Evolutionsbiologe Glaubrecht lobt Darwins "brillante Idee"

Matthias Glaubrecht im Gespräch mit Ulrike Timm · 28.01.2009
Am 1. Juli 1858 wurde in London erstmals Darwins Theorie der Evolution durch natürliche Auslese präsentiert. Biograf Glaubrecht machte deutlich, dass Darwin nicht als Einziger mit dem Evolutionsgedanken die Welt erklärte.
Ulrike Timm: Es gibt Tage, die die Welt verändern, und die Welt, die merkt das gar nicht. Am 1. Juli 1858, lange vor seinem Buch über die Entstehung der Arten, wurde in London erstmals Darwins Theorie der Evolution durch natürliche Auslese präsentiert – eine Theorie, die die Naturwissenschaft und das Selbstverständnis des Menschen von Grund auf verändern sollte. Bloß Darwin war nicht der Einzige, der auf die Idee kam. Daran knüpft sich ein regelrechter Wissenschaftskrimi, und über diesen denkwürdigen Tag und seine Folgen spreche ich jetzt mit dem Evolutionsbiologen Matthias Glaubrecht vom Naturkundemuseum in Berlin, der zudem gerade eine Darwin-Biografie veröffentlicht hat. Schönen guten Tag!

Matthias Glaubrecht: Schönen guten Tag!

Timm: Eine Zeitenwende, dieser 1. Juli 1858, aber Darwin war nicht der Einzige, der mit dem Evolutionsgedanken die Welt erklärte. Wer war die Konkurrenz?

Glaubrecht: Das war Alfred Russell Wallace, der war zu dem Zeitpunkt schon einige Jahre im Malaiischen Archipel unterwegs, er war Naturforscher, lebte auch vom Sammeln solcher naturkundlichen Objekte, also von Schmetterlingen bis hin zu den Fellen eines Orang-Utans. Und er kam auf der Grundlage der Beobachtungen, die er gemacht hat, auf eine brillante Idee, die allerdings der Charles Darwin schon Jahrzehnte vor ihm gehabt hat.

Timm: Aber dann haben sie beide veröffentlicht am selben Tag?

Glaubrecht: Ja, er hat dieses Manuskript, in dem er diese Theorie beschrieben hat, an den Charles Darwin geschickt, weil er wusste, dass sich Darwin mit diesen Fragen ebenfalls beschäftigt. Und da Wallace diese Idee zwar hatte, aber nicht ganz sicher war, ob sie etwas taugt, hat er sie – das machen wir heute auch – einem Kollegen sozusagen vorgelegt. Und da der gerade an der Ausarbeitung seines eigenen Buches zur Evolutionstheorie arbeitete, war er natürlich geschockt, dass sein Mitstreiter, den er dann natürlich als Konkurrenz verstehen musste, auf dieselbe Idee gekommen ist.

Timm: Aber so weit, dass wir in diesem Darwin-Jahr den Falschen feiern, gehen Sie nicht?

Glaubrecht: Auf keinen Fall, das hat auch der Alfred Russell Wallace neidlos immer anerkannt, es ist Darwin, der durch dieses wunderbare Fundament, die vielen Fakten, die er zusammengetragen hat, für uns eigentlich diese Theorie erst verständlich entwickelt hat. Wallace hat selber gesagt, wenn sein Bericht alleine veröffentlicht worden wäre, hätte vermutlich niemand erkannt, was in dieser Theorie drinsteckt. Und so ist es ja auch dem ersten Vortrag gegangen. Als das vorgetragen wurde, hat eigentlich niemand sofort begriffen, worum es da geht.

Timm: Die Dimension hat man überhaupt nicht erkannt, Darwin lieferte ja das Fundament einer Naturforschung, die von religiösen Überzeugungen frei ist. Im Grunde ist das Sprengstoff gewesen 1858. Hat das denn irgendjemand zumindest ein bisschen kapiert?

Glaubrecht: Also ich glaube, dass das sehr viele Leute gesehen haben. Die Zeit war auch reif, und Darwin war nicht der Erste, der so einen, wenn man das so möchte, Angriff gestartet hat, sondern es war einfach die Zeit einer naturwissenschaftlichen Erklärung. Es war natürlich eine Auseinandersetzung in den herrschenden gesellschaftlichen Schichten des viktorianischen Englands, sich mit diesem Gedanken anzufreunden und auch ein bisschen was von dem Alleinerklärungs- und Vertretungsanspruch der Kirchen zurückzunehmen.

Timm: Aber dieser Vortrag, bei dem diese Idee öffentlich geboren wurde, der fand vor einer Handvoll Leuten statt?

Glaubrecht: Ja, das war damals üblich, dass man an einem Abendvortrag an Naturforschung Interessierten diese neuen Theorien vorstellte. Und an diesem Abend, es war warm, das waren 30 Leute, die haben – das ist zumindest nicht aktenkundig belegt – wahrscheinlich schon verstanden, worum es ging, aber keiner hat großartig protestiert. Vielleicht war der Gedanke für sie dann doch zu neu, um da wirklich zu verstehen, dass das richtig mal eine Zeitenwende, eine Weltenwende bedeuten würde.

Timm: Darwins Theorie, dass sich die Natur durch Zufall und Ausleseprozesse veränderte, revolutionierte ein Weltbild. Wir sprechen darüber hier in loser Folge im "Radiofeuilleton" von Deutschlandradio Kultur in diesem Darwin-Jahr heute mit dem Evolutionsbiologen Matthias Glaubrecht. Herr Glaubrecht, heute können wir der Natur ja ganz anders ins Handwerk pfuschen, als Darwin das konnte. Dem Zufall helfen wir ab mit gezielten Züchtungen, und nach Fruchtwasseruntersuchungen kommen zunehmend nur noch gesunde Babys auf die Welt. Wir selektieren, auch wenn wir es nicht so nennen. Und was die Gentechnik angeht, könnte in seinen kühnsten Träumen mancher Forscher die Spezies Mensch perfektionieren. Haben wir nicht längst angefangen, die Evolution selbst zu dirigieren als Menschen?

Glaubrecht: Also ich würde davor warnen, dass es so einfach ist. Ich glaube, wir versuchen, da in ein Spiel einzugreifen, dessen Regeln wir allenfalls in den Anfängen verstehen. Wir haben die Evolution keineswegs ausgehebelt. Wir sind und alle anderen Tiere um uns herum sind von genetischen Mutationen abhängig, das ist der Stoff, aus dem die Evolution ist. Selektionen, also nachher eine Auswahl, eine Züchtung zu machen, ist etwas, was Darwin schon bei den Züchtern im viktorianischen England beobachtet hat, was die Natur auch macht. Und er hat über diese Analogie ja auch erst diesen Mechanismus der natürlichen Selektion, also der Auslese durch die Umwelt, festgelegt. Wir machen heute eigentlich nichts anderes, aber wir brauchen dazu das genetische Spielmaterial. Und es sind sehr komplizierte, also auf der molekularen, auf der genetischen Ebene sehr komplizierte Vorgänge, und man darf sich das nicht so einfach vorstellen, dass man da tatsächlich einen anderen und neuen Menschen züchten kann. Ich würde davor warnen, dass wir Darwin da so missverstehen, dass das heute so einfach wäre einzugreifen.

Timm: Sie haben diesen entscheidenden Tag, an dem die Theorie vorgestellt wurde, als eine Zeitenwende bezeichnet. Das heißt, das, was wir heute machen in großem Umfang, global vernetzt mit allen Wissenschaftlern dieser Welt, reicht für eine zweite Zeitenwende dann doch nicht?

Glaubrecht: Also ich glaube, dass wir heute zwar ganz zu Recht Darwins Geburtstag und auch das 150-jährige Jubiläum seines bedeutenden Buches feiern, aber wir haben keine Zeitenwende in dem Sinne. Die Ideen, die wir haben, die neuen Möglichkeiten, die wir haben, die verlassen nicht etwas, was wir bisher seit Darwin wussten. Anlässlich seines Jubiläums jetzt anzunehmen, wir würden hier in eine völlig neue Epoche starten, halte ich für sehr übertrieben.

Timm: Woran können wir Menschen eigentlich tagtäglich noch merken, dass wir mitten im Evolutionsprozess drinstecken?

Glaubrecht: Also ich glaube, das merken wir jedes Mal, wenn wir einen Bandscheibenvorfall haben, wenn uns der Rücken schmerzt. Jede Frau wird es bei der Geburt der Kinder merken, dass wir da evolutionären Zwängen unterworfen sind. Wir merken das bei jeder Grippe, die wir bekommen, wenn wir eine Woche brauchen, bis unser Immunsystem dagegen vorgehen kann. Das heißt, wir sind natürlich genauso wie alle anderen Organismen auf dieser Erde von dieser Umwelt, in der wir leben, abhängig, auch wenn wir denken, dass wir uns weitestgehend davon losgelöst haben, wenn wir an die Großstädte und unsere Kultur denken. Da sind sicherlich Faktoren ganz einmalig, und das macht den Menschen auch zu einem ganz einmaligen Wesen, gar kein Zweifel. Aber wir dürfen deswegen nicht glauben, dass diese von Darwin entdeckten Mechanismen, die wir inzwischen auch untersuchen, für uns keine Rolle spielen.

Timm: Zugespitzt, bei aller Kunst der Gentechnik, jeder Bandscheibenvorfall sollte den Menschen ein wenig demütig machen?

Glaubrecht: Das macht es in dem Augenblick auch ganz sicher, ja.

Timm: Herr Glaubrecht, Darwins Grundthese, es überlebt, wer sich am besten anpasst, die ist ja auch dem Laien relativ leicht verständlich. Niemand würde sagen, Einsteins Relativitätstheorie verstehe ich sofort, aber bei Darwin kommt man zumindest eine ganze Strecke mit als Laie. Hat ihm das imagemäßig geschadet? Darwinismus ist heute ein Schimpfwort.

Glaubrecht: Ja, das ist sehr problematisch. Ich glaube, das ist ähnlich wie bei Politik und Fußball, wir meinen, alle mitreden zu können. Bei der Einstein’schen Theorie ist das ja viel komplizierter. Darwins Theorie ist ebenfalls in den Details natürlich nicht ganz ohne Komplexität, aber er wurde auf eine sehr simple Formel reduziert, teilweise von anderen, aber Darwin hat weder gesagt, dass wir vom Affen abstammen, noch dass das Recht des Stärkeren gilt, sondern das ist etwas schwieriger. Das sind Phrasen, die ihm auch untergeschoben worden sind. Und ich würde davor warnen, vom Darwinismus zu reden. Ein Ismus ist immer ein Dogma, eine Lehre. Wir haben es bei Darwins Evolutionstheorie tatsächlich mit einer wissenschaftlichen Theorie zu tun, die versuchen wir zu überprüfen, wir versuchen auch, sie zu widerlegen. Das Gute an der Darwin’schen Evolutionstheorie bisher ist, dass es niemandem gelungen ist, sie tatsächlich zu widerlegen. Also sie hat einen hohen Erklärungsgehalt, und niemand hat es bisher geschafft, eine bessere vorzulegen. Und solange müssen wir, ob wir wollen oder nicht, damit leben. Aber noch mal, ich würde davor warnen, es simpel als Darwinismus zu bezeichnen.

Timm: Also schützen wir Darwin vor dem Darwinismus. Matthias Glaubrecht, am Ende eines solchen Gesprächs darf man vielleicht mal auch ein bisschen gezielt spinnen. Sie haben Darwin eine ganze Biografie gewidmet, sie haben ihn dadurch auch gut kennengelernt in all seinen Facetten. Was würde denn Darwin vielleicht sagen zu unseren Versuchen, die Natur zu formen, zur Gentechnik, zum Klonen? Wenn Sie ihn transformieren könnten, was, glauben Sie, würde da kommen?

Glaubrecht: Also wenn er uns heute über die Schulter gucken könnte und sehen könnte, was Wissenschaftler heute wissen, ich glaube, der wäre fasziniert. Er war ein ungeheuer Neugieriger, an vielen Dingen Interessierter. Und ich glaube, die genetischen Grundlagen, das, was wir heute über das Innerste der Organismen verstehen lernen, ich glaube, das hätte ihn ungeheuer fasziniert und er wäre begeistert gewesen, was wir alles wissen. Aber er war auch ein sehr vorsichtiger Mensch, und ich glaube, er wäre sehr zurückhaltend gewesen, hier diese Ideen zu missbrauchen für irgendeine gezielte Züchtung hin auf einen am besten Angepassten. Ihm war, wie allen Evolutionsbiologen, völlig klar, dass es den am besten Angepassten nicht gibt, das ist immer ein vager Zustand, das kann nicht ein Dauerzustand sein, sondern das ändert sich je nach den Erfordernissen der Umwelt. Insofern sollten wir auch nicht in dieses Spiel eingreifen.

Timm: Der Evolutionsbiologe Matthias Glaubrecht im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur, dem "Radiofeuilleton", über Darwin. Anlässlich des Darwin-Jahres haben wir eine ganze Reihe von Gesprächen zu verschiedenen Aspekten. Diesmal ging es um verschiedene Zeitenwenden. Matthias Glaubrecht hat auch ein Buch geschrieben: "Es ist, als ob man einen Mord gesteht", ein biografisches Porträt des Charles Darwin, erschienen bei Herder, kann ich sehr empfehlen. Vielen Dank fürs Gespräch!

Glaubrecht: Danke ebenfalls!