und Gesellschaften in Afrika?
Helmut Digel: Also, ich denke, die Problematik des Nation Building darf man nicht überschätzen. Sicher haben sportliche Erfolge – so wie sie auch bei uns Stolz hervorrufen – integrative Wirkungen in Afrika gehabt, aber diese Wirkungen sind nur kurzfristig. Wenn diese Wirkungen nicht mit ökonomischen Entwicklungen einhergehen, mit einer Verbesserung der Lebensqualität der Bürger, dann wird das Ganze Nation Building am Ende sehr brüchig sein.
Die Stammeskulturen haben nach wie vor eine herausragende Bedeutung in den jungen Nationen. Das gilt auch für Südafrika. Insofern, denke ich, darf man hier nicht allzu hohe Hoffnungen an diese Weltmeisterschaften herantragen.
Deutschlandradio Kultur: Prof. Digel, Fußball ist quasi weltweit ein Massensport. Der Weltfußballverband FIFA sieht sich deshalb ja auch in einer sozialen Verantwortung. Ist dieses Engagement, das ja zum Beispiel auch in der Football-for-Hope-Bewegung zum Ausdruck kommt, nach Ihrem Dafürhalten glaubhaft, wenn man dem gegenüberstellt, dass Fußball doch in erster Linie ein Millionen-, wenn nicht ein Milliardengeschäft ist, an dem die FIFA im Übrigen ja auch kräftig mitverdient?
Helmut Digel: Also, ich denke, Fußball ist beides. Fußball ist nun mal nahezu ein Religionsersatz für viele junge Menschen geworden. Wenn man sieht, wie leidenschaftlich der Fußball in den Nationen der Welt verfolgt wird und wie er unterstützt wird und wie er gelebt wird, dann sind die Entwicklungsprogramme, die die FIFA finanziert, die ja zum Ziel haben, dass diese jungen Nationen den Anschluss finden über ihre Fußballmannschaften zum Fußball der großen Welt, dann sind diese Entwicklungsprogramme durchaus glaubwürdig. Und sie haben auch durchaus sozial integrative Wirkung in den jeweiligen Ländern, in denen die Projekte durchgeführt werden. Man kann durchaus dem Fußball eine sozialpolitisch bedeutsame Rolle zusprechen, insbesondere wenn es um die Jugendarbeit geht.
Deutschlandradio Kultur: Bleiben wir doch kurz bei der Kombination von Sport und Kommerz. Handelt und verhält sich da das IOC, das Internationale Olympische Komitee, eigentlich anders als die FIFA?
Helmut Digel: Zunächst einmal gibt es einen gravierenden Unterschied in der Vermarktung. Ich denke, da ist schon das IOC etwas ganz besonderes. Denn das IOC legt Wert darauf, dass es als einzige Weltsportveranstaltung werbefrei bei den Wettkämpfen sich öffentlich zeigt. Das heißt, man hat dort keine verkauften Banden, man hat keine Werbebanner in den Stadien. Und auch für die Sponsoren des IOC sind die Werbeauftritte limitiert.
Deutschlandradio Kultur: Aber die Gewinnmaximierung als Ziel, das immer mit dabei steht, das ist doch beim IOC nicht anders als bei der FIFA.
Helmut Digel: Ich denke, das gilt für den gesamten Weltsport. Er tritt an, um Gewinne zu maximieren und zu optimieren. Das heißt, man möchte – so wie es für eine kapitalistische Wirtschaft üblich ist – seine Gewinne steigern. Man ist aus auf Wachstum, das heißt, Wachstumsraten sind gleichsam die Aushängeschilder für erfolgreiche Verbandsarbeit. Insofern verhalten sich das IOC und die FIFA genauso wie die Wirtschaft. Und das kann man nun auch, wenn man die letzten Jahrzehnte genauer betrachtet, sehr genau verfolgen.
Das IOC konnte von einer Olympiade, das heißt, in den Zwischenräumen von vier Jahren, jeweils die Einnahmen steigern durch den Verkauf der Marketingrechte, über die dieses IOC verfügt, und durch den Verkauf der Fernsehrechte. Auf diese Weise konnten die Milliardeneinnahmen des IOC exponential gesteigert werden. Es stellt sich vielleicht allenfalls die Frage, ob man nun mittlerweile ein gewisses Limit erreicht hat.
Deutschlandradio Kultur: Hat man es erreicht?
Helmut Digel: Aber im Fußball ist es nicht abzusehen. Im Fußball sind weitere Steigerungsraten zu beobachten. Es werden selbst bei dieser Weltmeisterschaft in Südafrika, die man als sehr kritisch unter diesem Gesichtspunkt betrachtet hat, unter Vermarktungsgesichtspunkten neue Erfolge erzielt. Also, es werden noch Steigerungen erreicht, wie man eigentlich vor vier Jahren nicht erwartet hätte – und dies trotz einer Weltwirtschaftskrise.
Deutschlandradio Kultur: Sehen Sie in der immer weiter voranschreitenden Kommerzialisierung letztendlich auch eine Gefahr für das Überleben des Hochleistungssports?
Helmut Digel: Also, ich sehe durchaus Selbstzerstörungsgefahren. Wenn man glaubt, dass man Sportarten immer größer machen kann, wenn man immer noch mehr Events hinzufügt, aber gleichzeitig der Kuchen, der zu verteilen ist, nicht größer wird, dann wird die Konkurrenz der Verbände untereinander immer schärfer werden. Und das zeichnet sich schon seit längerer Zeit immer deutlicher ab. Es wird dabei nur wenige Sieger geben und es wird viele Verlierer geben. Auch heute schon gibt es große Verlierer, wenn es um die Verteilung der großen Töpfe geht, die zur Verfügung stehen, aus denen die Sportverbände ihre Gewinne erzielen können.
Deutschlandradio Kultur: Deutsche Sportler haben bei den Olympischen Winterspielen im Februar die Skeptiker überrascht und Platz 2 der Nationenwertung hinter Gastgeber Kanada belegt. Und bei den Sommerspielen in Peking 2008 war es ein respektabler 5. Rang. Wo sehen Sie die aktuellen Stärken der Sportförderung hierzulande? Und wo sehen Sie mögliche Defizite?
Helmut Digel: Also, ich denke, der deutsche Hochleistungssport wird wie kaum ein anderer Sport gesellschaftlich getragen. Und er wird vor allem auch politisch unterstützt. Und die Erfolge, die man im deutschen Hochleistungssport erzielt, die sind ganz wesentlich auf die Unterstützung des Bundesministers des Innern, das heißt, auf dessen Sportförderung zurückzuführen. Diese Sportförderung ist vorbildlich. Das hat sich auch bei den Winterspielen einmal mehr gezeigt.
Allerdings hat Vancouver gezeigt, dass wir besonders stark sind in jenen Disziplinen, die von Technologien geprägt sind, in denen es ein intensives Trainer-Know-how geben muss und in denen auch die Ingenieure eine wichtige Rolle spielen. In jungen Disziplinen, die hinzugefügt wurden, da fehlt es in Deutschland derzeit noch an der Basis. Das heißt, wir haben nur wenige junge Talente, die sich in diesen neuen Wintersportarten engagieren. Insofern kann man von einer gewissen Spaltung sprechen.
Bei den Sommerspielen ist die Situation sehr viel schwieriger. Die Konkurrenzlage hat sich verschärft. Da wird man zufrieden sein müssen, wenn man auf Dauer den 5. Platz in der Nationenwertung halten kann.
Deutschlandradio Kultur: Gehen wir noch Mal etwas ausführlicher auf die Talentsuche ein. Hat Deutschland da im Vergleich zu anderen Sportnationen Nachholbedarf?
Helmut Digel: Also, ich denke, wir müssen uns mit westeuropäischen Nationen vergleichen und nicht mit Diktaturen, die es ja nach wie vor gibt. Diktaturen hatten immer den Vorteil, dass sie sehr viel direkter ihre Talente finden konnten und sie auch sehr viel intensiver fördern konnten. Dies gilt beispielsweise für China, die es auch heute noch können. Wenn ich aber Westeuropa betrachte, so haben alle westeuropäischen Nationen dasselbe Problem. Die jungen Menschen befinden sich in Konsumgesellschaften. Sie haben vielfältige Anreize in ihrem Alltag.
Und es ist eher eine Ausnahme, wenn junge Menschen den Weg in den Hochleistungssport finden. Das heißt, man wird nicht mehr aus einem großen Talentreservoir in der weiteren Zukunft schöpfen können, sondern es wird darauf ankommen, dass man jene Talente, die bereit sind, den schwierigen Weg des Hochleistungssports zu gehen, dass man denen eine optimale Förderung an die Hand gibt und sie gleichzeitig sozial absichert, dass die Risiken, die sie eingehen, verantwortet werden können.
Hier haben wir Defizite in Deutschland, aber auch in den übrigen europäischen Nationen. Im Moment liegt das Problem des Hochleistungssports in Westeuropa vorrangig in der problematischen Fluktuation begründet, die nahe liegend ist, wenn die Karrieren so unabgesichert sich ereignen, wie sie heute in der Regel zu beobachten sind.
Deutschlandradio Kultur: Die Leichtathletik-WM im vergangenen Sommer in Berlin war sicherlich in jeder Hinsicht ein großer Erfolg. Und trotzdem, steckt die deutsche Leichtathletik nicht in der Krise, auch wenn es einige Spitzensportler - Sie sagten das - vor allem in technischen Disziplinen gibt? Aber außer bei der WM erleben wir immer halb volle Stadien. Es gibt wenig TV-Präsenz usw., usf.
Helmut Digel: Ich denke, das, was in der Leichtathletik passiert, ist symptomatisch für den gesamten olympischen Hochleistungssport. Viele dieser Sportarten werden eigentlich nur noch wahrgenommen während der Olympischen Spiele und während ihrer Weltmeisterschaften. Alle niedrigeren Leistungsniveaus werden angesichts der Überflutung, die ja in den Massenmedien auch zu einer Überreizung des Publikums geführt hat, nicht mehr wahrgenommen.
Früher konnte man noch deutsche Meisterschaften der Leichtathletik zwei Tage live übertragen. Und das fand das Zuschauerinteresse. Heute sind solche Live-Übertragungen undenkbar geworden angesichts der Medienlandschaft, so wie sie sich uns heute darstellt, und angesichts der Sehgewohnheiten der Zuschauer. Die haben sich entscheidend verändert.
Nun versuchen alle Verbände moderner zu werden Sie möchten ihre Veranstaltungen zu sogenannten Events umstrukturieren. Man möchte die Zuschauer im Stadion mit neuen interessanten Themen an sich binden und mit neuen Präsentationsformen. Aber das wird auf Dauer nicht gelingen, denn das Problem ist die Vervielfältigung der Angebote, die Vervielfältigung der Sportarten und die gleichzeitig verschärfte Konkurrenz innerhalb der Unterhaltungsindustrie.
Deutschlandradio Kultur: Der Superstar der Leichtathletik ist momentan der Sprinter Usain Bolt aus Jamaika. Er rannte und rennt seine Konkurrenz derzeit in Grund und Boden. Können Sie als ehemaliger Leistungssportler und auch langjähriger Präsident des Deutschen Leichtathletikverbandes Fabelweltrekorde, wie die von Bolt, mit unbefangener Freude genießen oder denken Sie dabei auch an Doping?
Helmut Digel: Das Dopingproblem hat sich vergrößert. Immer mehr Sportarten sind von diesem Dopingproblem belastet. Und natürlich muss auch ein Usain Bolt damit leben, dass seine Leistungen für manche Experten unter Dopingverdacht stehen.
Deutschlandradio Kultur: Auch für Sie?
Helmut Digel: Ich habe mir in meiner Tätigkeit als Funktionär eine Haltung zu Eigen gemacht, die mir wichtig ist. Usain Bolt muss als fairer und sauberer Athlet gelten, solange nicht das Gegenteil bewiesen ist. Denn auch unsere deutschen Athleten haben spektakuläre Leistungssteigerungen aufzuweisen. Und Leistungssteigerungen hat es immer gegeben. Und außergewöhnliche Talente hat es in der Geschichte des Hochleistungssports ebenfalls immer gegeben.
Da uns die Wissenschaften keine verantwortungsvolle Antwort geben, ob diese Zeiten, die Usain Bolt läuft, menschenmöglich sind, müssen wir zunächst einmal die Leistungen so nehmen, wie sie erbracht werden. Aber wir müssen gleichzeitig immer wissen, dass im Männersprint viele der großen Stars sehr schnell verbrannt sind aufgrund nachgewiesener Dopingverstöße. Das ist das Problem des modernen Hochleistungssports, dass der Verdacht mittlerweile immer mitläuft. Und dieser Verdacht schadet diesem Hochleistungssport. Er hat deshalb immer weniger Vorbildcharakter. Er ist immer weniger nachahmenswert für junge Menschen. Und deswegen ist es so wichtig, dass man engagiert den Dopingbetrug bekämpft.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben im vergangenen Jahr gesagt, Deutschland habe von allen führenden Hochleistungssportnationen nahezu das, man höre und staune, "größte Dopingproblem". Wie begründen Sie diese These?
Helmut Digel: Ich habe mich geärgert, dass wir immer mit dem Finger auf andere zeigen. Bei der Tour de France haben wir das gemacht. Wir haben dies in der Leichtathletik gemacht. Die Chinesen, die werden pauschal unter Verdacht gestellt. Und auch die Amerikaner haben wir natürlich immer des Dopings verdächtigt oder die Griechen. Ich könnte viele Beispiele benennen.
Wenn ich nun einmal die spektakulären Fälle in der Vergangenheit betrachte, so waren es überwiegend Deutsche. Es war der Krabbe-Fall, der ein Weltskandal war, der aufgezeigt hat, mit welchen sehr kriminellen Methoden hier die Kontrollen unterlaufen werden.
Es waren deutsche Trainer, die anstelle ihrer Athleten den Urin ausgetauscht haben. Ich könnte die Serie der deutschen Delikte fortsetzen. Vor dem Hintergrund, was alles in Deutschland zum ersten Mal im Sinne eines Betrugdelikts aufgedeckt wurde, müssen wir davon ausgehen, dass wir ein erhebliches Dopingproblem im deutschen Hochleistungssport haben. Wir müssen dabei begreifen, dass der Kampf gegen Doping mit dem Problem konfrontiert ist, dass immer wieder neue Substanzen hinzukommen und es damit ein unendliches Kämpfen sein wird, bei dem es nicht einen Punkt gibt, bei dem man sagen kann, man hat die Schlacht gewonnen.
Deutschlandradio Kultur: Im Antidopingkampf ist ja oft die Rede vom "mündigen Athleten". Was können die Sportler denn tun, einmal abgesehen davon, dass sie selbst natürlich auf illegale leistungssteigernde Substanzen verzichten müssen?
Helmut Digel: Also, ich sehe die Athleten längst gefordert. Wenn sie ihren Sport als Berufsathleten, als eine Profession betrachten, dann müssten sie den entscheidenden Beitrag bringen, damit ihr Beruf geschützt wird. Und dazu wird heute von den Athleten viel zu wenig unternommen. Die Athleten, sie müssten artikulieren, dass sie selbst den sauberen Hochleistungssport wollen und dazu beispielsweise auch einen finanziellen Beitrag leisten.
Bislang haben sich die Athleten mit ihren Gewinnprämien noch nicht beteiligt am Schutz eines sauberen Sports. Und das ist aus meiner Sicht zwingend geboten. Die Athleten könnten längst, und zwar die erfolgreichen Athleten, eine Stiftung gründen, um damit nach außen hin aufzuzeigen, wie ernst sie es meinen im Antidopingkampf. Und mit dieser Stiftung könnten sie beispielsweise die Forschung unterstützen.
Sie könnten auch die Frage diskutieren: Wie geht es weiter, wenn das Gen-Doping auf uns zukommt? Hier wären viele Initiativen denkbar und wünschenswert, die man von Seiten der Athleten selbst ergreifen könnte. Aber die Athleten haben diesbezüglich nur eine schwache Organisation aufzuweisen. Und schon gar nicht ist zu erkennen, dass sie sich wirklich glaubhaft im Antidopingkampf engagieren.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben ja Kontakt zu Athleten, unterstelle ich einmal. Und wenn Sie denen dieses vorschlagen, wie reagieren die? Warum passiert da nichts?
Helmut Digel: Es gab ja schon Zeiten, wo die Athleten sehr viel entschiedener ihren Kampf gegen Doping geführt haben. Ich denke an Heike Henkel und an Athleten, die diese Demonstration gegen Doping auch öffentlich durchgeführt haben. Diese Zeit ist leider Geschichte.
Und ich frage mich, warum ist nicht heute ein vergleichbares öffentliches Engagement einer organisierten Athletenschaft möglich? Die Athletensprecher, die gewählt sind, auch die Athletenkommission innerhalb des IOC und die Athletenkommission innerhalb der olympischen Fachverbände, die hätten hier den entscheidenden Auftrag, dass sie nach außen hin sehr viel deutlicher dies zum Ausdruck bringen. Wenn sie dies nicht tun, dürfen sie sich nicht wundern, dass die Verdachtsmomente immer weiter zunehmen werden.
Deutschlandradio Kultur: Sind bestimmte Sportarten möglicherweise so populär, dass ihre Beliebtheit mehr oder weniger immun ist gegen Betrugsvorwürfe, wie etwa Doping? Ich denke da zum Beispiel an den Fußball oder auch an Radfahren in einigen, vor allem südeuropäischen, Ländern.
Helmut Digel: Nun, das Problem ist in der Tat das Publikum. Das Publikum ist ja bereit, auch sofort wieder zur nächsten Sensation und zum nächsten großen Ereignis überzuwechseln und es als Publikum zu unterstützen, ohne dass der Dopingverdacht ausgeräumt wäre. Solange das Publikum in dieser Weise reagiert als Masse, das am spektakulären Ereignis interessiert ist, und für die große Mehrheit des Publikums scheint es ja so zu sein, dass es diesen Menschen egal ist, ob nun diese Athleten gedopt sind oder nicht, ob sie ihre Gesundheit gefährden oder nicht, sie sind am Spektakel interessiert, und solange diese Art von Unterhaltung funktioniert, wird dieser Antidopingkampf immer auf Probleme stoßen.
Das kann man erkennen, wenn man die Berichterstattung in den öffentlichen Medien diesbezüglich verfolgt. Es wird kurzfristig skandalisiert. Dann ist der Skandal selbst ein interessantes Thema. Dann geht man wieder zur Tagesordnung über und man wird dann wieder vom nächsten Skandal eingeholt, wenn ein Top-Star des Dopings überführt wurde. Aber eine konsequente Begleitung im Sinne einer engagierten kritischen Dopingberichterstattung ist den Massenmedien, insbesondere dem Fernsehen, bis heute nicht gelungen.
Deutschlandradio Kultur: Bleiben wir noch vielleicht einen Moment bei den Zuschauern. Was würden Sie Menschen sagen, und das sind ja immer mehr, die meinen, wenn man Doping völlig frei gäbe, dann wäre doch sozusagen die Gleichheit der Waffen wieder hergestellt? Was sagen Sie denen?
Helmut Digel: Ich denke, die Argumente für einen engagierten Antidopingkampf, die werden zukünftig immer schwächer werden. Und das ist die eigentliche Herausforderung, mit der sich die Verantwortlichen im Sport auseinandersetzen müssen. Wenn um den Sport herum, also in unserem Alltag, die Manipulation des menschlichen Körpers zur Alltäglichkeit wird, wenn Menschen sich alles Mögliche transplantieren lassen, es wird ja bereits schon Lebendtransplantation durchgeführt, bezogen auf menschliche Organe, wenn man seine Schönheit manipuliert, wenn die Geburt manipuliert wird, wenn alles manipuliert wird, wenn "Enhancement", so sagt man im Englischen, das große Thema wird, wie kann ich mein Gehirn noch steigern, dass ich noch perfekter denke, und welche Drogen tragen dazu bei, dass ich diese gesteigerten Leistungen erbringen kann, wenn das die Umwelt ist, in der wir uns bewegen, dann stellt sich die Frage: Und warum soll man den Sport in ein Museum hineinstellen, im Sport etwas kultivieren, was eigentlich um den Sport herum unter ethisch-moralischen Gesichtspunkten gar keinen Stellenwert mehr hat?
Der Sport konnte sich als eine kulturell bedeutsame Welt, als ein Zeigesystem für unsere Gesellschaft, über seinen Wettbewerb und sein Fair Play und seine Leistung durchaus als etwas Wichtiges im 19. und 20. Jahrhundert darstellen. Aber mit dieser veränderten Umwelt wird dies immer schwieriger möglich sein. Und deswegen werden die Argumente für den Antidopingkampf auch immer schwieriger werden. Und diejenigen, die für Freigabe plädieren, werden immer bessere Argumente erhalten. Das ist die schwierigste Herausforderung, der sich die Sportfunktionäre heute zu stellen haben.
Deutschlandradio Kultur: Das heißt, unter den angesprochenen gesellschaftlichen Umständen: Ist der Kampf gegen Doping überhaupt zu gewinnen?
Helmut Digel: Also, grundsätzlich glaube ich, dass wir den Begriff "gewinnen" hier nicht verwenden sollten. Denn wir haben im Sport Regeln, die wir miteinander vereinbart haben. Und diese Regeln, gegen die kann verstoßen werden, aber wünschenswert ist, dass die vereinbarten Regeln befolgt werden. Das ist die Idee des Sports. Und deswegen gibt es aber per se im Sport immer den Regelverstoß.
Es wird also einen dopingfreien Sport von der Logik des Sports her gesehen, nicht geben können. Aber wir können glaubwürdig gegen diejenigen vorgehen, die gegen die Regeln verstoßen. Das ist die Idee, immer wieder das Fair-Play-Prinzip im Sport zu erhalten, es als bedeutsam für die Weiterentwicklung des Sports zu kultivieren.
Und Doping muss sich genau dieser Maxime unterwerfen. Wir müssen konsequent Doping bestrafen. Und wir müssen alles tun, dass Athleten bereit sind, den Weg zum fairen Sport zurückzugehen oder ihn, wenn sie ihn betreiben, zu erhalten. Hier sind wir gefordert. Aber der Dopingverstoß als solcher wird wahrscheinlich niemals aus der Welt zu schaffen sein.
Deutschlandradio Kultur: Herr Prof. Digel, wir bedanken uns ganz herzlich für das Gespräch.