Evolutionsbiologie

Besser leben als Steinzeitmensch

Der Kampf von Urmenschen gegen ein Mammut: Das Modell im Maßstab in Originalgröße ist in einem privaten Saurierpark in der ostsächsischen Gemeinde Kleinwelka zu sehen.
Der Kampf von Urmenschen gegen ein Mammut: Das Modell im Maßstab in Originalgröße ist in einem privaten Saurierpark in der ostsächsischen Gemeinde Kleinwelka zu sehen. © dpa / picture alliance / Matthias Hiekel
Von Susanne Billig · 24.06.2015
Unser Körper sei eigentlich für die Steinzeit gemacht, schreibt Evolutionsbiologe Daniel Liebermann in seinem Buch "Unser Körper". Viele körperliche Leiden beruhten auf Fehlanpassungen an die Moderne. So seien etwa Schuhe schlecht für den Rücken, und in zu engen Räumen werde man kurzsichtig.
Der moderne Mensch schläft zu wenig und isst zu viel, er ernährt sich zu einseitig, unterschätzt den gesundheitlichen Wert der Bewegung und erlaubt es chronischen emotionalen Belastungen, den Körper mit giftigen Dauerentzündungen zu überfluten. Zugegeben: Das ist bekannt. Doch was Daniel E. Liebermann aus seinem Thema - der Lage des menschlichen Steinzeitkörpers in der Bequemlichkeit gegenwärtiger Industriekulturen - macht, kann sich sehen lassen: Ein sprachlich eingängiges, prall mit neuester Wissenschaft gefülltes Monumentalwerk zur Anthropologie hat der Harvard-Professor geschrieben, das sein Publikum auf jeder Seite mit erstaunlichen Erkenntnissen überrascht.
Der erste Teil, "Von Affen und Menschen", folgt dem bewegten Weg unserer frühen Vorfahren hinunter von den Bäumen bis zum ersten Auftreten des modernen Homo sapiens. In zweiten Teil, "Landwirtschaft und Revolution", widmet der Autor sich den massiven Umbrüchen, die der neue agrarische Lebensstil für den menschlichen Körper mit sich brachte. Der dritte Teil, "Gegenwart und Zukunft", betrachtet die versteckten Gefahren jüngerer Innovationen - zum Beispiel der industriellen Lebensmittel und allzu leicht kaubarer Nahrung.
Menschen sind zu häufig in engen Räumen
Das Drama schmerzhaft in den Kiefer wachsender Weisheitszähne, das heute so gut wie alle Menschen im Westen ereilt, ist keineswegs ein eingebauter Konstruktionsfehler, erklärt der Autor. Knochen entwickeln sich nutzungsabhängig - wer als Kind nichts Hartes, Zähes, Faseriges mehr zu beißen bekommt, bildet kleinere Kiefer aus, mit allen negativen Folgen. Auch die grassierende kindliche Kurzsichtigkeit lässt sich wahrscheinlich darauf zurückführen, dass junge Menschen zu viel Zeit in engen Räumen verbringen und nicht mehr in die Ferne fokussieren.
Ein anderes spannendes Thema und eines der Forschungsgebiete des Autors: der menschliche Gang, namentlich die negativen Folgen von Schuhen. Eindrucksvolle Grafiken im Buch zeigen, wie viele Millionen heftigster Stöße unserer Rückgrat entgegennehmen muss, nur weil wir nicht mehr, wie Barfußgeher es automatisch tun, mit der Fußspitze zuerst aufsetzen, wenn wir uns schneller bewegen.
Rückenleiden, Kurzsichtigkeit, Diabetes, Arteriosklerose. Wer einmal sein Augenmerk darauf richtet, entdeckt Fehlanpassungskrankheiten überall - der menschliche Steinzeitkörper kommt einfach nicht klar mit der Moderne. Wie aber ließe sich zu einem Leben im Einklang mit den Wirkgesetzen der Evolution zurückfinden, ohne gleich zur Eugenik zu greifen, und Menschen von der Fortpflanzung ausschließt, die für Zivilisationskrankheiten besonders anfällig sind? Fern diktatorischer Anwandlungen plädiert der Autor für einen "sanften Paternalismus" - Aufklärung, hohe Steuern auf alles, was schädlich ist, und Erziehungseinrichtungen, die Kindern das an Ernährung und Bewegung zukommen lassen, was sie für ein gesundes Gedeihen brauchen.
Die kulturelle Evolution hat uns in eine brisante gesundheitliche Lage geführt, unterstreicht Daniel E. Liebermann. Sie sollte sich als fähig erweisen, den Weg aus der Sackgasse auch wieder heraus zu finden.

Daniel E. Lieberman: Unser Körper - Geschichte, Gegenwart, Zukunft
Aus dem Amerikanischen von Sebastian Vogel
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015
560 Seiten, 24,99 Euro

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