Evolution

Wie der Mensch wurde, was er ist

Ein Mensch und ein Orang-Utan Hand in Hand
Der Verhaltensforscher Michael Tomasello analysiert das Denken von Affen und Menschen. © dpa / picture alliance / MCT_/Landov / Tom Knudson
Von Wolfgang Schneider |
Was unterscheidet Mensch und Tier? In seinem Buch "Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens" gibt der Anthropologe Michael Tomasello eine klare Antwort: Kooperation! Alles fing damit an, dass sie sich gemeinsam auf dieselben Ziele konzentrierten.
Was unterscheidet den Menschen von den Tieren? Das Denken und die Sprache, so eine alte Antwort. Offenbar kannten Aristoteles und die nachfolgenden abendländischen Klassiker der Philosophie keine Menschenaffen. Denn im Angesicht des Schimpansen zerfällt die Behauptung, dass Tiere nicht denken. Zudem kommt eine andere These in Bedrängnis, die einige Sprachwissenschaftler und Philosophen bis heute entschieden vertreten: dass Denken an die Sprache gebunden sei, ausschließlich im Medium der Sprache stattfinde.
Die Intelligenz der Affen
Zunächst geht es um das Denken der Affen, das der Direktor des Leipziger Max-Planck-Instituts für Primatenforschung mit vielen Experimenten belegt. Die Tiere können begriffliche Inhalte schematisieren und Zeichen miteinander kombinieren. Sie können rationale Schlussfolgerungen ziehen, kausale Strukturen erkennen und Werkzeuge herstellen. Und sie sind nicht nur selbst "intentionale Akteure", sie verstehen auch die Zielsetzungen und Absichten, die andere verfolgen. All diese Fähigkeiten setzen sie jedoch nicht ein, um gemeinsame Ziele zu verfolgen, sondern um möglichst effektiv miteinander zu konkurrieren – und sich gegebenenfalls gegenseitig auszutricksen. Von wirklicher Arbeits- und Rollenteilung kann noch keine Rede sein.
Selbstbeobachtung und Einfühlung
Das kam erst mit den Frühmenschen. Tomasello führt aus, wie es gewesen sein könnte, vor etwas vierhunderttausend Jahren, als Menschen durch ökologische Umstände gezwungen waren, miteinander zu kooperieren, um ihre Überlebenschancen zu vergrößern. "Geteilte Intentionalität" lautet sein Schlüsselbegriff. Die Menschen verfolgten gemeinsame Ziele, sie entwickelten eine gemeinsame Aufmerksamkeit. Mit Zeichen und kommunikativen Pantomimen fand die vorsprachliche Abstimmung des Verhaltens statt.
Die Reflexionsfähigkeit wächst mit der Selbstbeobachtung, die mit der menschlichen Kooperation einhergeht. Denn um sicherzustellen, dass die eigene Aussage verstanden wird und die erwünschte Reaktion hervorruft, versetzt sich der Sprechende an die Stelle des Empfängers und prüft, wie er selbst seinen Kommunikationsakt wahrnehmen würde. "Mein Überleben hängt davon ab, wie du mich bewertest" – neben der Sorge um das Selbstbild ist auch der Wille zu Aufrichtigkeit und zur logischen Begründung eine Begleiterscheinung der Kooperation.
Anregende Lektüre
Später erweitert sich das "Du" zum "Wir" der Gruppe, deren Normen internalisiert werden. Die komplexen Vorgänge dieser inneren Vergemeinschaftung des einzelnen Menschen in Form des normativen Denkens erläutert Tomasello in der zweiten Hälfte des Buches. Denken, Sprache, Kulturpraktiken, Institutionen – das ist die Abfolge.
Soziobiologie, Primatenforschung, Frühgeschichte, Sozialwissenschaften, Psychologie und Philosophie – es sind viele Disziplinen und Wissensbereiche, die Tomasello einbringt. Schade nur, dass der Stil dieses gedankenreichen und anregenden Buches eher spröde und terminologisch überfrachtet ist.

Michael Tomasello: Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens
Aus dem Amerikanischen von Jürgen Schröder
Suhrkamp, Berlin 2014
253 Seiten, 32,00 Euro

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