ICH – neue Formen des Selbstporträts

Der Phallus ist eine Gurke

Auf weißen Sockeln stehen am 09.03.2016 in Frankfurt am Main (Hessen) die Gurken des Kunstwerks "Selbstporträt als Essiggurkerl" von Erwin Wurm. Die Schirn Kunsthalle zeigt in der Themenausstellung "ICH" Künstler auf ihrer Suche nach einer zeitgemäßen Form des Selbstportraits.
Auf weißen Sockeln stehen die Gurken des Kunstwerks "Selbstporträt als Essiggurkerl" von Erwin Wurm als Teil der Themenausstellung "ICH". © picture alliance / dpa / Alexander Heinl
Von Rudolf Schmitz · 09.03.2016
Nein, es geht nicht um Selfies: Die Schirn Kunsthalle Frankfurt zeigt unter dem Titel "ICH" Formen des zeitgenössischen Selbstporträts, wie es die Künstler verstehen: Ironisch, spielerisch, konstruktiv, nihilistisch und quer durch alle Gattungen.
Wenn der musizierende Performer John Bock auftritt, ist er in seinen Ganzkörperkostümen ohnehin kaum zu erkennen: Das ist mehr Mummenschanz als Selbstporträt, aber trotzdem eine einzige Ego-Show. Die Selbstauslöserfotos der jungen Koreanerin Jun Ahn dagegen wirken wie Selbstmordfantasien: Sie sitzt an der Dachkante eines Wolkenkratzers und lässt die Beine über dem Abgrund baumeln. Auch der Fotograf Wolfgang Tillmans zeigt nur Teile seines Körpers: eine schwarze Badehose, darunter die Beine, dann eine Sandfläche. Verzerrt und abstrakt. Der Maler und Objektkünstler Imi Knoebel stellt lediglich Holzabfälle und gefundene Objekte zusammen und nennt diese Materialsammlung "Selbstporträt mit Pappkarton". Und dann stehe ich mit der Kuratorin Martina Weinhart vor einer Kunstrasenlandschaft mit integriertem Bildschirm.
Martina Weinhart: "Diese Arbeit von Florian Meisenberg ist die radikalste und zeitgenössischste dieser Ausstellung. Zentrum der Installation ist ein riesiger Screen, auf den während der ganzen Laufzeit der Ausstellung ein Livestream auf das Handy von Florian Meisenberg geschaltet ist. Also eine radikale Sichtbarmachung seiner privaten wie geschäftlichen Kommunikation, das ist das Selbstporträt von heute…."
Sage mir, mit wem Du chattest, und ich sage Dir, wer Du bist. Die fotografische Selbstdarstellung ist in den heutigen sozialen Medien zur Manie geworden. Die Ausstellung steuert gegen, die hier gezeigten Künstler verweigern das Selbstporträt. Sie zeigen, dass das "Ich" ein ständiger Konstruktionsvorgang ist. Der Zweifel an der Aussagekraft herkömmlicher Selbstporträts kennzeichnet schon die Fluxus-Bewegung. Da gibt es zum Beispiel die Schreibmaschine von Nam Jane Paik, die so manipuliert ist, dass sie immer nur eine einzige Buchstabenfolge schreibt: Paik.
"Und grade in den 60er-Jahren wurde ganz klar gemacht, hier gibt es keinen Platz mehr für Malerfürsten in Öl. Das heißt es wurden ganz andere Techniken ausprobiert, ganz andere Strategien, Verfahren. Ich denke da an Robert Morris der ganz radikal sein Selbstporträt 'Brain Portrait' nennt und ein Elektroenzephalogramm zeigt."

Wollfäden und krumme Gurken

Kommt Robert Morris dem Ich tatsächlich auf die Spur, wenn er die elektrischen Aktivitäten seines Gehirns messen lässt? Viele Werke in dieser Ausstellung sind ironisch, arbeiten mit Augenzwinkern. Einige nehmen auf traditionelle Formen der Selbstdarstellung Bezug. Aber nur, um sie ad absurdum zu führen. Rosemarie Trockel zeichnet Selbstporträts, indem sie ihre Kopfform hinter dem verschwinden lässt, was ihr Markenzeichen ist: Fäden, Schlaufen und Maschen aus Wolle. Und Erwin Wurm zeigt eine Installation von Sockeln und darauf: verschieden große, unterschiedlich gekrümmte Gurken.
"Man könnte es etwas phalluszentriert empfinden? - Erwin Wurm zeigt uns hier sein Selbstporträt als Essiggurkerl in 36 phallischen Varianten. Was ich daran mag, ist eben dieser absolut spielerischere Umgang, der fast karnevaleske Unernst, mit dem er sich diesem sonst doch so ernsten Thema nähert."
Ryan Gander behauptet, er habe ein Jahr lang jeden Tag ein Selbstporträt gemalt, aber präsentiert als Beweis nur 31 benutzte Paletten. Alicja Kwade mag es fundamental und wissenschaftlich: Ihr Selbstporträt sind 22 Glasphiolen mit den chemischen Elementen, aus denen der menschliche Körper besteht. Und Abraham Cruzvillegas zeigt lauter Relikte des täglichen Lebens: Rechnungen, Zuckertütchen, Taxiquittungen, Postkarten, die er mit hellgrüner Farbe übermalt und in eine Kachelwand verwandelt hat.
Die Schirn Kunsthalle Frankfurt präsentiert eine Menge inspirierender Vorschläge zum Thema "Ich" und "Selbstporträt": ironisch, spielerisch, konstruktiv, zerstörerisch, lustig, todernst. Schräge, ungewöhnliche Arbeiten. Wie ein beiläufiger Lehrgang in Sachen Philosophie...
"Aber was denken Sie ist der Erkenntniswert dieser Ausstellung, was kapiert man hier über Identitätsbildung und Ichfindung? - Es ist sehr einfach 'Ich' zu sagen, und es ist ein so komplexes, kompliziertes Gewebe. Darüber nachzudenken möchte die Ausstellung vorschlagen. Weil das natürlich ein äußerst schwieriges Verfahren ist, sich selbst zu erkennen. Das ist für viele oder vielleicht für die meisten von uns eine Lebensaufgabe.- Das war jetzt noch das Wort zum Sonntag…"
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