Ewers: Jungen brauchen positive Leseerfahrungen

Moderation: Dieter Kassel |
Der Germanist Hans-Heino Ewers von der Universität Frankfurt hat eine andere Literaturauswahl an Schulen für Jungen gefordert. Jungen würden ihre Bedürfnisse eher in Fantasy- und Science-Fiction-Romanen erfüllt sehen, sagte Ewers im Deutschlandradio Kultur. Diese Genres seien bei den Vermittlern jedoch nicht sehr beliebt. Deshalb sei auch ein Umdenken bei der Lehrerausbildung erforderlich.
Lesen Sie im Folgenden Auszüge aus dem Gespräch:

Kassel: Heute ist der Internationale Tag des Kinder- und Jugendbuchs. Der ist jedes Jahr am 2. April, dem Geburtstag des dänischen Schriftstellers Hans-Christian Andersen. Und deshalb werden besonders heute wieder viele Erwachsene Urteile fällen über Bücher, die eigentlich nicht für sie geschrieben sind. Mit der Kritik von erwachsenen Literaturkritikern an Büchern für Jugendliche und Kinder hat sich der Germanist Hans-Heino Ewers intensiv beschäftigt. Er ist der Direktor des Instituts für Jugendbuchforschung an der Universität Frankfurt am Main. Guten Tag!

Ewers: Guten Tag!

Kassel: Was ist das Grundproblem: Werden auch Kinderbücher von Erwachsenen nach den gleichen Maßstäben beurteilt wie Bücher für Erwachsene?

Ewers: Neuerdings. Das Pendel schlägt von dem einen nach dem anderen Extrem. Hatte man Kinder- und Jugendbücher früher ausschließlich daran gemessen, was sie der Zielgruppe sagen, so sind wir im Augenblick auf der anderen Seite des Extrems, nämlich eine Kritik, die letztendlich verfolgt, was diese Kinderbücher Erwachsenen sagen. Man spricht davon, dass Kinder- und Jugendliteratur endlich Literatur geworden ist und hat ein Stück weit die Zielgruppe aus den Augen verloren. Ich bedaure das sehr und mein Vorschlag der Heilung ist: Beteiligen wir die Zielgruppe selber mehr an der Beurteilung von Kinder- und Jugendbüchern!

(…)

Kassel: Sie haben noch etwas anderes entdeckt, nämlich dass die oft gehörte Theorie, dass Jungen nicht so gerne lesen wie Mädchen, möglicherweise nicht so richtig stimmt, sondern dass das Problem eher darin liegt, dass wir nicht so richtig gemerkt haben, was die Jungen eigentliche gerne lesen.

Ewers: (…) Tatsächlich haben wir eine Literaturauswahl getroffen, jahrelang muss man sagen, die fast ausschließlich die Leseinteressen und auch die Lebensinteressen von Mädchen berücksichtigt. Es gibt eine wunderbare Untersuchung, die die kindlichen Helden in den Kinderromanen der 90er Jahre untersucht hat: Es kommen nur großartige Mädchen vor und nur schwache Jungen. Das ist ein Zeichen dafür, dass wir Kinder- und Jugendliteratur fast als Literatur für weibliche Leser definieren, vielfach sind die Bemühungen, umzusteuern. Man muss sagen, dass die Fantasy heute ein beliebtes Genre ist, in das sich auch männliche junge Leser einschalten. Andere Genres, die ich für ganz wichtig halte, wie Science Fiction, auch diese ganz neue Literatur über Computer Novels, diese Literatur bedarf der Förderung. Wir wissen aber, dass viele Leser, besonders auch weibliche Vermittler, diese Literatur nicht sehr schätzen.

Kassel: Sie haben gerade das Stichwort der weiblichen Vermittler genannt. Nun wurde die letzten Monate verstärkt diskutiert, dass es an den Grundschulen sehr viele Lehrerinnen gibt und wenig Lehrer. Ist das so ein bisschen das gleiche Problem, dass da die Vermittlung von Frauen übernommen wird?

Ewers: Das fängt eigentlich schon im Kindergarten an. (…) Jungen sind auch potentielle Leser. Wir müssen ihren Interessen entgegenkommen, selbst wenn die Leseinteressen dieser Jungen uns oft nicht so sehr in den Kram passen. Wir müssen sehen, dass sie frühzeitig eine positive Lese-Erfahrung benötigen und das können wir eben nur vermitteln, wenn wir den Bedürfnissen entgegenkommen. Es sind Fußballgeschichten, die interessieren in dem Jungenalter, es sind Science-Fiction-artige Technikgeschichten, es gibt eine Kriminalliteratur, in der das Internet stark vorkommt. Das alles sind nach meiner Beobachtung Elemente, die junge, männliche Leser sehr stark anziehen, auch wenn sie relativ äußerlich sind, manchmal nur aufgesetzt sind, aber als Leseanreiz darf man sie nicht verachten.

(…)

Kassel: Das Problem beginnt doch schon bei der Lehrerausbildung an den Universitäten. Wenn Sie in eine durchschnittliche Germanistengruppe gehen, dann finden Sie 100 Goethe-Experten, 50 Martin-Walser-Experten, vielleicht noch zweieinhalb Experten für anspruchsvolle Krimis, aber wie viel Experten für den Rest?

Ewers: Da kann ich Ihnen leider nur zustimmen. Was ich insbesondere bedaure, dass viele Lehrerausbilder an den Universitäten den Kontakt zur Realität in den Schulen verloren haben und so gar nicht erkennen können, wie bedeutsam der Einsatz einer faszinierenden und lockenden Lektüre ist, wie wichtig er auch ist um einen Zugang zu später anderer Literatur, zur Hochliteratur auch zur klassischen Literatur zu verschaffen.

Sie können das vollständige Gespräch mit Hans-Heino Ewers für begrenzte Zeit in unserem Audio-on-Demand-Angebot nachlesen.