Evangelische Mystik

Glaube, der das Herz berührt

Auch im evangelischen Glauben spielt Mystik eine Rolle.
Auch im evangelischen Glauben spielt Mystik eine Rolle. © dpa / picture alliance / Arno Burgi
Peter Zimmerling im Gespräch mit Kirsten Dietrich · 01.11.2015
Was ist eigentlich Mystik? Bei einer mystischen Erfahrung sei das Herz mitberührt, meint der Theologe Peter Zimmerling von der Universität Leipzig. Zimmerling hat ein Buch über "Evangelische Mystik" geschrieben.
Kirsten Dietrich: Mystische Formen des Glaubens haben zurzeit Konjunktur – sogar im Protestantismus, der sich ja eigentlich die nüchterne und genaue Auseinandersetzung mit dem Wort Gottes auf die Fahnen geschrieben hatte, wir hörten zu Beginn unserer Sendung davon. Warum diese Rückbesinnung aufs Innerliche? Und was ist das eigentlich: Mystik? Darüber habe ich vor der Sendung mit Peter Zimmerling gesprochen. Zimmerling ist Professor für Praktische Theologie an der Universität in Leipzig, er ist schon lange dem Leben in kommunitären Glaubensgemeinschaften verbunden, und er hat ein Buch über "Evangelische Mystik" geschrieben. Ich wollte von Peter Zimmerling wissen, was eigentlich eine Glaubenserfahrung zu einer mystischen Erfahrung macht.
Peter Zimmerling: Zunächst würde ich schon sagen, dass die Intensität dieser Erfahrung ein Merkmal einer mystischen Glaubenserfahrung ist. Soweit ich das jetzt aus dem Studium der Mystikerinnen und Mystiker weiß, sind sie durch diese besonderen Erfahrungen, die sie gemacht haben, alle in ihrem Leben auch verändert worden. Das hat eine gewisse Kehre in ihrem Leben bedeutet. Und was auch auffällig ist, sie sagen zwar alle, dass sie darüber nur schwer sprechen können, weil was ihnen da widerfahren ist, das lässt sich nicht gut in Worte fassen, aber gleichzeitig sprechen alle darüber, weil offensichtlich dieser Eindruck, den sie da hatten, also ich sage mal, von etwas, was unseren Alltag übersteigt, dass dieser Eindruck so stark war, dass sie darüber reden mussten.
Dietrich: Glaube, der einen nicht kalt lässt.
Zimmerling: Ja, das wäre vielleicht schon der zweite Punkt einer mystischen Glaubenserfahrung, dass eine solche Erfahrung die Emotionen stark betrifft. Es ist ein bisschen was anderes als der gedachte Glaube, für den ja ein kühler Kopf notwendig ist, und bei einer mystischen Erfahrung ist schon das Herz mitberührt, denke ich. Vielleicht als dritter Aspekt einer mystischen Erfahrung, es geht da schon um eine Einheitserfahrung. Die kann sehr unterschiedlich aussehen, aber die alte lutherische Orthodoxie, die sprach immer von unio mystica, also von der Vereinigung mit Gott. Das ist im Grunde genommen das Hochziel der Mystik, eine Einheitserfahrung mit Gott zu ermöglichen.
"Was nicht lebbar ist, das wird sehr schnell blutleer"
Dietrich: Sie sind in einem Punkt sehr vehement, wenn Sie sagen, es gibt keine Mystik ohne Religion oder um es ganz präzise zu machen, es gibt keine Mystik ohne eine ganz bestimmte konkrete Religion. Mystik ist nichts Überreligiöses, was es überall in allen Religionen gleich gibt, sondern Mystik verwirklicht sich im Rahmen einer bestimmten religiösen Praxis. Warum ist Ihnen dieser Punkt so wichtig?
Zimmerling: Weil ich glaube, dass sonst Mystik zu etwas bloß Gedachtem wird, und etwas bloß Gedachtes, was nicht lebbar ist, das wird sehr schnell blutleer. Mein Argument stammt eigentlich aus der Geschichte: Die Aufklärung hat ja versucht, im 18. Jahrhundert solch eine abstrakte Religion zu entwickeln, also eine Vernunftreligion. Gott, Tugend, Unsterblichkeit – das waren sozusagen die drei großen Aspekte dieser Religion. Und de facto hat dieser Versuch dazu geführt, dass Europa – also jetzt speziell die Länder, in denen die Aufklärung stark war – irgendwie religiös abgekühlt ist und dass Menschen immer weniger der Religion eine Zukunftschance eingeräumt haben. Erst durch die darauffolgende Romantik oder, wie man theologisch sagt, Erweckungsbewegung, ist es zu einer Renaissance der Religion gekommen. Gerade die Romantik hat die gelebte Gestalt der Religion, und zwar der unterschiedlichen Religionen, wieder betont und in den Vordergrund gerückt. Daraus folgere ich, genauso wenig wie es also eine abstrakte Religion gibt – also eine Religion über den Religionen –, gibt es eine Mystik über den unterschiedlichen Mystikformen in den Religionen, sondern es gibt genauso nur eine Mystik innerhalb der jeweiligen Religion.
Dietrich: Wenn Sie jetzt wieder hinter dieses aufklärerische Verständnis von Religion zurückmöchten in Bezug auf Mystik, wenden Sie sich damit gegen die Aufklärung? Ist das nicht auch eine Gefahr, die da in der Mystik liegt?
Zimmerling: Ich würde sagen, eher wäre eine Gefahr, wenn man diese gelebte Religiosität, wie sie in mystischen Erfahrungen zum Ausdruck kommt, nicht ernst nimmt. Ich sehe eher in unserer Gesellschaft, oft auch im politischen Handeln, die Unfähigkeit, wahrzunehmen, wie stark gelebte Religiosität Menschen in ihrem Urteil, in ihrer ganzen Lebensform, in ihrer ganzen Existenz beeinflussen kann und außerhalb Europas weithin beeinflusst. Das ist eben auch nicht bloß eine Frage der Modernität eines Landes, sondern es scheint eine Frage der Gemütsbeschaffenheit einer Gesellschaft zu sein. Nun ist es ja gerade so, dass offensichtlich Mystik, nachdem ich also das so stark gemacht habe, dass es sie nur in den jeweiligen Religionen gibt, aber gleichzeitig Angehörige von unterschiedlichen Religionen, die unterschiedliche mystische Erfahrungen gemacht haben, vereinigen kann. Das beobachte ich auch bei Tagungen, wo es zu einem Zusammentreffen von Angehörigen, die mystisch interessiert sind, aus unterschiedlichen Religionen kommt, dass hier auch der interreligiöse Dialog und das Verständnis füreinander – das muss nicht so sein, aber –wachsen kann, weil es da doch dann eine Strukturanalogie gibt und eine ziemlich große gemeinsame Basis.
Dietrich: Nun schreiben Sie über Mystik, die sich in einer bestimmten Religion manifestiert und in Erscheinung tritt – Sie schreiben über evangelische Mystik, und Sie schreiben gleichzeitig, dass das eine sehr problematische Geschichte ist, denn der Protestantismus legt Wert auf das Wort, das am besten von außen kommt, und die Mystik, die zielt auf die Glaubenserfahrung, die von innen kommt, und deswegen gehen Protestantismus, geht der evangelische Glaube und die Mystik gar nicht so gut zusammen eigentlich.
Protestanten haben oft eine mystische Dimension in ihrem Glauben
Zimmerling: Ich habe das Buch auch deswegen geschrieben, um dieses Vorurteil zu überwinden, dass Mystik und Protestantismus sich feindlich gegenüberstehen. Das stimmt für eine ganz kurze Zeit seiner Geschichte, und in anderen Phasen war das ganz anders. Noch in der lutherischen Orthodoxie, also im 16., 17. Jahrhundert dann vor allem, war in der Dogmatik diese unio mystica der Zielpunkt auch der Dogmatik, und eigentlich erst im 19. Jahrhundert und sogar in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – Adolf von Harnack ist ein berühmtes Beispiel dafür in Berlin –, da ist es dann so geworden, dass man Mystik als ein katholisches Phänomen betrachtet hat, weil evangelischer Glaube mehr oder weniger ganz in Ethik, also einem bestimmten Handeln aufging und man Angst hatte, Religiosität an sich zu leben. Meine Überzeugung ist, dass von Luther angefangen, die wichtigen Vertreter auch des Protestantismus fast alle eine mystische Dimension in ihrem Glauben und auch in ihrem Denken hatten.
Dietrich: Mystik klingt eben immer noch so ein bisschen was Dunkles an, vielleicht auch Mittelalter, was Unzeitgemäßes. Wie modern ist Mystik?
Zimmerling: Interessanterweise ist der erste große Mystikschub so am Beginn des 20. Jahrhunderts zu beobachten und gar nicht unbedingt im Rahmen der Theologie, sondern eher im Rahmen von Philosophie, von Literatur, von Kunst, Malerei und auch von Naturwissenschaft. Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass durch die neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse – etwa der Unschärferelation von Planck oder vorher schon Einsteins Relativitätstheorie – dieses alte, im 19. Jahrhundert vorherrschende kausalmechanistische Weltbild aufgebrochen ist und seitdem eine neue Offenheit für die Welt hinter der Welt war, auch bei führenden geistig tätigen Menschen, und von daher gesehen ist im Grunde genommen seitdem diese Tendenz zur Mystik geblieben, die ist nie mehr verschwunden. Gerade Menschen, die geistlich, spirituell interessiert sind, die fühlen sich ja von einem dogmatischen Christentum, nicht immer, aber abgestoßen häufig, und da hat ein mystisch geprägtes Christentum das für sich, dass es hier größere Freiräume gibt. Und was auch noch dazu kommt, es ist automatisch ja ein erfahrungsgeprägtes Christentum, das mit Mystik verbunden ist.
Dietrich: Ist Mystik etwas, das allen Religionen gemeinsam ist? Darüber habe ich mit Peter Zimmerling gesprochen, Professor für Praktische Theologie an der Universität Leipzig. Sein Buch "Evangelische Mystik" ist erschienen bei Vandenhoeck & Ruprecht.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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