Evolutionsbiologe relativiert WWF-Studie

27.10.2006
Der Evolutionsbiologe an der Zoologischen Staatssammlung München, Josef Reichholf, hat den Umweltverband World Wide Fund for Nature (WWF) kritisiert. Dessen Aussage, wonach die Population wildlebender Tiere um ein Drittel zurückgehe, sei aus der WWF-Studie "Living Planet Report 2006" nicht zu schließen. Die Umweltstiftung sei darauf angewiesen gewesen, aus "kleinen Stücken von Bekanntem" hochzurechnen, sagte Reichholf.
Dieter Kassel: 30 Prozent der Wildtiere sind in den letzten 25 Jahren von unserer Erde verschwunden, sagt die Umweltstiftung WWF. Gleichzeitig wächst der Verbrauch natürlicher Ressourcen so stark, dass wir spätestens 2050 zwei Planeten brauchen werden, um unsere Bedürfnisse zu decken. Das sagt der WWF auch. Panikmache oder dringende Warnung? Darüber reden wir gleich mit dem Münchner Biologen Josef Reichholf, der seinerseits schon einmal gesagt hat, eine der größten Bedrohungen für die Natur sei der Naturschutz.

Die internationale Umweltstiftung WWF hat in dieser Woche in Frankfurt am Main ihren "Living Planet Report 2006" vorgestellt. Darin wird gewarnt: Noch nie hat der Mensch so viel Natur verbraucht wie jetzt; noch nie waren so viele Tierarten vom Aussterben bedroht. Bevor wir mit dem Münchner Evolutionsbiologen Josef Reichholf darüber reden, wie angemessen die Warnungen des WWF sind, sagt uns Susanne Nessler, was genau im "Living Planet Report" steht:

" Vom Sumatra-Tiger gibt es nur noch vereinzelte Exemplare. Auch der Kabeljau ist akut vom Aussterben bedroht. Der Eisbär und das Flusspferd stehen auf der Roten Liste - wie auch jede dritte Amphibienart und ein Viertel aller Säugetiere. Die Ergebnisse sind dramatisch. Der WWF hat in seiner Studie 1300 Wildtierarten untersucht und dabei festgestellt: Weltweit ist die Zahl der Wildtierarten auf dem Lande um 31 Prozent zurückgegangen, im Wasser um 28 Prozent. Gründe dafür sind die Umweltverschmutzung, das Abholzen von Wäldern für die Landwirtschaft und der Bau immer größerer Staudämme. Das ökologische Gleichgewicht der Erde kippt, weil der Mensch über seine Verhältnisse lebt, stellt der aktuelle Bericht des WWF fest. Den Eisbären schmilzt der Boden unter den Füßen weg. Sie verlieren große Teile ihres Jagdreviers und verhungern, weil sie keine Robben mehr fangen können. Ähnlich ergeht es den Tigern, Nashörnern und Gorillas in den Tropen, weil ihre Lebensräume seit Jahren in Palmöl- und Zellstoffplantagen verwandelt werden. Flussdelphine in diesem Gebiet scheitern an Staudämmen, die ihnen den Weg zur Paarung versperren. In Europa sind Lachse und Störe als Wanderfische Opfer derartiger Baumaßnahmen - ihre Bestände gehen zurzeit drastisch zurück. Der stetig steigende Ressourcenbedarf der Menschheit verdrängt die Natur. Schon heute beanspruchen wir ein Viertel mehr an Lebensraum als das ökologische Gleichgewicht unserer Erde verträgt. Wenn der Mensch so weitermacht, hat der World Wild Life Fund ausgerechnet, dann gibt es im Jahr 2050 wahrscheinlich kaum mehr Platz für frei lebende Tiere. Wir bräuchten, so der WWF, für Natur, Tier und Mensch dann zwei Planeten."

Susanne Nessler über den "Living Planet Report 2006" der Umweltstiftung WWF. Am Telefon begrüße ich jetzt den Evolutionsbiologen Professor Josef Reichholf. Er ist Buchautor und Wissenschaftler an der Zoologischen Staatssammlung München. Schönen guten Tag, Herr Reichholf.

Josef Reichholf: Guten Tag.

Kassel: Der WWF hat unter anderem die Bestandsdaten von etwa 1300 Wildtierarten analysiert und festgestellt, dass die Zahl der Wildtierarten in dieser Analyse von 1970 bis 2003 um 30 Prozent gesunken ist. Daraufhin war in einigen Zeitungsmeldungen zu lesen: 30 Prozent aller Tiere sind vom Aussterben bedroht. Kann man so etwas wirklich schließen aus dieser Untersuchung?

Reichholf: Nein, ganz und gar nicht. Denn es sind ja konkrete Arten analysiert worden, von denen man wusste, dass sie einem mehr oder minder großen Risiko ausgesetzt sind, gefährdet zu werden oder tatsächlich auszusterben. Das ist ein winzig kleiner Ausschnitt aus der Gesamtzahl von Tier- und Pflanzenarten, die wir nämlich gar nicht kennen. Die Schätzungen gehen ja von fünf bis sechs Millionen verschiedener Arten bis über 50 Millionen hinaus. Daraus ergibt sich das hohe Ausmaß unseres Unwissens, was den Gesamtbestand an Arten anbelangt.

Kassel: Das würde aber auch bedeuten, dass es denkbar ist, dass auch zu Zeiten, zu denen wir schon gelebt und geforscht haben, Tiere ausgestorben sind und wir haben es gar nicht gemerkt?

Reichholf: Ganz sicher ist es so gewesen. Da kann überhaupt kein Zweifel sein. Und das ist ja auch ein zentraler Punkt, der seit vielen Jahren beklagt wird: Wir stecken gigantische Summen in alle möglichen Projekte, deren Nutzen für die Menschheit zumindest in Zweifel gezogen werden kann. Aber die Bestandserfassung des Lebendigen, was uns also tatsächlich an Tier- und Pflanzenarten auf diesem Globus umgibt, dafür wird hoffnungslos zu wenig Geld ausgegeben.

Kassel: Bedeutet das, dass man schlicht nicht sagen kann, wie viele Tiere wirklich durch menschliches Verhalten direkt oder indirekt bedroht sind?

Reichholf: Ganz genau. Wir sind darauf angewiesen, aus kleinen Bruchstücken von Bekanntem hochzurechnen. Und was Hochrechnungen für Unsicherheitsgrade beinhalten, das ist ja den meisten klar. Deswegen weichen auch die verschiedenen Schätzungen so weit auseinander. Ob jetzt pro Tag eine Handvoll Arten aussterben oder Hunderte oder gar keine, weil vielleicht der Jahresverlust nur bei einem paar Dutzend liegt, das wissen wir schlicht und einfach nicht.

Kassel: Nun sagt diese Studie des WWF - und an dem Punkt ist es nichts Neues, aber das macht sie ja nicht weniger beunruhigend -, diese Studie sagt, wenn man bedenkt, dass in absehbarer Zeit 1,3 Milliarden Chinesen und über eine Milliarde Inder ungefähr einen so hohen Pro-Kopf-Energieverbrauch haben werden wie jetzt die Menschen in Mittel- und Westeuropa, dann bedeutet das zwangsläufig, dass auch mehr Tiere aussterben. Kann man das zumindest so sehen?

Reichholf: Nein, ganz sicher nicht. Denn erstens wird das mit absoluter Sicherheit nicht so weit kommen, weil der Hauptteil der Energie, die wir ausgeben, mehr als 50 Prozent, ja auf Heizenergie entfällt. Die Inder brauchen nicht heizen. Das heißt, ein ganz wesentlicher Teil unserer Energieausgaben fällt in den warmen Regionen der Erde weg. Und dazu gehören große Teile Chinas - auch wenn es sehr kalte Regionen gibt - und nahezu ganz Indien. Deswegen kann man von solchen Einfachvergleichen wirklich nicht ausgehen. Das, was beunruhigt und wo wir auch wirklich sehr aufpassen müssen, das ist die Art und Weise, wie die Energie genutzt wird. Wenn China weiterhin so wächst, wie die Wirtschaft bisher gewachsen ist in den letzten zehn Jahren, dann wird China zum größten Emittenten von Kohlendioxid werden. Und unsere ganzen Bemühungen, das Klima zu stabilisieren, sind nichts weiter wie Makulatur. Das sind nutzlose Anstrengungen, wenn es nicht gelingt, China vom selben Weg, den der Westen vor 100 Jahren genommen hatte, wegzubringen.

Kassel: Wie eindeutig sind denn da die Zusammenhänge? Wenn die Rede ist von bedrohten Tierarten, dann gibt es natürlich ein paar spektakuläre Beispiele, die kommen immer, weil das Tiere sind, die man kennt, zumindest aus dem Fernsehen - das Nashorn wird gerne genannt, der Sumatra-Tiger ist so ein Beispiel, da gibt es nur noch einige wenige Exemplare, einige Affenarten. Wie direkt ist denn der Zusammenhang zwischen dem Verhalten zum Beispiel in Europa und dem Aussterben eines Tiers in Sumatra?

Reichholf: Nun, das ist genau ein wichtiger Punkt, den Sie da ansprechen. Solche spektakulären Tierarten werden nicht aussterben. Diese Prognose wage ich - oder nur in äußerst ungünstigen Umständen -, weil sie so bekannt sind, dass man in aller Welt Hilfe bekommen wird, um sie zu erhalten und sei es auch auf Zeit, etwa über Zoohaltung, wie das ja bei einigen Arten geschehen ist. Die weitaus größere Gefahr ist dort gegeben, wo sich Tiere nicht in Zoos halten lassen, in Beständen, die sich selbständig fortpflanzen können, sondern großflächigen Lebensraum benötigen. Da wird die Erhaltungszucht in Zoos natürlich, ja, so etwas wie eine lebende Fossilhaltung, aber keine Option für die Zukunft sein. Bei der großen Mehrzahl der wirklich gefährdeten Arten handelt es sich aber um die weniger spektakulären Arten. Und die werden uns wegsterben in dem Maße, in dem die kleinen Inseln, auf denen sie vorkommen, europäisiert und wirtschaftlich intensiv genutzt werden. Da laufen all die Prozesse ab, die wir hier in unserem eigenen Land auch kennen, dass die Natur auf einen Bruchteil eines Prozents, wenn wir nämlich ehrlich und genau sind, an den Rand gedrängt wird. Und hätten wir nicht - so absurd das klingt - die großen Truppenübungsplätze und das Geschenk der Wiedervereinigung aus einer Zeit, die politisch gesehen sicher keine gute war, aus der DDR bekommen, dann stünde es in Deutschland wirklich ganz miserabel mit unserer Artenvielfalt.

Kassel: Wie groß sind denn überhaupt die Unterschiede, was den Artenschutz und die Bedrohung angeht, zwischen zum Beispiel der so genannten Dritten Welt, den Schwellenländern und Europa? Bei Europa fällt mir immer der Kabeljau ein, der nun aus völlig anderen Gründen auch vom Aussterben bedroht ist. Kann man sagen, wenn in Europa so was bekannt wird, sind die Maßnahmen sofort härter, konsequenter und sinnvoller als zum Beispiel in Indonesien, in Afrika oder sonst wo?

Reichholf: Ja und nein. Es gibt da auch große Unterschiede. Das zeigte sich ja, mit welcher Selbstverständlichkeit und wie schnell der Bär, der nach Bayern eingewandert war, abgeschossen wurde, obwohl Nachbarländer, die zweifellos nicht zu den weniger zivilisierten gehören, seit Jahren Bären haben in ihren Gebieten und wissen, wie man damit umzugehen hat. Es ist also auch innerhalb Europas und selbst innerhalb Deutschlands noch sehr, sehr viel Aufklärungs- und Bildungsarbeit zu leisten, was man in Ostdeutschland selbstverständlich hinnimmt: Dass auch mal Wölfe in der Mark Brandenburg herumstreifen, das würde in Bayern eine Hundertschaft der Polizei mobilisieren, um diese Untiere sofort auszurotten. Dass Seeadler im Osten in einen geradezu phänomenalen Maße überleben konnten und zum Kernstück eines der am dichtest besiedelten Seeadlerbrutgebiete der Welt werden konnten, während im Westen gerade jetzt erst so ganz allmählich, zögerlich Anfänge zu verzeichnen sind, dass Seeadler auch hier brüten, das zeigt den Unterschied in der Einstellung der Menschen. Im Osten hat man hingenommen, akzeptiert und sich vielleicht auch darüber gefreut, dass man solche Tiere hat. Im Westen waren die von vornherein Fischereischädlinge oder Jagdschädlinge oder sonstige Schädlinge und wurden bekämpft.

Kassel: Eine Frage zum Schluss an Sie, wo Sie sich gerne aussuchen können, ob Sie die lieber philosophisch oder doch streng naturwissenschaftlich beantworten wollen. Es ist ja nun, selbst zu einer Zeit, als es noch gar keine Menschen gab auf diesem Planeten, schon passiert, dass Tierarten ausgestorben sind. Man denkt immer an die Dinosaurier. Was auch immer man behaupten kann, man kann, glaube ich, ganz sicher feststellen: Daran war damals nicht der Mensch schuld. Das grundsätzliche Phänomen des Aussterbens von Tierarten, ist das schon ganz prinzipiell etwas Schreckliches und zu Vermeidendes?

Reichholf: Nein, nicht wirklich. Und da treffen sich Philosophie wie auch die naturwissenschaftlichen Befunde zweifellos auf derselben Ebene. Der wesentliche Unterschied ist: Das sind Vorgänge, die nicht vermeidbar gewesen sind. Während beim Aussterben, das heute vom Menschen ausgelöst wird, es sich um Vorgänge, um Eingriffe handelt, die vermeidbar wären oder die abgemildert werden könnten in ihrer Wirksamkeit. Und darum geht es. Das ist auch das Kernanliegen des Naturschutzes: Ein besseres Miteinander zwischen freilebenden Tier- und Pflanzenarten einerseits und dem Menschen und seinen Notwendigkeiten und Bedürfnissen andererseits zu erzielen.

Kassel: Der Evolutionsbiologe Josef Reichholf im Gespräch im Deutschlandradio Kultur.